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Klaus Große Kracht

„An das gute Gewissen der Deutschen ist eine Mine gelegt“. Fritz Fischer und die Kontinuitäten deutscher Geschichte

Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 30.05.2011
https://docupedia.de//zg/Fischer,_Griff_nach_der_Weltmacht

DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.295.v1

Artikelbild: „An das gute Gewissen der Deutschen ist eine Mine gelegt“. Fritz Fischer und die Kontinuitäten deutscher Geschichte

Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf: Droste 1961.

Der Beitrag von Klaus Große Kracht ist eine Wiederveröffentlichung des im Sammelband „50 Klassiker der Zeitgeschichte“ (herausgegeben von Jürgen Danyel, Jan-Holger Kirsch und Martin Sabrow) erschienenen Artikels. Fritz Fischers Werk „Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18“, das 1961 erschienen ist und die Kriegszielprogramme der zivilen und militärischen Reichsleitung sowie einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen des deutschen Kaiserreichs während des Ersten Weltkriegs untersucht, wird näher betrachtet. Dabei geht es weniger um die historischen Inhalte des Buches, sondern vor allem Fischers Thesen, die die sogenannte „Fischer-Kontroverse“ und damit eine der bedeutendsten Debatten der Bundesrepublik auslösten.

„An das gute Gewissen der Deutschen ist eine Mine gelegt“. Fritz Fischer und die Kontinuitäten deutscher Geschichte

von Klaus Große Kracht

Nimmt man Fritz Fischers Buch heute wieder zur Hand, so versteht man kaum die Aufregung, die es bei seinem Erscheinen ausgelöst hat.[1] Minutiös und in gedrängter Form untersuchte der Hamburger Neuzeithistoriker auf fast 900 Seiten ebenso erschöpfend wie ermüdend die Kriegszielprogramme der zivilen und militärischen Reichsleitung sowie einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen des deutschen Kaiserreichs während des Ersten Weltkriegs. Dass sein Werk Anlass zu einer der bedeutendsten historischen Debatten der Bundesrepublik – der so genannten „Fischer-Kontroverse”[2] – geben würde, hätte sich der Autor vermutlich selbst nicht träumen lassen. Die von Fischer zutage geförderten Akten und Denkschriften sollten vielmehr belegen, was er bereits zwei Jahre zuvor in einem Aufsatz behauptet hatte: Expansive, um nicht zu sagen annexionistische Kriegsziele wurden zwischen 1914 und 1918 „nicht nur von den Gruppen der Alldeutschen und der dritten OHL [Obersten Heeresleitung] unter Ludendorff propagiert, sondern von einer breiten Front vertreten, die von dem alldeutschen Flügel der Konservativen über National-Liberale, Zentrum und Freisinn bis zu dem rechten Flügel der SPD reichte”.[3]

Für diese Behauptung konnte Fischer in seinem Buch von 1961 nicht nur auf entsprechende Äußerungen national-liberaler Persönlichkeiten sowie katholischer und sozialdemokratischer Politiker während der Kriegsjahre verweisen, sondern auch auf amtliche Dokumente der Reichsleitung, die zeigten, dass diese keineswegs einen reinen Defensivkrieg geführt hatte. Für Aufsehen sorgte vor allem das von Fischer im Potsdamer Zentralarchiv der DDR aufgefundene und nun erstmals publizierte „Septemberprogramm” des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg aus dem Jahr 1914, das als deutsche Kriegsziele Annexionen in Frankreich und den Beneluxstaaten sowie koloniale Erwerbungen in Zentralafrika vorsah. Pläne zur Abtrennung des polnischen Grenzstreifens und zur inneren Destabilisierung des Zarenreichs kamen hinzu. Als Nachkriegsordnung schwebte dem Reichskanzler, der bis zu Fischers Arbeiten eher als ein auf Ausgleich bedachter, abwägender Staatsmann gegolten hatte, nach Maßgabe dieses Dokuments kein Gleichgewicht der Mächte vor, sondern die Schaffung eines von Deutschland beherrschten Mitteleuropas, das sich als Zollverband unter deutscher Führung von Frankreich bis Polen erstrecken sollte (S. 107ff.).

