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Krijn Thijs

Niederlande – Schwarz, Weiß, Grau. Zeithistorische Debatten seit 2000

Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 03.06.2011
https://docupedia.de//zg/Niederlande_-_Schwarz_Weiss_Grau

DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.290.v1

Artikelbild: Niederlande - Schwarz, Weiß, Grau. Zeithistorische Debatten seit 2000

Buchumschlag von: Chris van der Heijden, Grijs Verleden. Nederland en de Tweede Oorlog, Taschenbuchausgabe, Amsterdam: UitgeverijContact 2008. Zuerst erschienen 2001.

In der niederländischen Geschichtskultur spielt die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg nach wie vor die zentrale Rolle. Das Werk „Grijs Verleden. Nederland en de Tweede Wereldoorlog” des umstrittenen Publizisten Chris van der Heijden löste 2001 eine vehemente öffentliche Debatte aus, da der Autor die vermeintlich „schwarz-weiße” offizielle Erinnerungskultur der Niederlande angriff und durch das Bild einer „grauen” oder auch „blassen” Vergangenheit zu ersetzen suchte. Van der Heijdens „graue Revision“ betraf dabei nicht nur die manichäischen Erzählmuster der Nachkriegsgesellschaft über Kollaboration und Widerstand, sondern auch die Nivellierung der Unterschiede zwischen Tätern und Opfern. Der Historiker Krijn Thijs ordnet diese Debatte in die veränderte politische Kultur der Niederlande ein, in der auch die Rolle von Zeithistorikern in einer sinnsuchenden Gesellschaft verstärkt diskutiert wird.
Niederlande - Schwarz, Weiß, Grau. Zeithistorische Debatten seit 2000

von Krijn Thijs

Wie viele andere europäische Länder auch erleben die Niederlande seit einigen Jahren einen Geschichtsboom.[1] Auf dem Büchermarkt sind historische Themen unvermindert populär, und verschiedene größere Fernsehproduktionen bedienten in den letzten Jahren eine entsprechende Nachfrage, vielleicht am auffälligsten die prime-time-Serien „In Europa” (35-teilig, 2007-2008, mit Geert Mak), „Het Verleden van Nederland” (8-teilig, 2008) und, zur Geschichte der Besatzungszeit, „De Oorlog” (9-teilig, 2009). Die Aufmerksamkeit für die nationale Vergangenheit wird auch politisch gefördert. Die jüngsten Regierungen in Den Haag versuchten, die von Globalisierung und Orientierungskrisen vermeintlich bedrohte niederländische Identität durch eine Förderung des Geschichtsbewusstseins zu stärken. So wurde ein offizieller „Kanon” der niederländischen Geschichte aufgestellt und den Schulen als verbindlich vorgelegt.[2] Darüber hinaus beschloss das Parlament die Gründung eines Nationalen Historischen Museums, um breitere Schichten der Bevölkerung mit der niederländischen Vergangenheit vertraut zu machen.[3] Und zwischen 2007 und 2010 steuerte die Regierung über zwanzig Millionen Euro bei für das nationale Programm „Erfgoed van de Oorlog” (Erbe des Zweiten Weltkrieges), das in einer großen Kraftanstrengung umfangreiches Quellenmaterial zur Besatzungszeit neu konserviert, digitalisiert und in vielen Fällen online zugänglich gemacht hat.[4]

In der anhaltenden Geschichtswelle spielt der Zweite Weltkrieg („de Tweede Wereldoorlog”) – oder schlicht „der Krieg” („de oorlog”) – eine prominente Rolle. Die Besatzungszeit 1940-1945 bildet nach wie vor das Rückgrat der niederländischen Erinnerungskultur.[5] Sie dient der unsicheren Gegenwart als Orientierung und Referenz, auch in jüngeren politischen Debatten. In Kontroversen über die multikulturelle Gesellschaft und ihr vermeintliches Scheitern, über die Gleichberechtigung verschiedener Religionen im öffentlichen Raum, über den Erfolg des Rechtspopulismus und seiner umstrittenen „Freiheitsverteidiger” – bei allen diesen Themen dient die Besatzungszeit, wenn auch häufiger latent als explizit, als moralischer Anker, als Vergleichsmaßstab und letztgültiges Argument.[6] Die Referenz Besatzungszeit ist in paradoxer Weise in der Lage, sowohl mythisches Pathos wie auch anklagende Skepsis hervorzubringen – das erste in ihrer nach wie vor aktivierbaren moralischen Begründung von Gut und Böse, das zweite im Wissen um das nationale Versagen, als es darauf ankam. Damals waren über 104.000 der 140.000 niederländischen Juden deportiert und ermordet worden, die Sterberate war mit über 75 Prozent deutlich höher als in anderen westeuropäischen Ländern.[7]

Zugleich ist die Rahmung und Deutung der Besatzungszeit seit den 1990er-Jahren im Fluss. Das Ende des Kalten Krieges, die Öffnung Ost- und Mitteleuropas, der Völkermord auf dem Balkan, der langsam voranschreitende Abschied der Kriegsgeneration – diese Ereignisse haben in den Niederlanden wie in vielen anderen europäischen Ländern zu Umdeutungen und teilweise heftigen Geschichtskontroversen geführt. Seit 2001 entzündet sich die öffentliche Diskussion an dem zentralen Begriff von „Grijs Verleden” – „grauer” oder „blasser” Vergangenheit. Der Begriff war gegen die bis dahin vermeintlich „schwarz-weiße” offizielle Erinnerungskultur der Niederlande gemünzt. Und er konfrontierte die akademische Zeitgeschichtsschreibung kraftvoll mit Fragen nach ihrem politisch-moralischen Selbstverständnis. Im Folgenden werde ich Revision und Kritik knapp zusammenfassen und dabei gelegentlich den vergleichenden Blick auf deutsche Geschichtsdebatten richten.

