Publikationsserver des Leibniz-Zentrums für
Zeithistorische Forschung Potsdam
e.V.
Archiv-Version
Kaleidoskopisches Denken. Überschreibungen und autobiographische Codierungen in Hannah Arendts Hauptwerk
Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 30.05.2011 https://docupedia.de//zg/Arendt,_Elemente_und_Urspr%C3%BCnge_totaler_Herrschaft
DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.602.v1
Hannah Arendts Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” ist ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Buch.[1] Sein Genre ist schwer auszumachen. Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne ist es nicht. Auch handelt es sich nicht um ein systematisches Werk der politischen Theorie oder Philosophie. Ein Hinweis auf die Gattung ergibt sich aus Stil und Sprache: Ihnen ist ein auffällig rhetorischer, ein gleichsam verschärfender Zug eigen. Stil und Sprache legen es nahe, das Werk als ein Buch über historisches Urteilen auszuweisen. Nicht die distanzierte Beschreibung vergangener Geschehnisse ist Arendts Sache, sondern die qualifizierende historische Begründung. Geschichte wird weniger erzählt denn argumentiert. Die Neigung, politisch zu unterscheiden, ethisch zu urteilen und moralisch zu werten, ergab sich für Arendt aus der Beschäftigung mit den zentralen Fragen des 20. Jahrhunderts. Es waren die das Saeculum prägenden Massenverbrechen, die einen solchen Zugang nahelegten.
Die Rezeption der „Elemente und Ursprünge” hat sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt; sie folgte unterschiedlichen intellektuellen Agenden. Anfänglich – es war in der Hochphase des Kalten Krieges – erschien der dritte Teil des Buches als wesentlich, derjenige über totale Herrschaft. Darin hatte Arendt die Gemeinsamkeiten von nationalsozialistischem und sowjetischem Regime herausgestellt und sich dabei auf die Phase der 1930er-Jahre konzentriert. Später, in den 1970er-Jahren, erschloss der zweite Teil des Buches – jener über Imperialismus – dem interessierten Leser erhebliche Deutungspotenziale über das als symptomatisch erkannte Gewaltverhältnis zwischen Metropole und Peripherie. In den 1980er-Jahren schließlich trat der erste Teil des Buches, derjenige über Antisemitismus, ins Zentrum des Interesses. Auffällig an diesem Erkenntnisreigen ist der Umstand, dass die Phasen der Rezeptionsgeschichte des Buches einander in genauer Umkehrung des Aufbaus folgten. Beabsichtigt oder nicht: Im Laufe von Jahren und Jahrzehnten offenbarte er einen kaleidoskopischen Charakter.
Das Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” ist ein gewaltiges Konvolut aus drei Büchern mit weitgehend in sich geschlossenen Themen. Die ersten beiden Teile – „Antisemitismus” und „Imperialismus” – besitzen einen propädeutischen Charakter. Sie bereiten den dritten und letzten Teil über „Totale Herrschaft” vor. „Antisemitismus” und „Imperialismus” als klassische Phänomene des ausgehenden 19. Jahrhunderts haben für das 20. Jahrhundert aus Arendts Sicht eine zwar voraussetzende, nicht aber eine kausale Bedeutung. Nicht von ungefähr hat Arendt ihr Werk mit dem Hinweis kommentierend begleitet, ihr liege die nach Kausalitäten forschende Vorgehensweise der Historiker fern. Bestimmte Ereignisfolgen nehmen für das Gesamtnarrativ eher eine metaphorische Bedeutung an. Sie dienen vornehmlich dem Verstehen, weniger der akkuraten Darstellung.
