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Die Transformation des Ausnahmezustands. Ernst Fraenkels Analyse der NS-Herrschaft und ihre politische Aktualität
Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 01.06.2011 https://docupedia.de//zg/Fraenkel,_Der_Doppelstaat
DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.291.v1
Ernst Fraenkels Analyse des NS-Regimes entstand in unmittelbarer, beteiligter Beobachtung. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe des „Doppelstaats” schrieb Fraenkel 1974, dass sein Buch auf Quellenmaterial beruhe, „das ich im nationalsozialistischen Berlin gesammelt habe, und auf Eindrücken, die sich mir tagtäglich aufgedrängt haben. Es ist aus dem Bedürfnis entstanden, diese Erlebnisse und Erfahrungen theoretisch zu erfassen, um mit ihnen innerlich fertig zu werden”.[1]
Fraenkel, aus jüdischer Familie stammend, hatte nach dem Ersten Weltkrieg bei Hugo Sinzheimer Arbeitsrecht studiert und gehörte zu jenen jungen, sozialdemokratischen Juristen der Weimarer Republik wie Franz Neumann, Otto Kirchheimer oder Carlo Schmid, die praktisch als Anwälte für SPD und Gewerkschaften und theoretisch als Rechtswissenschaftler die Kluft zwischen politischer Gleichheit und sozialer Ungleichheit zu überwinden suchten. In der deutschen staatstheoretischen Tradition war das Recht eng mit Staat und Gesetz verbunden, in der Hegel'schen Rechtsphilosophie gar mit ihnen zur Kongruenz gebracht. Gegen diese Gleichsetzung von Staat und Gesetz stand das moderne Arbeitsrecht, erkannte es doch nicht nur an, dass gesellschaftliche Verbände wie Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen existierten, sondern auch, dass diese Kollektivorganisationen unabhängig vom Staat miteinander Tarifverträge abschlossen und Recht setzten, ohne dass dazu ein Gesetz verabschiedet worden wäre.
Fraenkel dachte diese neue, gesellschaftliche Dimension konsequent weiter und veröffentlichte in den 1920er-Jahren mehrere Aufsätze, in denen er eine solche „kollektive Demokratie” theoretisch entwickelte. Was Fraenkel anstrebte – und später in seiner Pluralismus-Theorie ausarbeitete –, war die Ergänzung der in erster Linie staatlich vermittelten Demokratie durch eine gesellschaftliche.[2] Es liegt nahe, dass es seine Überlegungen zur „kollektiven Demokratie” waren, die ihn zum Konzept des „Doppelstaats” brachten. Indem er das Politische nicht allein staatlich dachte und – in der positiven Variante – neben der staatlich vermittelten Demokratie eine gesellschaftlich fundierte entwarf, war Fraenkel – in der Negativanalyse des Nationalsozialismus – imstande, den NS-Staat nicht allein als Führer-Staat, als allumfassende Diktatur zu begreifen, sondern das Politische wiederum unabhängig von der staatlichen Ordnung zu untersuchen.