Die „graue Revision“

Unter dem Titel „Grijs Verleden. Nederland en de Tweede Wereldoorlog” [Graue Vergangenheit. Die Niederlande und der Zweite Weltkrieg] legte der Publizist Chris van der Heijden 2001 ein explosives Buch vor. Es betrieb eine scharfe Umdeutung der Haltung der Niederländer während der deutschen Besatzungszeit. Oft zitiert wurden die ersten beiden Sätze, die den Kern des Buches zielsicher umreißen: „Zuerst gab es den Krieg, dann die Erzählung dieses Krieges. Der Krieg war schlimm, die Erzählung aber machte den Krieg noch schlimmer.”[8] Van der Heijden erteilte herkömmlichen Vorstellungen eines heroischen Kampfes zwischen Repression und Widerstand eine Absage und zeichnete stattdessen ein skeptisches Bild: Statt eines klaren Streits zwischen Gut und Böse (oder, um in niederländischen Begriffen zu bleiben, goed und fout; „gut” und „falsch”) betonte Van der Heijden das Chaos. Statt entschlossener Helden und Bösewichter entwarf er unsichere, suchende Figuren. Statt eines permanenten Ausnahmezustands zeigte er die Normalität des Besatzungsalltags. Statt auf Widerstand und Kollaboration verwies Van der Heijden auf die breite Mitte der stillen Anpassung, des Abwartens, des Nichtstuns. Im Vergleich zum übrigen Europa sei es in den Niederlanden ohnehin relativ ruhig geblieben. Daher der brillante Titel: „Grijs Verleden” steht auf Niederländisch sprichwörtlich für eine weit zurückliegende, in Nebeln verblasste, halbwegs vergessene Vergangenheit – und klagt zugleich die manichäischen Erzählmuster der Nachkriegsgesellschaft an.

„Grijs Verleden” ist seit seiner Veröffentlichung ein Bestseller – und ein Skandalfall. Dass Van der Heijden der Sohn eines holländischen Nazis ist, machte die Sache umso skandalöser. Versuchte hier jemand, die Fehler seiner „falschen” Familie einzuebnen? Die Niederländer – so Van der Heijden – zeichneten sich während der Besatzungszeit nicht durch unbeirrbare Moralstandards aus, sondern handelten auf Grund von zufälligen Gegebenheiten und Opportunismus. „Bei den meisten [Niederländern] sehe ich stets den Zweifel oder den mutigen Versuch, diesen Zweifel zu bannen. Ich sehe den Widerspruch zwischen Ziel und Folge und die Tragik, die er unvermeidlich hervorbringt. Vor allem sehe ich den Zufall, die Stümperhaftigkeit, die Kleinheit.”[9]

Der Hauptangriffspunkt seiner Revision war das einflussreiche Œuvre von Louis de Jong (1914-2005), der seine moralisch polarisierende Meistererzählung zwischen goed en fout in der Nachkriegsgesellschaft wirkungsmächtig in Fernsehdokumentationen und einer nicht weniger als 27 Bände umfassenden Gesamtdarstellung (erarbeitet zwischen 1955 und 1988) dargelegt hat.[10] Natürlich war Van der Heijden aber 2001 längst nicht der Erste, der eine Entmythologisierung der Besatzungszeit anstrebte. Das heroische Bild des hinterhältig überfallenen, aber tapfer sich widersetzenden Holland war viel früher erodiert. Viele Publizisten, Historiker und Filmemacher waren seit den 1970er-Jahren mit gutem Beispiel vorangegangen – so, als müsste das vermeintliche „Tabu” immer wieder neu gebrochen werden. Die Versachlichung und Differenzierung der Besatzungsgeschichte war spätestens seit den 1980er-Jahren ein weit geteiltes Bedürfnis, und im Grunde zeugte der sofortige Erfolg von „Grijs Verleden” 2001 eher von der fortgeschrittenen Akzeptanz dieses Ansatzes als von seiner Innovationskraft. „Grijs Verleden” wurde aber mit seinem griffigen Titel, dem packenden Stil und dem inszenierten Tabubruch zum Emblem dieser erneuten Revision. Und Van der Heijden ging deutlich weiter. Er ergänzte seine Entmythologisierung mit abenteuerlichen Subtexten und gezielten Regelverletzungen. Seitdem wird die „graue Geschichte” immer wieder neu diskutiert. Der Ansatz gewann neue Vertreter dazu, wurde adaptiert und erneut kritisiert. Dabei dreht sich die Debatte um sechs wesentliche Punkte, die im Folgenden zusammengefasst werden sollen.

Ein erstes wesentliches Merkmal der grauen Erzählform ist die Betonung von Zufällen und Uneindeutigkeiten. Van der Heijden stellt die Besatzungszeit als ein großes „Chaos” dar, in dem sich hauptsächlich „Weichlinge” bewegten, „die durch eine Reihe komplexer Faktoren an dieser oder jener Stelle landeten und die dann dort in mehr oder minder großer Verzweiflung durchzuhalten versuchten”.[11] In „Grijs Verleden” gibt es kaum souveräne Personen und treffsichere Entscheidungen. „Der Zufall bestimmte, an welcher Seite man gestanden hatte, als nach fünf Jahren abgerechnet wurde”, bekräftigte der Autor später.[12] Die Kritik lautete von Anfang an, dass hiermit nicht nur mögliches Fehlverhalten bagatellisiert, sondern auch vorbildliche Zivilcourage, zum Beispiel im Widerstand, mehr oder weniger zufälligen Situationen oder gar Opportunismus zugeschrieben wurde. Mancher Kommentator stellte dagegen, dass auf diese Weise „die Beweggründe von Widerstandskämpfern relativiert wurden”.[13]

Zweitens pflegt Van der Heijden ein pessimistisches Menschenbild, welches sich durch eine negative Moral auszeichnet. Der Autor kündigt einführend „Zeugnisse menschlichen Defizits” als den Kern seines Buches an und entschuldigt sich für seine „wenig erhebende Sicht auf die jüngere Vergangenheit”.[14] Dass eine solche Sichtweise etwa die „Fehler” der Kollaborateure und Verräter entschuldige und offensichtlich apologetische Züge trage, bestreitet Van der Heijden vehement und betont, dass das fehlerhafte Handeln von Menschen das Bild im Grunde nur skeptischer mache.[15] Kritiker warfen ihm diesbezüglich jedoch vor, dass er „seine Schlussfolgerungen nicht auf das, was er herausgefunden hat” gründe, vielmehr suche er „in der Empirie nach Beweisen für eine Weltanschauung, die er schon hatte: dass der Mensch nichts taugt”.[16] Der Vorwurf des selektiven Blicks zielte zwar auf die Verletzung wissenschaftlicher Standards, doch mindestens so sehr steht hier Moral gegen Moral. Schließlich sind Geschichtserzählungen grundsätzlich von Vorannahmen über Individuen, soziale Beziehungen und das Handeln in der Welt geprägt, das gilt, wie unten ausgeführt wird, auch für die Gegner der „grauen Geschichte”.