Exemplarisch sollen im Folgenden – und für die Gesamtstruktur des Werkes durchaus signifikant – zwei eher verborgen gebliebene Elemente des Buchs herausgestellt werden: zum einen die gleichsam literarische Methode der Überschreibung; zum anderen das dem Werk eigene biographische Motiv. Mit dem Terminus der Überschreibung ist die im Text auffällige Vorgehensweise gemeint, emblematische Ereignisse des 19. Jahrhunderts mit solchen des 20. Jahrhunderts zu durchdringen. Dies sollte der argumentierenden Vorgehensweise insofern entgegenkommen, als es Arendt ermöglichte, ereignisgeschichtlich weit auseinanderliegende Zeiten interpretatorisch miteinander zu verknüpfen. So zog sie die Dreyfus-Affäre als Lehrstück für die später praktizierte antijüdische Politik der Nazis und ihrer Vorläufer in Deutschland ebenso heran, wie sie anhand dieses historischen Exempels Phänomene wie die Auflösung der Klassengesellschaft und die Ausbildung von Masse und Mob als sozialen Humus totalitärer Bewegungen aufzeigte. Sich erst Jahrzehnte später durchsetzende Tendenzen wurden an einem symbolisch hoch aufgeladenen Ereignis wie der Dreyfus-Affäre gleichsam vorwegnehmend reflektiert. Weniger die in extenso beschriebenen historischen Vorgänge standen im Zentrum des Interesses als die politischen und moralischen Konsequenzen, die sich aus den französischen Zuständen der Jahr-hundertwende für das Verständnis der Vorgänge der Zwischenkriegszeit, vornehmlich in Deutschland, ergaben.
Überhaupt waren Geschichte und politische Kultur Frankreichs im 19. Jahrhundert für Arendts Deutung der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts zentral. Dies mag ihrer liberalkonservativen Haltung ebenso geschuldet gewesen sein wie ihrer im angelsächsischen Sinne als radikal zu verstehenden, die Ideale der republikanischen Institutionen und ihrer Freiheiten hochhaltenden Überzeugung. Schließlich verband Arendt in ihrem politischen Denken die für rechte wie linke Kritiker des Bourgeoisen so typische Verachtung für die negativ beurteilten Tugenden der Erwerbsgesellschaft mit einer gleichzeitigen emphatischen Verehrung für die Werte von Öffentlichkeit und bürgerlicher Verantwortung. Dieser scheinbare Gegensatz schlug sich mancherorts auch im Sprachduktus und der politischen Nomenklatur nieder. Die Rhetorik mancher Aussagen steht unverwechselbar in der Tradition des Duktus und der Polemik von Marx. Auch die für Arendt so paradigmatischen französischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts beschrieb sie aus einer Perspektive, die eine Parteinahme für den revolutionären Umsturz der bürgerlichen Gesellschaft nahelegte.
Von Marx' Interpretationen beeinflusst war auch Arendts an der Kategorie des Kapitals orientierte Diagnose des Imperialismus. Die auf direkter Anwendung von Gewalt beruhende Akkumulation von Kapital an der kolonialen Peripherie sah sie als eine nicht unerhebliche Voraussetzung für ein sich ausbildendes rassistisches Dominanzbewusstsein in den kontinentalen Metropolen. Das war eine erkenntnisfördernde Neuerung zum Verständnis totaler Herrschaft. Doch diese Erklärung blieb hauptsächlich phänomenologisch. Weniger das empirisch belegte Argument als die an den Schriften Rosa Luxemburgs angelehnte rhetorische Verve zeichnete jene Teile des Werkes aus, die sich der bildkräftigen Sprache der politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts opulent hingaben.