Als die SA am 2. Mai 1933 die Gewerkschaftshäuser stürmte, mussten auch Ernst Fraenkel und Franz Neumann ihr Rechtsanwaltsbüro im Gebäude des Deutschen Metallarbeiterverbandes in Berlin räumen. Neumann verließ wenige Tage später Deutschland und emigrierte nach England. Fraenkel, der als ehemaliger Frontsoldat von den antisemitischen Berufsverbotsgesetzen des Aprils 1933 vorerst ausgenommen war, blieb in Berlin und versuchte, den vom NS-Regime Verfolgten als Anwalt zu helfen, schrieb unter Pseudonym Artikel für die in Paris erscheinende Zeitschrift der Widerstandsorganisation „Internationaler Sozialistischer Kampfbund” und sammelte Material für seine Analyse des Nationalsozialismus aus Zeitungen, Zeitschriften, Gerichtsentscheidungen. Von Freunden vor der drohenden Verhaftung gewarnt, emigrierten Fraenkel und seine Frau schließlich im September 1938 nach England und wenig später in die USA. Sein Buchmanuskript, den „Urdoppelstaat”, hatte Fraenkel kurz zuvor über einen Angehörigen der französischen Botschaft aus Deutschland herausbringen und nach Amerika mitnehmen können. Dort veröffentlichte er 1941 „The Dual State”, eine der ersten und scharfsinnigsten Analysen des Nationalsozialismus.[3]
Wie Carl Schmitt dachte Fraenkel das NS-Regime vom Ausnahmezustand her. „Die Verfassung des dritten Reiches ist der Belagerungszustand. Die Verfassungsurkunde des dritten Reiches ist die Notverordnung vom 28.2.1933.” Mit diesen Sätzen begann Fraenkel seine Analyse des Doppelstaats.[4] Aber während Schmitt nur absolute Zustände des Entweder-Oder kannte und 1921 eine bloß „kommissarische Diktatur”, die die bestehende Verfassung für eine begrenzte Zeit suspendiere, von der „souveränen Diktatur” unterschied, die eine „wahre Verfassung” herbeizuführen suche,[5] um wenig später jenen berühmten programmatischen Satz zu formulieren: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet”,[6] dynamisierte Fraenkel den Gedanken des Ausnahmezustands. Sein „Doppelstaat” war die Analyse eines politischen und rechtlichen Transformationsprozesses.
Mit der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar ausgestattet, schufen die Nationalsozialisten einen ständig sich ausweitenden Sektor außerhalb der allgemeinen Rechtsordnung, in dem nicht mehr nach den Maßstäben des Rechts, sondern ausschließlich politisch ‚nach Lage der Dinge' entschieden wurde. „Im politischen Sektor des dritten Reiches gibt es kein objektives und daher auch kein subjektives Recht, keinen Rechtsschutz und keine mit Rechtsgarantien versehenen Kompetenzen. In diesem politischen Sektor fehlen die Normen und herrschen die Maßnahmen. Wir sprechen daher insoweit von einem ‚Maßnahmenstaat'.”[7] Der „Normenstaat”, also jener Sektor, in dem nach wie vor Gesetze, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakte Gültigkeit besaßen, wurde von den Instanzen des Maßnahmenstaates, allen voran der Gestapo, ständig zurückgedrängt. Gegen alle theoretischen Konzepte des Totalitarismus insistierte Fraenkel jedoch darauf, dass zum Beispiel im Bereich der Wirtschaft Rechtsnormen wie das Vertragsrecht und der Schutz des Eigentums weitergegolten hätten. Juden indes waren gänzlich der Willkür des Maßnahmenstaates ausgeliefert. Ihnen gegenüber konnte jedes Recht gebrochen, jedes Gesetz verletzt werden. Politisch war das, was die politischen Instanzen selbst für politisch erklärten.
Ausdrücklich hob Fraenkel hervor, dass er mit dem Begriff des „Doppelstaats” nicht das Nebeneinander von Staats- und Parteibürokratie meinte, sondern den gesamten öffentlichen Apparat in den Blick nehmen wollte. Die Institutionen des NS-Staates konnten für Fraenkel sowohl zum Normen- als auch zum Maßnahmenstaat gehören, was zugleich als Kritik an jedweder beschönigenden Teilung in eine reine, unschuldig gebliebene Bürokratie auf der einen und eine Staat und Recht zerstörende Nazibewegung auf der anderen Seite zu lesen ist. Fraenkels analytisches Konzept erlaubt es, die Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht als bloße Usurpation der Staatsgewalt durch die Partei zu sehen, sondern die Transformation der politischen Ordnung durch die Nationalsozialisten differenzierter in den Blick zu nehmen.