Fischers Thesen hatten bereits bei ihrer Erstveröffentlichung in der „Historischen Zeitschrift” Kritik von fachwissenschaftlicher Seite hervorgerufen;[4] zur großen öffentlichen Diskussion kam es aber erst, als einige große Tages- und Wochenzeitungen Rezensionen über „Griff nach der Weltmacht” brachten. So prophezeite „Die Welt” bereits im November 1961 eine neue Diskussion über die deutsche Politik während des Ersten Weltkriegs, schien diese doch weit über das Jahr 1918 hinauszuweisen: „Der Gedanke, zur Weltmacht berufen zu sein […], schwelte weiter in der republikanischen Zeit. Die völkische Rechte suchte unter veränderten Bedingungen den Ansatz wiederzufinden.”[5]

In der Tat hatte Fischer in der Einleitung zu seinem Buch erklärt, auch einen „Beitrag zu dem Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg” leisten zu wollen (S. 12). Allerdings hatte er diesen Aspekt im Hauptteil des Buchs nicht weiter verfolgt. In der öffentlichen Debatte wurde die Frage der Kontinuität vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, vom Kaiserreich zum „Dritten Reich” jedoch zum zentralen Streitgegenstand: „Unheimlich und unabweisbar”, so schrieb beispielsweise die „Süddeutsche Zeitung” über das Buch, „erhebt sich im Hintergrund die große Frage nach der Kontinuität der deutschen Geschichte von 1890 bis 1945. Die Karten, die für den Osten und für den Westen die Kriegsziele 1914/18 anschaulich machen, ähneln erschreckend den Ausarbeitungen, die wir aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 kennen.”[6]

Eine weitere Zuspitzung erfuhr Fischers Arbeit schließlich in der „Zeit”, die kurzerhand berichtete, Fischer habe die These von der „Alleinschuld” Deutschlands am Ersten Weltkrieg erneuert[7] – eine Behauptung, die Fischer, wie er in einem Leserbrief richtigstellte, keineswegs vertreten hatte.[8] Was er in seinem Buch gleichwohl dargelegt hatte, war die bewusste Inkaufnahme einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland und Frankreich durch die deutsche Reichsleitung im Juli 1914, weshalb Deutschland, so Fischer, „einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges” trage (S. 97). Doch schon mit dieser vorsichtigen Äußerung hatte der Hamburger Historiker nach Meinung des „Spiegels” das historische Selbstverständnis der Deutschen empfindlich gestört: „An das gute Gewissen der Deutschen ist eine Mine gelegt: Ein vermeintlich bewältigtes und integres Kapitel deutscher Vergangenheit, der Erste Weltkrieg, dürfte so unbewältigt sein wie die Hitlerzeit.”[9]

Die wissenschaftliche Kritik ließ zunächst auf sich warten. Im Mai 1962 blies schließlich der Freiburger Historiker Gerhard Ritter mit schrillen Tönen zum öffentlichen Gegenangriff, da „die deutsche Tagespresse”, wie er in einem in mehreren Regionalzeitungen veröffentlichten Artikel schrieb, dem Werk Fischers „einigermaßen hilflos” und damit „mehr oder weniger zustimmend” gegenübergestanden habe. Er selbst könne jedoch nur „mit Schrecken auf die Verwirrung unseres deutschen Geschichtsbewußtseins blicken, die das Fischersche Buch anrichten” werde.[10] In einem wenig später veröffentlichten Aufsatz sprach Ritter gar von einer „Selbstverdunkelung deutschen Geschichtsbewußtseins”, die sich nicht weniger „verhängnisvoll” auswirken werde als der „Überpatriotismus von ehedem”.[11]

Mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber Fischer stand Ritter in der Fachöffentlichkeit keineswegs allein: „Griff nach der Weltmacht” stieß bei nahezu allen westdeutschen Neuzeithistorikern auf Ablehnung, wenngleich nicht alle mit der gleichen polemischen Vehemenz reagierten: Egmont Zechlin, Karl Dietrich Erdmann, Hans Herzfeld und andere setzten sich mit dem Werk intensiv auseinander und schrieben kritische Entgegnungen, die Fischer wiederum Anlass gaben, seine eigene Position nun ebenfalls mit zunehmender Scharfzüngigkeit zu verteidigen und weiter zuzuspitzen, um schließlich 1965 doch davon zu sprechen, dass „im Juli 1914 ein Kriegswille einzig und allein auf deutscher Seite bestand”.11

Die Vehemenz der Debatte um Fischers Buch war keineswegs nur der sachlichen Problematik geschuldet – vielmehr überkreuzten sich in ihr generationelle Erfahrungen und allgemeine Aufbrüche innerhalb der westdeutschen Geschichtskultur der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre. Fischer selbst hatte den Ersten Weltkrieg nicht mehr aktiv an der Front erlebt, während seine stärksten Widersacher durch die Kriegserfahrung zutiefst geprägt waren: Egmont Zechlin hatte sich im Sommer 1914 freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, ebenso Hans Herzfeld; Gerhard Ritter war 1915 eingezogen worden.[12] Fischer, so musste es scheinen, hatte es an kollegialem Takt fehlen lassen, als er die Ideale, für die seine älteren Kollegen ihr Leben an der Front riskiert hatten, auf ein kaltblütiges Hasardspiel im Ringen um eine übersteigerte Weltmachtgeltung reduzierte.

Auch der Zweite Weltkrieg bzw. die Zeit des Nationalsozialismus bildete eine wichtige biographische Folie der Debatte, die gleichwohl latent gehalten wurde, da weder Fischer noch seine Kontrahenten ein Interesse daran haben konnten, die Erfahrungen und Kompromittierungen aus dieser Zeit in die Öffentlichkeit zu tragen. Ritter kolportierte in privaten Briefen zwar durchaus sein Wissen um die NS-Belastungen Fischers,[13] doch in die Öffentlichkeit brachte er dies nicht, denn neben Fischer waren auch Egmont Zechlin, Karl Dietrich Erdmann und andere dem NS-Regime in Teilen entgegengekommen. Gleichwohl lässt sich die Vehemenz der Fischer-Debatte nicht ohne die neu aufgebrochene Präsenz des Nationalsozialismus in der Geschichtskultur der Bundesrepublik seit Ende der 1950er-Jahre verstehen, als mit dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess (1957/58), dem Eichmann-Prozess in Israel (1961) und den Vorbereitungen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965) die „Vergangenheitsbewältigung” wieder auf die Agenda gesetzt wurde.

Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Thesen Fischers über die Kriegszielpolitik des deutschen Kaiserreichs Anfang der 1960er-Jahre eine solche Wirkung entfalten konnten: Die Rückkehr der NS-Zeit in die öffentliche Erinnerung bereitete eine Rezeptionshaltung vor, die es ermöglichte, die annexionistischen Kriegsziele der Jahre 1914 bis 1918 kurzerhand mit den Großraum-Planungen Hitlers gleichzusetzen. Ein erheblicher Teil der öffentlichen Erregung über Fischers Thesen verdankte sich daher vermutlich weniger dem Interesse am Ersten Weltkrieg als vielmehr dem ungeklärten Umgang mit der NS-Zeit.