Der am häufigsten formulierte Einwand ist drittens die Nivellierung von Unterschieden zwischen Tätern und Opfern. Helden und Schurken rückten in der allumfassenden moralischen Abwertung des „Menschlich-Allzumenschlichen” zusammen. Stets haben Kritiker die egalisierenden Effekte der Revision hervorgehoben. Sie sprachen von der „Schwierigkeit, die Schuldfrage zu relativieren” und stellten fest, dass „in der ‚grauen' Geschichtsschreibung Opfer wie Schuldige aus dem Blick verschwinden. Denn wo gut und falsch aufgehoben werden, hat niemand gut und niemand falsch gehandelt. Dann ist alles egal.”[17] Dieser Einwand wurde häufig mit dem Bild der „grauen Suppe” veranschaulicht: „Auf diese Weise landen schließlich ‚Täter', ‚Zuschauer' und ‚Opfer' in ein und derselben riesigen Schüssel, gefüllt mit einer grauen, geschmacklosen Suppe. Darin treiben alle ziellos umher, kaum unterscheidbar. Leicht zu verdauen, das schon.”[18]

Die „graue Geschichte” pocht viertens auf die Komplexität von Handlungsumständen, die einem klaren moralischen Urteil über richtig und falsch damals wie heute im Wege gestanden hätte. Die Lage sei für die Zeitgenossen zu unüberschaubar, zu widersprüchlich und zu schwierig gewesen, um sie nachträglich zu beurteilen. „Die Wirklichkeit des Krieges war sehr viel komplizierter, als sie zunächst vom Widerstand und später aus London erzählt wurde. Um es mit Farben zu sagen: Nicht schwarz, nicht weiß, sondern grau.”[19] Deshalb ziehen Van der Heijden jene Themen und Beispiele an, die nicht zu passen scheinen, die gefestigtes Wissen untergraben, die provozieren und Grenzen verletzen, wie idealistische Nazis, jüdische Mitglieder der niederländischen Nazipartei,[20] oder unaufrichtige Widerständler – stets von Neuem betreibt Van der Heijden das Spiel mit der Umkehrung. Das Motto lautet: Die Besatzungszeit war in Wirklichkeit nicht so klar und übersichtlich, wie es uns unsere glatten, sinnstiftenden Nachkriegserzählungen vorgaukeln. Diese hätten große Teile einer unbequemen Vergangenheit aus dem niederländischen Bewusstsein verdrängt.

In den Jahren seit dem Erscheinen von „Grijs Verleden” hat Chris van der Heijden fünftens betont, dass vor allem das Wissen um „die Falschen” (Fout) ideologisch eingefärbt, von vorschnellen Urteilen blockiert und im Grunde gar nicht richtig vorhanden gewesen sei. Deshalb sei auch das Bild der gesamten Besatzungszeit „einseitig”: Über den Widerstand sei endlos viel geschrieben worden, während über die ungefähr ebenso große Gruppe der Kollaborateure kaum „ernsthaft” geforscht worden wäre. So tritt er seit einigen Jahren vehement für eine neue Erforschung und Korrektur des Bildes der niederländischen Nazipartei, der Nationaal-Socialistische Beweging (NSB), ein. Die 1931 gegründete Bewegung sei von sich aus viel „authentischer niederländisch” und weniger antisemitisch gewesen als häufig gedacht, erst unter deutschem Einfluss habe sich dies geändert. Dieses bislang verteufelte Kapitel der Geschichte solle endlich normalisiert und in die Gesamtgeschichte der besetzten Niederlande integriert werden: Sei die NSB etwa keine „ganz normale Partei” gewesen?[21] Kritiker wehrten sich gegen diese „Rehabilitierung” und erkannten in dem Vorstoß eine klare Apologie.[22]

Diese Kritikpunkte führen zum sechsten und umstrittensten Aspekt der „grauen Revision”, nämlich der Dezentralisierung des Holocaust. Die Judenverfolgung rückt zugunsten der breiten, abwartenden und passiven „Mitte” der niederländischen Besatzungsgesellschaft aus dem Zentrum der Erzählung. In einer Fernsehdiskussion einige Monate nach dem Erscheinen von „Grijs Verleden” erläuterte Van der Heijden, dass er die Vorstellung „nicht richtig” finden würde, „als wäre das Schicksal von 140.000 [jüdischen] Niederländern, wie abscheulich es auch sein mag, die ganze Geschichte des Krieges. Es gab neun Millionen Menschen in den Niederlanden.” Und: „Es ist nicht wahr, dass die Geschichte des Krieges die Geschichte der niederländischen Juden ist. Das ist einfach nicht so. Das ergibt kein gerechtes Bild von dem, was in diesen fünf Jahren geschehen ist.”[23] Diese Bemerkungen trafen die niederländische (und die gesamte westliche) Erinnerungskultur bis ins Mark und stießen auf scharfen Widerspruch, zumal die Zahl der deportierten Juden in Westeuropa proportional nirgends so hoch wie in den Niederlanden gewesen war. Und im Anschluss an die Debatte über die Historisierung des Nationalsozialismus zwischen Saul Friedländer und Martin Broszat am Ende der 1980er-Jahre fragte man sich, wie sich die von Van der Heijden entworfene Normalität der besetzten Niederlande zur Abnormalität des Genozids verhalte.[24] Ein Autor, so warf eine Publizistin 2001 ein, der sich wie Van der Heijden erklärtermaßen auf das „normale” Weiterleben der Mehrzahl der Niederländer nach 1940 konzentriert, „schließt die Opfer aus seiner Erzählung aus. […] Wir verneigen uns vor ihnen, aber zählen sie sonst nicht mehr dazu?”[25]

Streitgeschichte in den Niederlanden und der Bundesrepublik

In Stil und Form ist vieles aus dieser niederländischen Kontroverse aus anderen Geschichtsdebatten bekannt, nicht zuletzt aus deutschen. Das Herumbalancieren auf den Rändern des politisch korrekten Diskurses, der Protest gegen „selbstgerechte Moralritter”, das 68er-Bashing, das Argumentieren in Form von (vermeintlich verbotenen) Fragen, der inszenierte Tabubruch, die Kritik an einer „aufgeblähten” Holocaustgedenkkultur – das alles kehrt vom Historikerstreit über die Walser-Bubis-Debatte bis hin zum „jetzt endlich” freigegebenen Opferdiskurs auch in der Bundesrepublik stets wieder zurück. Drei parallele zeithistorische Diskursfiguren seien kurz hervorgehoben.