Man könnte den „Doppelstaat” somit auch als eine große Auseinandersetzung mit Carl Schmitt lesen, der in Fraenkels Studie weniger als der ‚Kronjurist des Dritten Reiches' erscheint, der die Maßnahmen des Regimes in opportunistischer Weise nachträglich zu legitimieren suchte, sondern eher als der rechtstheoretische Vordenker des NS-Regimes.[8] In seiner 1934 erschienenen Schrift „Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens” hatte Schmitt neben dem Normativismus und Dezisionismus das „konkrete Ordnungsdenken” ausgemacht, das sich auf konkrete Gemeinschaften beziehe, für die nicht die Ordnung eine Summe von Rechtsregeln sei, sondern die Regeln nur Mittel der Ordnung seien.[9] In Verbindung mit dem Konzept einer „Volksgemeinschaft” stellte diese Auffassung den Kern einer nationalsozialistischen Rechtstheorie dar. „Der Vorstellung”, so Fraenkel, „daß die Gemeinschaft alleinige Quelle des Rechts sei, entspricht die Lehre, daß es außerhalb der Gemeinschaft kein Recht geben könne. [...] Wer außerhalb der Gemeinschaft steht, ist der wirkliche oder potentielle Feind. Innerhalb der Gemeinschaft gelten Friede, Ordnung und Recht. Außerhalb der Gemeinschaft gelten Macht, Kampf und Vernichtung.”[10] Die „Volksgemeinschaft” stand daher nicht im Gegensatz zum Regime des Maßnahmenstaates; sie setzte ihn vielmehr voraus.
Nach dem Krieg war Fraenkel bis 1950 als Legal Adviser der US-Behörden in Südkorea tätig und an der Ausarbeitung der südkoreanischen Verfassung beteiligt. Anschließend wurde er Berater des amerikanischen Hohen Kommissars in Deutschland und nahm 1953 einen Ruf als Professor für Vergleichende Lehre der politischen Herrschaftssysteme an der Freien Universität Berlin an. Seine theoretischen Überlegungen für ein modernes, pluralistisches Demokratiekonzept prägten die Politikwissenschaft der folgenden Jahrzehnte.[11] Mit seinen Analysen zum Nationalsozialismus befasste sich Frankel kaum noch. Erst als 1969 eine Neuauflage von „The Dual State” in den USA erschien, gab er dem Drängen vieler seiner Freunde nach und stimmte einer deutschen Ausgabe zu, die aus dem Amerikanischen rückübersetzt werden musste. 1974, ein Jahr vor Fraenkels Tod und über 30 Jahre nach „The Dual State”, erschien „Der Doppelstaat” erstmals auf Deutsch und fand nun Eingang in die historische Fachliteratur zum Nationalsozialismus.
Es kennzeichnet die theoretische Anschlussfähigkeit des „Doppelstaats”-Konzepts, dass jüngst auch Forscher auf Fraenkel Bezug nehmen, die sich mit der Geschichte der Sowjetunion beschäftigen.[12] Stefan Plaggenborg zum Beispiel hat Fraenkels Konzept in innovativer Weise umgedreht und nach den Bedingungen gefragt, wie sich aus der Anomie des Bürgerkriegs und dem stalinistischen Maßnahmenstaat Ende der 1950er-Jahre ein sowjetischer Normenstaat ent-wickeln konnte.[13]
Und selbst für die Gegenwart erscheint Fraenkels Doppelstaatstheorem überraschend aktuell. Denn was ist Guantánamo anderes als der Versuch, außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung einen rechtsfreien Sektor zu schaffen, in dem „allein die Maßnahmen herrschen”? Vor der Gefahr des „Doppelstaats” sind offenbar auch demokratische Rechtsstaaten wie die USA in Momenten existentiell erlebter Bedrohung nicht gefeit, in denen das Argument der politischen Handlungsfreiheit augenscheinlich eine stärkere Überzeugungskraft besitzt als die Unverbrüchlichkeit des Rechts. Im Gegensatz zum NS-Regime ist der demokratisch legitimierte Normenstaat jedoch in der Lage, die Sektoren des Maßnahmenstaats nach und nach wieder der Herrschaft des Rechts zu unterwerfen. Wo Fraenkel in seiner Analyse des NS-Regimes nur eine unilineare Entwicklung vom Normen- zum Maßnahmenstaat erkennen konnte, eröffnet der analytische Umgang mit dem „Doppelstaat” heute vielfältigere, rück- wie gegenläufige Bewegungsrichtungen – ein Beweis, wie anregend und erhellend Fraenkels Buch nach wie vor ist.