Die den Text durchziehende Annahme eines Niedergangs des Nationalstaates blieb bei Arendt unbestimmt. Nicht die Nationalstaaten generell waren um 1900 in einem Prozess des Niedergangs begriffen – wie Arendt meinte –, sondern die kontinentalen Nationalitätenstaaten vornehmlich vormodernen wie imperialen Charakters. Zwar war Arendts Beobachtung schlagend, mit der überseeischen Expansion im Zeitalter des Imperialismus würden die demokratischen Institutionen, würde besonders die Souveränität der Parlamente unterlaufen und beschädigt, da die Macht der Exekutive gerade dort anwachse, wo sie sich der Kontrolle der Legislative entziehe – nämlich an der kolonialen Peripherie. Dass die dortige Gewaltanwendung auf die Metropolen zurückgewirkt und somit zur Konstitution faschistischer Gewalt beigetragen habe, ist theoretisch einsichtig, empirisch aber nur anhand weniger und zu vernachlässigender Einzelfälle zu beobachten.
Aus heutiger Sicht überzeugender sind jene Argumentationslinien, die sich mit dem Niedergang der imperialen Monarchien und dem Aufkommen der Nationalitätenfragen befassten. Hier nahm Arendt eine auffällig biographische Perspektive ein. Als staatenlose deutsche Jüdin im Frankreich der 1930er-Jahre schärfte sich ihr Blick für Fragen von Minderheit und Minderheitenschutz. Vor allem in der beständigen Produktion immer neuer Minderheiten durch den sich ethnisch homogenisierenden Nationalstaat sah die politische Philosophin ein dramatisches Auseinandertreten von national gestützter Staatsangehörigkeit und universeller Geltung der Menschenrechte angelegt. Die wenigen Seiten über die „Aporien der Menschenrechte”, die Arendt auffälligerweise im Teil über „Impe-rialismus” (und nicht etwa im Teil über „Antisemitismus”) situierte, gehören zum Besten und Wichtigsten des Werks. In Anlehnung an den englischen Konservativen Edmund Burke, der angesichts der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französischen Revolutionäre gespottet hatte, ihm seien die Rechte eines Engländers wohlbekannt, die universellen Menschenrechte jedoch nicht geläufig, verdeutlichte Arendt, dass Universalien ohne partikularen staatlichen Schutz weder zu garantieren noch zu regulieren sind. Ohne dass sie es expliziert hätte, schwang in dieser Dichotomie ihre eigene Erfahrung als staatenlose Jüdin mit.
Die „Aporien der Menschenrechte” sind der theoretische und polemische Kernbestand dieser verdeckt biographischen Schrift. In einer eigentümlichen Weise persönlich gehalten sind die „Elemente und Ursprünge” vor allem insofern, als sich der Text bei genauerem Hinsehen als eine grundlegende Schrift zu den Verwerfungen der jüdischen Existenz in der Moderne herausstellt. Bei dem Buch handelt es sich um eine durch Überlagerungen und Exkurse verborgen gehaltene postassimilatorische Geschichte der Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – mit der Zwischenkriegszeit und der Zeit des Zweiten Weltkrieges als den in das 19. Jahrhundert zurückweisenden Erfahrungskernen. Der Subtext der „Elemente und Ursprünge” ist eine jeder partikularen Enge enthobene Geschichte der Juden mit ihrer negativen Apotheose in Gestalt der nationalsozialistischen Massenvernichtung.
Der letzte Teil des Werks, das Buch über totale Herrschaft, greift ebenfalls ins Universelle aus. Dort werden die Lagerwelten Hitlers und Stalins zu gleichartigen Phänomenen des Totalitären. Dabei ging Arendt in ihrem historischen Urteil von den frühen nationalsozialistischen Konzentrationslagern aus, wie sie vornehmlich für politische Häftlinge vorgesehen waren. Die Analogisierung der Kirow- mit der Röhm-Affäre war ebenfalls eher auf Gleichsetzungen hin justiert als auf eine zweifellos sinnvolle, auch Unterschiede herausarbeitende Methode des Re-gimevergleichs. Damit rückte der signifikante Unterschied im Kernbereich beider Systeme, nämlich der Unterschied zwischen Massentötungen einerseits und Massenvernichtung andererseits, aus dem Blick.