Zunächst der behauptete Tabubruch, denn viel wurde in den Niederlanden über die Frage gestritten, ob „Grijs” nun neu war oder nicht („Tabu oder Tradition?”). Hier erinnert die Debatte in mancher Hinsicht an die Kontroversen um das deutsche Leiden im Bombenkrieg und durch die Vertreibung, die mehr oder weniger zeitgleich stattfanden. Natürlich waren Günter Grass („Im Krebsgang”) oder Jörg Friedrich („Der Brand”) 2002 nicht die ersten Autoren, die auf deutsches Leid auf der Flucht und im Bombenkrieg hinwiesen. Es war gerade die inszenierte Regelverletzung, die dem Thema ihren Reiz verlieh – innerhalb einer sich bereits länger verschiebenden (gesamt-)deutschen Erinnerungskultur.[26] Das gilt so für die grijze geschiedenis ähnlich. Das wirklich Revisionistische dieser Revision hielt sich schon 2001 in Grenzen. Neu waren vor allem der skandalträchtige Duktus und der große Publikumserfolg von „Grijs Verleden”. Es hatte aber viele Vorbereiter gegeben, und neben Schriftstellern und Filmemachern zählten seit den späten 1980er-Jahren auch viele Fachhistoriker dazu, von denen manche von Van der Heijdens radikaler Variante der Entmythologisierung auf dem falschen Fuß erwischt wurden. Denn einerseits waren die Historiker eine prominente Zielscheibe seiner Kritik, allen voran die Mitarbeiter des NIOD (Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie). Sie hätten seit den 1940er-Jahren unter Führung des Institutsdirektors Louis de Jong als staatlich berufene Vergangenheitsverwalter und klassische Meistererzähler die Besatzungszeit als Geschichte von Repression und Widerstand gestaltet, diese aus der Warte der Londoner Exil-Regierung erzählt, daran klare moralische Kategorien geknüpft und alles schließlich mit dem Siegel der Wissenschaftlichkeit versehen. Andererseits sah sich Van der Heijden aber von der jüngeren Entwicklung in der Geschichtswissenschaft bestätigt, von der „kleinen, doch wachsenden Zahl von Forschern, denen ich mich verbunden fühle”, die immer mehr Nationalmythen dekonstruiert und Tabuzonen ausgespäht hätten.[27]

Doch in Wirklichkeit waren diese jüngeren wissenschaftlichen Arbeiten für Van der Heijden auch sperrig, weil sie schon seit Jahren jene historiografische Differenzierung und Versachlichung leisteten, die er unbeirrt lautstark einfordert.[28] Das verleiht seiner Revision, sofern sie gegen das Fach gerichtet ist, ihren eigentümlich anachronistischen Farbton. Auch der Monismus, der dem Wunsch eines alles übergreifenden Gesamtentwurfs („Grau”) entspricht, passt kaum in die inzwischen von erklärter Multiperspektivität geprägte Forschungslandschaft. Dass Akademiker ihre Präzisierungen und Differenzierungen traditionell oft im Jargon von „Graustufen” und „Grautönen” verpacken, machte jedoch die Sprachverwirrung noch größer. Und jene Historiker, die seit den 1980er-Jahren für eine Überwindung der manichäischen Moralkategorien von goed en fout eingetreten waren, wurden nun auf einmal für einen radikalen Aufstand in Anspruch genommen, den sie so im Einzelnen weder vorhergesehen noch gewünscht hatten. Eine ähnliche Spannung zwischen Fach und popularisierender Geschichte kennzeichnete häufig die deutsche Opferdebatte und scheint mittlerweile zum Inventar der Zeitgeschichte zu gehören.[29]

Eine zweite Parallele zwischen den jüngeren deutschen und niederländischen Geschichtsdebatten ist die teilweise recht scharfe Kritik an den politisch-moralischen Diskursen der 1968er-Generation. Denn von Anfang an war eine wichtige – wenn nicht gar die wichtigste – Stoßrichtung der Revision der Angriff auf die Orthodoxie im niederländischen Umgang mit de oorlog. Es geht deshalb auch um die Anklage derjenigen, die das Schwarz-Weiß-Bild seit den späten 1960er-Jahren entworfen, es in den 1980er-Jahren mit der moralischen Autorität der Holocaust-Erinnerung versehen und es, Van der Heijden zufolge, seitdem hegemonialisiert hätten.[30] Die vermeintliche moralische Überheblichkeit dieses „politisch korrekten” Holland ist über weite Strecken Van der Heijdens wirkliche Zielscheibe.

Damit gerät auch ein Generationenprojekt ins Visier, denn ihren Durchbruch habe diese Erinnerungskultur der Polarisierung in den frühen 1970er-Jahren gefeiert – „als die Farben Grau und Lila [nach den ideologiefreien Regierungskoalitionen der niederländischen 1990er–Jahre; K.T.] noch bedeutungslos waren, die Sowjetunion noch existierte und Reagan und Thatcher noch kommen mussten”.[31] In einer Reihe von oorlogsaffaires und Skandalen wären goed en fout nach 1970 als moralische Embleme etabliert und bestätigt worden, bis die „einseitige Interpretation des Krieges” am Ende der Dekade ihren Höhepunkt erreicht hätte. Als Triebkraft dieser Entwicklung erkannte Van der Heijden eine „kleine Armee kritischer, drängelnder, meist Amsterdamer Intellektueller”, die seit den späten 1960er-Jahren den Kern „der aufrückenden emotionalen Linken” gebildet und sich seitdem als „Scharfrichter über Gegenwart und Vergangenheit” aufgeführt hätten.[32] Obwohl dieser Gut/Falsch-Diskurs seit den 1980er- und vor allem in den 1990er-Jahren an Rigidität und Macht erheblich eingebüßt hat, bleibt er nach wie vor Van der Heijdens zentrales Feindbild. Er lässt nicht nach, unter seinen Gegnern von heute auffällig viele Leute auszumachen, die „in ihren jungen Jahren in kommunistischen oder vergleichbaren Kreisen verkehrten. Zwischen solchen heutigen oder ehemaligen Präzisen (von links, rechts oder woanders) werde ich mich nie wohl fühlen, so wie sie von meiner prinzipiellen Skepsis auch immer irritiert sein werden.”[33] Die Diskurse der Zeitgenossen und die ideologische Scharfmacherei der zweiten Generation werden hier durch eine neue Skepsis abgelöst, die durch die enttäuschten Friedenshoffnungen nach dem Ende des Kalten Krieges und den Völkermorden von Ruanda und auf dem Balkan befördert wurde.