Empfohlene Literatur zum Thema
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Anmerkungen
- ↑ Ernst Fraenkel, The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York/London/Toronto: Oxford University Press 1941. Weitere Ausgaben: dt. (Rück-)Übers.: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt a.M./Köln: Europäische Verlagsanstalt 1974; 2., durchgesehene Aufl. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2001; Tb.-Ausg.: Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch-Verlag 1975/84; Hier zitiert nach ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Nationalsozialismus und Widerstand, hrsg. von Alexander von Brünneck, Baden-Baden 1999, S. 33-266, hier S. 41. Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine vom Vandenhoeck & Ruprecht Verlag Göttingen genehmigte Wiederveröffentlichung: Michael Wildt, Die Transformation des Ausnahmezustands. Ernst Fraenkels Analyse der NS-Herrschaft und ihre politische Aktualität , in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 19-23.
- ↑ Zu Fraenkel siehe einführend: Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler, Ernst Fraenkel (1898–1975), in: Wilhelm Bleek/Hans J. Litzmann (Hrsg.), Klassiker der Politikwissenschaft. Von Aristoteles bis David Easton, München 2005, S. 151-164; Hubertus Buchstein, Ernst Fraenkel als Klassiker?, in: Leviathan 26 (1998), S. 458-481. Vgl. vertiefend Rainer Kühn, Die Schriften Ernst Fraenkels zur Weimarer Republik. Das Arbeitsrecht als Knoten und Katalysator, in: Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler (Hrsg.), Vom Sozialismus zum Pluralismus. Beiträge zu Werk und Leben Ernst Fraenkels, Baden-Baden 2000, S. 9-28; William E. Scheuerman, Social Democracy and the Rule of Law: The Legacy of Ernst Fraenkel, in: Peter C. Caldwell/William E. Scheuerman (Hrsg.), From Liberal Democracy to Fa-scism, Boston 2000, S. 74-105.
- ↑ Zur Publikationsgeschichte vgl. Alexander von Brünneck, Ernst Fraenkels Urdoppelstaat von 1938 und der Doppelstaat von 1941/1974, in: Buchstein/Göhler, Vom Sozialismus zum Pluralismus, S. 29-42. Siehe auch Michael Wildt, Die politische Ordnung der Volksgemeinschaft. Ernst Fraenkels „Doppelstaat“ neu betrachtet, in: Mittelweg 36 12 (2003) H. 2, S. 45-61.
- ↑ Ernst Fraenkel, Der Urdoppelstaat [1938], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 267-473, hier S. 273; ganz ähnlich auch in den Ausgaben von 1941 und 1974.
- ↑ Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf [1921], 6. Aufl. Berlin 1994, S. 134.
- ↑ Ders., Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität [1922], 7. Aufl. Berlin 1996, S. 13.
- ↑ Fraenkel, Urdoppelstaat, S. 273; ähnlich in der Fassung von 1974. In der amerikanischen Ausgabe ist „Maßnahmenstaat“ mit „Prerogative State“ wiedergegeben.
- ↑ Vgl. dazu Michael Wildt, Ernst Fraenkel und Carl Schmitt: Eine ungleiche Beziehung, in: Daniela Münkel/Jutta Schwarzkopf (Hrsg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Adelheid von Saldern, Frankfurt a.M. 2004, S. 35-48.
- ↑ Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934, S. 13.
- ↑ Fraenkel, Der Doppelstaat, S. 193.
- ↑ Vgl. Hubertus Buchstein, Auf der gemeinsamen Suche nach einer „modernen Demokratietheorie“: Otto Suhr, Franz L. Neumann und Ernst Fraenkel, in: Gerhard Göhler/Bodo Zeuner (Hrsg.), Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991, S. 171-194.
- ↑ Siehe etwa Jürgen Zarusky, Die stalinistische und die nationalsozialistische „Justiz“. Eine Problemskizze unter diktaturvergleichender Perspektive, in: Leonid Luks (Hrsg.), Deutschland und Rußland im 19. und 20. Jahrhundert. Zwei Sonderwege im Vergleich, Köln 2001, S. 163-191.
- ↑ Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt a.M. 2006.