Arendts Hauptwerk ist inzwischen ein Klassiker. Mit ihren weiteren Werken ist sie zur herausragenden Denkerin des Jahrhunderts avanciert. Die gesteigerte Aktualität Arendts ist dem paradoxen Umstand geschuldet, dass sie im Unterschied zu anderen politischen Theoretikern des vergangenen Jahrhunderts kein in sich geschlossenes Denksystem ausgebildet hat. Im Gegenteil: Sie war in ihrem Denken gleichsam bestrebt, aller Systematik entgegenzuwirken. In einem geschlossenen, konsistenten Denksystem sah sie bereits die Gefahren und Gefährdungen des Totalitären angelegt. Die „Elemente und Ursprünge” sind geradezu ein Ex-empel für ein Denken, das alles andere als konsistent ist. Eher entspricht es jenem Bild vom Kaleidoskop, in dem sich alles ständig verschiebt und neu komponiert. So stellt das Konvolut der „Elemente und Ursprünge” eine Ansammlung aphoristischer, polemischer, analytischer, biographischer und reflexiver Textsorten dar, die in sich keineswegs widerspruchsfrei sind. Zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben und mit- und ineinander verschränkt, geben sie einen Blick frei auf eine Inkonsistenz, die sich in der Freiheit des Denkens als einer Voraussetzung der Freiheit des Handelns niederschlägt. Und obwohl Arendt auf der Geltung historischer Urteilskraft bestand und sehr wohl Tatsachen von bloßen Meinungen zu unterscheiden wusste, scheint sie in mancher Hinsicht einen post-modernen Zugang avant la lettre gepflegt zu haben. Auch dies dürfte die Dauer ihrer Wirkung durchaus begünstigen.
Insgesamt ist Hannah Arendts Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” bei allen berechtigten Einwänden methodischer, vor allem aber sachlicher Art eine Schlüsselschrift des 20. Jahrhunderts geblieben. Sie nahm sich darin Themen und Gegenständen in einer Art und Weise an, die in ebendieser Kombination neu, kreativ und in ihrer Plausibilität ungewöhnlich war. Gerade im nach-ideologischen Zeitalter hat sich die Bedeutung dieses Buchs noch einmal erhöht. Als ein Geschichtsbuch im eigentlichen Sinne sollen die „Elemente und Ursprünge” nicht gelesen werden. Eher handelt es sich um einen in Text verwandelten Ausdruck praktisch gewordener historischer Urteilskraft.
Empfohlene Literatur zum Thema
Dan Diner, Kaleidoskopisches Denken. Überschreibungen und autobiographische Codierungen in Hannah Arendts Hauptwerk, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 30.5.2011, URL: http://docupedia.de/zg/Arendt.2C_Elemente_und_Urspr.C3.BCnge_totaler_Herrschaft (Wiederveröffentlichung von: Dan Diner, Kaleidoskopisches Denken. Überschreibungen und autobiographische Codierungen in Hannah Arendts Hauptwerk, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 37-41.)
Versionen: 1.0
Copyright (c) 2023 Clio-online e.V. und Autor, alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk entstand im Rahmen des Clio-online Projekts „Docupedia-Zeitgeschichte“ und darf vervielfältigt und veröffentlicht werden, sofern die Einwilligung der Rechteinhaber vorliegt. Bitte kontaktieren Sie: <redaktion@docupedia.de>
Anmerkungen
- ↑ Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York: Harcourt, Brace & Co. 1951; von ders. übertragene u. neu bearb. Ausg.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1955. Weitere Ausgaben: ungekürzte Tb.-Ausg.: Frankfurt a.M.: Ullstein 1975; München/Zürich: Piper 1986, 11. Aufl. 2006. Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine vom Vandenhoeck & Ruprecht Verlag Göttingen genehmigte Wiederveröffentlichung: Dan Diner, Kaleidoskopisches Denken. Überschreibungen und autobiographische Codierungen in Hannah Arendts Hauptwerk, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 37-41.