Drittens schließlich führt diese skeptische Haltung in Deutschland wie in der gegenwärtigen geschichtspolitischen Kontroverse in den Niederlanden letztendlich zu zögernd formulierten Fragen über den Stellenwert und den Gültigkeitsbereich der Holocaust-Erinnerung. Zwar spielt die in Deutschland manchmal implizit geführte Opferkonkurrenz in den Niederlanden eine weniger prominente Rolle. Doch die Nivellierung als apologetische Erzählstrategie verfehlt auch in den Niederlanden ihre Sprengkraft nicht, denn sie stellt den Judenmord als dominante Perspektive auf die Besatzungszeit offen in Frage. „Die ‚Shoahisierung' des Krieges in den letzten 20, 25 Jahren” habe die Vorstellung der Besatzungszeit „genauso entstellt wie das ‚Gut-Falsch'-Denken in den 1960er Jahren und danach. Damit will ich die Abscheulichkeit der Shoah nicht schmälern. Das will kein zurechnungsfähiger Mensch.”[34] Dennoch wird (oder soll) die Dominanz dieses auf die Shoah zentrierten Geschichtsbildes vorübergehen, wenn man Van der Heijden folgt: „Der Zweite Weltkrieg, den wir seit den 60er und 70er Jahren kennen, ist nicht der Zweite Weltkrieg, sondern nur eine der möglichen Abbildungen dieses Krieges.”[35]

Damit kratzt der Autor zielsicher am Kern der westlichen Erinnerungskultur: „Die wichtigste [Frage] wird – vielleicht aus Furcht vor der Antwort – zu selten gestellt: Ist der Mord an den Juden wirklich so einmalig wie immer behauptet wird?”[36] Van der Heijden kontert stets mit „einer traurigen Liste” anderer Genozide und beteuert, dass es für ihn eben die Wiederholbarkeit von Auschwitz sei, die ihn beunruhige. Habe nicht der Völkermord auf dem Balkan gezeigt, dass die Doktrin der Einmaligkeit irreführend sei?[37] Genozid gewinnt bei Van der Heijden – wie Krieg – den Status von trauriger Normalität. Mit diesem Gedankengang stützt er auch sein skeptisches Menschenbild und beschließt damit „Grijs Verleden”.

Erfolg

Auch wenn nur die wenigsten so weit wie Chris van der Heijden gehen, so ist doch die „graue Revision” längst kein Einmannprojekt mehr. Zwar inszeniert sich Van der Heijden – vor allem gegenüber der professionellen Fachwissenschaft – nachhaltig als Einzelgänger und Außenseiter,[38] doch viele seiner Vorstellungen sind längst in eine breitere und differenzierte Perspektive auf de oorlog integriert worden. Fortlaufend erscheinen Studien und Sachbücher, die die Perspektive umdrehen, vertraute Erzählungen unterminieren, Bipolaritäten ausräumen und auf „Tabus” zielen wollen: vom jüdischen Verräter bis zum netten Wehrmachtsoldaten. Viele Autoren sind auf unerwartete Widersprüche aus und fahren moralische (Vor-)Urteile herunter – so sehr, dass viele Rezensenten das „graue Spielchen” mittlerweile satt haben.[39] Auch hierin ist die Lage durchaus vergleichbar zu Deutschland, wo ein Autor wie Jörg Friedrich umstritten bleibt, aber die deutschen Opfererzählungen in vielerlei Formen dennoch große Verbreitung finden.

In den Niederlanden hat die auf die breite Mitte der Besatzungsgesellschaft ausgerichtete Erzählperspektive durch die Fernsehserie De Oorlog (2009) eine große Ausstrahlung entfaltet. Die neue TV-Produktion sollte die Vorstellung eines fünf Jahre dauernden Ausnahmezustandes korrigieren und auch den Besatzungsalltag ins Bild mit aufnehmen. „Das Leben ging weiter”, so lautete das inoffizielle Motto der Serie, das in vielen Selbstzeugnissen, im oft privaten Bildmaterial sowie in begleitenden Kommentaren der Produzenten in der Tat scharf aufleuchtete.[40] Neben zahlreichen Lobeshymnen klangen auch kritische Töne an: Anpassung wurde nunmehr auffällig verständnisvoll beurteilt, und Zufall und Umstände schienen den Gang vieler individueller Schicksale zu bestimmen.[41] Auch die Entscheidung, die Judenverfolgung und -vernichtung in einer der neun Folgen thematisch zusammenzufassen und somit von den anderen Folgen abzugrenzen, bedeutete mancher Kritikerstimme zufolge wenig Gutes: Wurde der Holocaust von der ansonsten wenig aufregenden Besatzungszeit etwa abgekoppelt? Wegen der medialen Prominenz und der staatlichen Subvention des Projektes sprachen Kritiker von einer neuen Meistererzählung, die einer Entschärfung der Besatzungszeit als moralische Referenz Vorschub leiste: „Wie aus dem Krieg eine ganz normale Geschichte gemacht wurde, die im Frieden endet.”[42]

Die akademische Zeitgeschichtsschreibung

Das Format publikumswirksamer Fernsehserien und die Figur des revisionistischen, nicht akademisch disziplinierten Bestseller-Historikers – sie sind auch dem deutschen Zeithistoriker mehr als vertraut.[43] Und auch in den Niederlanden stellt sich die Frage: Wie reagieren die akademischen Zeithistoriker? Wie verhält sich das niederländische Fach zur Popularisierung der „grauen Geschichte”?