Heute spielt die Frage nach der „Schuld” am Ersten Weltkrieg kaum noch eine Rolle innerhalb der Forschung, die sich von der engen politikgeschichtlichen Perspektive gelöst und sich stärker sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen zugewandt hat. Dass die deutsche Reichsleitung ihr außenpolitisches Kalkül in der Juli-Krise 1914 überdehnt und leichtfertig einen europäischen Krieg provoziert hat, gilt weithin als unbestritten. Insofern haben sich die Thesen aus „Griff nach der Weltmacht” überwiegend durchgesetzt, auch wenn sich heute kaum noch jemand uneingeschränkt auf Fischers Arbeiten bezieht, die in ihrer positivistischen Detailverliebtheit, ihrer mangelnden begrifflich-theoretischen Durchdringung und ihrem gesinnungsethischen Gestus letztlich aus einer untergegangenen Zeit deutscher Historiografiegeschichte zu stammen scheinen. Dass diese Zeit vergangen ist, daran haben Fischers Schriften und die von ihnen bewirkten Auseinandersetzungen jedoch keinen geringen Anteil, denn die Frage der „Kontinuität” und des „deutschen Sonderwegs” erhielt durch sie eine Schubkraft, die weit über Fischers Werk hinauswies.

Empfohlene Literatur zum Thema

Zitation
Klaus Große Kracht, „An das gute Gewissen der Deutschen ist eine Mine gelegt“. Fritz Fischer und die Kontinuitäten deutscher Geschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 30.5.2011, URL: http://docupedia.de/zg/Fischer.2C_Griff_nach_der_Weltmacht (Wiederveröffentlichung von: Klaus Große Kracht, „An das gute Gewissen der Deutschen ist eine Mine gelegt“. Fritz Fischer und die Kontinuitäten deutscher Geschichte in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 66-70.)

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Anmerkungen

    1. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf: Droste 1961. Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine vom Vandenhoeck & Ruprecht Verlag Göttingen genehmigte Wiederveröffentlichung: Klaus Große Kracht, „An das gute Gewissen der Deutschen ist eine Mine gelegt“. Fritz Fischer und die Kontinuitäten deutscher Geschichte in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 66-70.
    2. Vgl. Konrad H. Jarausch, Der nationale Tabubruch. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der Fischer-Kontroverse, in: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 20-40; Imanuel Geiss, Zur Fischer-Kontroverse – 40 Jahre danach, in: ebd., S. 41-57; Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, S. 47-67.
    3. Fritz Fischer, Deutsche Kriegsziele. Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914–1918, in: Ernst W. Graf Lynar (Hrsg.), Deutsche Kriegsziele 1914–1918. Eine Diskussion, Frankfurt a.M. 1964, S. 18-83, hier S. 23 (zuerst in: Historische Zeitschrift 188 [1959]).
    4. Hans Herzfeld, Zur Politik im Ersten Weltkriege. Kontinuität oder permanente Krise?, in: Lynar, Kriegsziele (Anm. 2), S. 84-101 (zuerst in: Historische Zeitschrift 191 [1960]).
    5. Bernd Nellessen, Deutschland auf dem Weg zum „Platz an der Sonne“, in: Die Welt, 8.11.1961.
    6. Bernhard Knauss, Deutschlands imperialistische Ziele im Ersten Weltkrieg, in: Süddeutsche Zeitung, 28.11.1961.
    7. Paul Sethe, Als Deutschland nach der Weltmacht griff, in: Die Zeit, 17.11.1961.
    8. Fritz Fischer, Die Schuld am Ersten Weltkrieg, in: ebd., 24.11.1961.
    9. Wilhelm der Eroberer, in: Der Spiegel, 29.11.1961.
    10. Gerhard Ritter, Griff Deutschland nach der Weltmacht?, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 19./20.5.1962; weiterer Abdruck: Griff zur Weltmacht?, in: Lübecker Nachrichten, 20.5.1962.
    11. Ders., Eine neue Kriegsschuldthese? Zu Fritz Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht“, in: Lynar, Kriegsziele (Anm. 2), S. 121-144, hier S. 144 (zuerst in: Historische Zeitschrift 194 [1962]).
    12. Fritz Fischer, Vom Zaun gebrochen – nicht hineingeschlittert. Deutschlands Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: Die Zeit, 3.9.1965.
    13. Vgl. Christoph Cornelißen, Die Frontgeneration deutscher Historiker und der Erste Weltkrieg, in: Jost Dülffer/Gerd Krumeich (Hrsg.), Der verlorene Frieden: Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002, S. 311-337.