Bis heute bleibt die akademische Bilanzierung der Debatte ambivalent – schon allein deshalb, weil das Fach natürlich nicht mit einer Stimme spricht. Wie schon erwähnt, hatten viele niederländische Historiker schon seit längerer Zeit auf eine Differenzierung der manichäischen goed-fout-Bilder hingearbeitet, als Chris van der Heijden seinen Frontalangriff auf dieses Schema startete. Zwar kann man nicht behaupten, dass die publizistischen Diskussionen um „Grijs Verleden” wissenschaftlich unproduktiv gewesen wären. Im Gegenteil, auch wenn sie diese nicht immer initiierte, so beförderte die Debatte doch neue Fragestellungen und Forschungsprojekte, etwa nach der Geschichte der niederländischen Nazibewegung, nach dem Widerspruch zwischen konformem Verhalten und widerständischem Denken sowie nach den Vorstellungen der Niederländer über das Schicksal der deportierten Juden.[44] Aber vieles davon lag eben schon lange vor „Grijs Verleden” in der Luft. Doch wurden solche Projekte nun nicht für den Aufbau einer apologetischen Gegenmoral missbraucht?

Diese Ambivalenz spiegelte sich seit 2001 am deutlichsten an Hans Blom, der von 1996 bis 2007 Direktor des NIOD war. In seiner einflussreichen, an Martin Broszat orientierten Antrittsvorlesung von 1983 hatte Blom dafür plädiert, die strenge Moralisierung der Historiografie über die Besatzungszeit zu überwinden und stattdessen analytisch-empirische, „wertfreie” Geschichtswissenschaft zu betreiben und auch die Anpassung der Mehrheitsgesellschaft zu thematisieren. Diese Antrittsvorlesung wurde von vielen nachträglich als Wegbereiter für eine „graue Geschichte” verstanden.[45] Dennoch liegt zwischen ihr und „Grijs Verleden” eine wichtige Differenz. Blom hatte die Skala von goed en fout nicht mehr als leitend, ja sogar als störend für die weitere historische Forschung bezeichnet. Goed en fout waren ihm irrelevant geworden. Van der Heijden aber sagt: Goed en fout waren marginal. Die breite, gemäßigte und allzu menschliche Mitte dominierte die Zeit der Besatzung. Damit ist sein „Grau” immer noch (oder: wieder) eine Antwort auf die Frage nach goed en fout. Denn Van der Heijden relegitimiert so das moralische Spektrum, das Blom ausgemustert hatte. Dennoch schienen Blom und Van der Heijden in der Lagerbildung der jüngeren Debatten oft zusammenzustehen. Die unvermutete Allianz zeugt gewiss von einer geteilten Abneigung gegenüber den „Scharfrichtern” der Geschichte, wie früher De Jong. Sie deckt aber rückwirkend auch die Normativität von Bloms eigener, auf Anpassung ausgerichtete Perspektive auf die Besatzungszeit auf: War Bloms wertfreie Wissenschaft nicht auf eine Moral des Mittelmaßes hinausgelaufen, die sich schließlich ebenso nivellierend auswirkte wie Van der Heijdens Grijs Verleden?[46]

Als Hans Blom 2007 emeritiert wurde und zugleich von der Spitze des NIOD zurücktrat, war auch dies ein geschichtspolitisch aufgeladenes Ereignis. Würde auf den Personalwechsel auch ein Kurswechsel des Instituts im Umgang mit der Debatte über die umstrittene „graue Geschichte” erfolgen? In der Tat setzte seine Nachfolgerin Marjan Schwegman in der öffentlichen Debatte rasch neue Akzente. Von Anfang an machte sie deutlich, dass sie vom Begriff grijs wenig begeistert sei.[47] „Vieles aus Bloms Antrittsvorlesung ist inzwischen verwirklicht worden. Dies erfordert eine neue Reaktion. Wir sollten das graue Bild des Zweiten Weltkrieges verabschieden.”[48] Damit positionierte sich das NIOD, oder zumindest seine Führung, endgültig unter den Kritikern – und dieser Kurswechsel ist einer der Gründe, warum das Thema seit einigen Jahren wieder verstärkt diskutiert wird.

Denn seit 2007 stellt sich nunmehr mit neuer Dringlichkeit die Frage, welche Alternativen für das skeptische Bild in unserer Gegenwart denkbar und akademisch tragbar sein könnten. Was ist das Gegenteil von Grau? Verschiedene Ansätze wurden erprobt. Zunächst gab es von Beginn an die klassische Gegenreaktion, nämlich die entschlossene Zurückweisung. Verschiedene Kritiker haben, wie gezeigt, an der Zentralität der (jüdischen) Opfer während der Besatzungszeit festgehalten. Seit einiger Zeit wird diese Zurückweisung mit erhöhter Schärfe formuliert, etwa von der Amsterdamer Professorin für Jüdische Geschichte (und NIOD-Mitarbeiterin) Evelien Gans. Sie hat vor kurzem die rhetorische Notbremse gezogen, wirft Van der Heijden „sekundären Antisemitismus” vor und sehnt gar einen neuen „Historikerstreit” herbei.[49]

Zweitens formulierte NIOD-Direktorin Marjan Schwegman, kaum ein Jahr im Amt, eine Alternative für die nivellierende Geschichtsschreibung, und zwar durch eine neue Akzentuierung des Heldentums, verbunden mit der Frage, was Heldenmut denn eigentlich ausmache, wie Heldenfiguren in Erinnerungsgemeinschaften entstehen und wie sich diese wandeln würden.[50] Der Vorschlag gewann Plausibilität, als Jolande Withuis (ebenfalls Mitarbeiterin am NIOD) einige Monate später ihre mitreißende Biografie des Widerstandshelden Pim Boellaard vorlegte. Während Van der Heijden sich in der Presse über die „Heldenoffensive” des NIOD lustig machte, verkündete Withuis, etwas vorschnell, „das Ende von Grau”: „Wenn es ‚Gut' und ‚Falsch' irgendwo gegeben hat, dann natürlich im Krieg.”[51] Die auf konkrete Personen und Situationen konzentrierte Forschung ordnet sich mittlerweile in eine breiter formulierte Alternative für „Grijs” ein, nämlich das Herausstreichen von individuellen Entscheidungsmomenten in der Besatzungsgeschichte. Viele Autoren plädieren inzwischen für eine Betonung persönlicher Dilemmata, bewusster Handlungen und manchmal unerwarteter Handlungsfolgen in einem weiteren Kontext. (Dieser Ansatz hat sich bislang allerdings vor allem in biografischen Studien bewahrt; der Schritt zur Synthese scheint bislang weit.)

Drittens wird inzwischen auch die in der Debatte stets latente Frage nach der eigentlichen Aufgabe der Geschichtswissenschaft explizit diskutiert: Was ist eigentlich die Rolle von Zeithistorikern in einer sinnsuchenden Gesellschaft? Was ist ihr Selbstverständnis, und wo verlaufen die Grenzen des Faches? Historiker wie Martijn Eickhoff, Barbara Henkes und Frank van Vree stellen das mit dem Namen Hans Blom verbundene Ideal einer sich in Fragen von Moral zurückhaltenden Zeitgeschichte nunmehr offen in Frage. Gesucht wird nach Wegen, um die ethischen Aspekte der Geschichtsschreibung offensiv anzuerkennen und Wissenschaftlichkeit mit Moralität historiografisch zu verbinden.[52]

Allen diesen akademischen Alternativvorschlägen gemein ist neben einer analytischen auch eine stärker politisch-moralische Triebfeder. Beispielsweise werde ein auf persönliche Entscheidungsmomente fokussierter Blick, Marjan Schwegmann zufolge, „zeigen, dass man immer eine Wahl hat”.[53] Das ist selbstverständlich politisch-pädagogisch gesehen eine angenehmere Moral als die Vorstellung von einer überwältigenden Macht der Umstände. Denn diese vermittle, in den Worten von Barbara Henkes, nur allzu leicht den Eindruck, dass der Mensch willenlos „vom dramatischen Karussell der Geschichte mitgeschleppt wurde (und wird)”[54] – eine Kritik, die übrigens ähnlich auch in den deutschen Opferdebatten formuliert wurde. In solchen akademischen Stellungnahmen spiegelt sich zumindest teilweise auch das Bedürfnis, in den unsicheren, von Skepsis und Populismus heimgesuchten Niederlanden den mündigen Bürger zu fördern. Dass es nicht zuletzt ausgerechnet auch Fachhistoriker sind, die die Möglichkeiten einer vorsichtigen Remoralisierung der Geschichte erkunden, bezeugt jedenfalls einmal mehr, wie eng zeithistorische Debatten mit dem Streitfeld von politischer Sinnsuche, wandelndem Demokratieverständnis und nationaler Identitätsbildung verwoben sind.

Empfohlene Literatur zum Thema

Nicole Colin, Mathias N. Lorenz, Joachim Umlauf (Hrsg.), Täter und Tabu. Grenzen der Toleranz in deutschen und niederländischen Geschichtsdebatten, Klartext, Essen 2011, ISBN 9783837503463.

Bob Moore, Victims and Survivors. The Nazi Persecution of the Jews in the Netherland’s 1940-1945, Hodder Arnold, London 1997, ISBN 9780340691571.

Christoph Strupp, Niederlande – Entwicklungen und Tendenzen der zeithistorischen Forschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.03.2011. 2011 (online).

Chris van der Heijden, Grijs verleden. Nederland en de Tweede Wereldoorlog, Contact, Amsterdam 2001, ISBN 9789025496946.

Friso Wielenga, Erinnerungskulturen im Vergleich. Deutsche und niederländische Rückblicke auf die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch des Zentrums für Niederlande-Studien. Bd. 12, Aschendorff, Münster 2001, ISBN 9783402042007, S. 11-28.

Ido de Haan, Imperialism, Colonialism, and Genocide. The Dutch Case for an International History of the Holocaust, in: Low Countries Historical Review [BMGN/LCHR]. Nr. 125, 2010, S. 301-27 (online).

Zitation

Krijn Thijs, Niederlande - Schwarz, Weiß, Grau. Zeithistorische Debatten seit 2000, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 3.6.2011, URL: http://docupedia.de/zg/Niederlande_-_Schwarz_Weiss_Grau

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Anmerkungen

    1. Dieser Beitrag geht zurück auf meinen Aufsatz „Kontroversen in Grau. Revision und Moralisierung der niederländischen Besatzungsgeschichte“, in: Nicole Colin u.a. (Hrsg.), Täter und Tabu. Grenzen der Toleranz in deutschen und niederländischen Geschichtsdebatten, Essen 2011, S. 11-24. Dort finden sich auch mehr niederländische Literaturverweise. Die Übersetzungen aus dem Niederländischen sind von mir, K.T.
    2. Rolf-Ulrich Kunze, Zur historisch-politischen Topographie eines „Vorreiterlandes“: Wandel und Kontinuität im Selbstbild der Niederlande, in: Neue Politische Literatur 53 (2008), S. 381-392; Peter van Dam, Ein Kanon der niederländischen Geschichte?, in: Jahrbuch des Zentrums für Niederlande-Studien 18 (2007), S. 189-201.
    3. Online unter http://www.nationaalhistorischmuseum.nl.
    4. Online unter http://www.tweedewereldoorlog.nl; Ministerie van Volksgezondheid, Welzijn en Sport (Hrsg.), Erfgoed van de Oorlog. De oogst van het programma, Den Haag 2010 [Englische Zusammenfassung unter dem Titel: Heritage of War. Results of the Programme]. Im Rahmen des Erbeprogramms wurde die gesamte niederländische Presse der Jahre 1940-1945 online verfügbar gemacht. Die Sammlung ist zu recherchieren über: http://kranten.kb.nl/. Über online Datenbanken sind ferner Fotos (http://www.beeldbankwo2.nl), Filme (http://www.oorloginblik.nl) und Zeitzeugenberichte (http://getuigenverhalen.nl) zu recherchieren. Zudem wurde ein zentrales Archivportal eingerichtet, das nahezu alle in den Niederlanden verzeichneten Quellenbestände zur Geschichte der Besatzungszeit erschließt: http://www.archievenwo2.nl. Leider sind die meisten Webseiten bislang nur auf Niederländisch zugänglich.
    5. Friso Wielenga, Erinnerungskulturen im Vergleich. Deutsche und niederländische Rückblicke auf die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg, sowie Frank van Vree, Denkmäler ohne Sockel. Der Zweite Weltkrieg und die Transformation der historischen Kultur in den Niederlanden, beide in: Jahrbuch des Zentrums für Niederlande-Studien 12 (2001), S. 11-30 und S. 59-80; Hans Marks/Friederike Pfannkuche, Die Toleranz der Generationen. Wie Gut und Böse in den Niederlanden unterschieden werden, in: Harald Welzer (Hrsg.), Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt a. M. 2007, S. 112-149.
    6. Vgl. Geert Mak, Der Mord an Theo van Gogh. Geschichte einer moralischen Panik, Hamburg 2005; Ian Buruma, Murder in Amsterdam. The Death of Theo van Gogh and the Limits of Tolerance, New York 2006. 
    7. Bob Moore, Victims and Survivors. The Nazi Persecution of the Jews in the Netherland’s 1940-1945, London u. a. 1997; Ron Zeller/Pim Griffioen, Judenverfolgung in den Niederlanden und in Belgien während des Zweiten Weltkrieges. Eine vergleichende Analyse, 1999, in: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 11 (1996), S. 30-54; Ido de Haan, Imperialism, Colonialism, and Genocide. The Dutch Case for an International History of the Holocaust, in: Low Countries Historical Review [BMGN/LCHR] 125 (2010), S. 301-327.
    8. Chris van der Heijden, Grijs Verleden. Nederland en de Tweede Wereldoorlog, Kampen 2001, 82003, S. 9. 
    9. Van der Heijden, Grijs Verleden S. 15.
    10. L. de Jong, Het Koninkrijk der Nederlanden in de Tweede Wereldoorlog (14 Teilen in 30 Bänden), Den Haag/Leiden 1969-1994. Die letzten drei Bände (Das Register und Reaktionen) wurden 1991 bzw. 1994 von De Jongs Mitarbeitern herausgegeben. Vgl. hierzu: Christoph Strupp, Niederlande – Entwicklungen und Tendenzen der zeithistorischen Forschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22. 3.2011. 
    11. Van der Heijden, Grijs Verleden, S. 16.
    12. Zitiert nach Evelien Gans, Iedereen een beetje slachtoffer, iedereen een beetje dader, in: De Groene Amsterdammer 134, 4 (28.1.2010), S. 22-29.
    13. So Ed van Thijn in: Buitenhof, 15.4.2001, online unter http://www.vpro.nl/programma/buitenhof/afleveringen/3502282. Und weiter: „Was relevant ist, ist dass diese Leute – manche in einem ‚split second’, andere nach einem halben Jahr Grübeln, manche aus sehr prinzipiellen, oft religiösen Gründen, andere in einer spontanen Gefühlsregung – den ethischen Beschluss gefasst haben, ihr Leben in die Waagschale zu legen. Ich finde, dass man das nicht bagatellisieren darf, indem man sagt, das war der reine Zufall.“
    14. Van der Heijden, Grijs Verleden, S. 15.
    15. Van der Heijden, Grijs Verleden, S. 15-17.
    16. Jolande Withuis, Het einde van grijs, in: Historisch Nieuwsblad 5 (2010), S. 77.
    17. Elsbeth Etty, Goed/Fout, in: NRC, 20.3.2001.
    18. Gans, Iedereen een beetje slachtoffer, S. 24. Vgl. Evelien Gans, Eigentlich waren doch alle ein bisschen Täter und Opfer … Nivellierungstendenzen und sekundärer Antisemitismus im Geschichtsbild des niederländischen Historikers Chris van der Heijden, in: Colin u.a., Täter und Tabu, S. 33-49.
    19. Chris van der Heijden, De werkelijkheid van de oorlog was voor de meeste mensen vooral ingewikkeld, in: Brabants Dagblad, 22.4.2008.
    20. Chris van der Heijden, Joodse NSB-ers. De vergeten geschiedenis van Villa Bouchina in Doetinchem, Utrecht 2006.
    21. Chris van der Heijden, Vertel het hele verhaal van de oorlog en betrek dus ook de NSB erbij, in: NRC, 9.12.2006. Vgl. Chris van der Heijden, Die NSB – eine ganz normale politische Partei? Ein Plädoyer für historische Korrektheit jenseits der Political Correctness, in: Colin u.a., Täter und Tabu, S. 25-32.
    22. Peter Romijn, Er is volop aandacht voor de NSB, in: NRC, 12.12.2006; Herman Langeveld, Beeld van de NSB beho eft geen bijstelling, in: NRC 12.12.2006; Herman Langeveld, Eerherstel voor de NSB?, in: Openbaar Bestuur (September 2007). 
    23. Van der Heijden, in: Buitenhof, 15.4.2001, online unter http://www.vpro.nl/programma/buitenhof/afleveringen/3502282/.
    24. Der Briefwechsel findet im niederländischen Diskurs seit einigen Jahren verstärkte Aufmerksamkeit. Vgl. Martin Broszat/Saul Friedländer, Um die „Historisierung des Nationalsozialismus“. Ein Briefwechsel, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), S. 339-372.
    25. Etty, Goed/Fout. 
    26. Bill Niven (Hrsg.), Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany, Houndmills 2006. Für niederländische Reaktionen auf diese Debatten, vgl. Krijn Thijs, Holland and the German Point of View. On the Dutch Reactions to German Victimhood, in: Helmut Schmitz/Annette Seidel-Arpaci (Hrsg.), Narratives of Trauma: German Wartime Suffering in National and International Perspective, Amsterdam/New York 2011.
    27. Van der Heijden, Grijs Verleden, S. 13 und S. 15; ders., De oorlog als mensenverhaal, S. 31.
    28. Vgl. beispielsweise den Forschungsüberblick bei Marton van Hennik, De oorlog op herhaling: recente literatuur over de Duitse bezetting van Nederland, in: BMGN/LCHR 111 (1996), S. 493-516.
    29. Vgl. Stefan Berger, On Taboos, Traumas and Other Myths: Why the Debate about German Victims of the Second World War is not a Historians’ Controversy, in: Niven, Germans as Victims, S. 210-224.
    30. Es sei erst seit den 1980er-Jahren so, dass „die Anerkennung der Shoah als das Wichtigste, das im Krieg geschehen ist, wie eine Art Ausweis an Modernität gilt. Wenn man damit übereinstimmt, gehört man zum zivilisierten Westen, dann gehört man zu unserer Welt.” Ad van Liempt, De onvrede na de vrede. Een Interview met historicus Chris van der Heijden, in: De Volkskrant, 19.12.2009. Eine anders gelagerte, aber an die gleiche ‚zweite’ Generation gerichtete Kritik führten für Deutschland jüngst: Ulrike Jureit/Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010.
    31. Chris van der Heijden, De oorlogjes na de oorlog, in: Vrij Nederland, 7.5.2005. 
    32. Ebd.
    33. Chris van der Heijden, De oorlog als mensenverhaal, in: De Groene Amsterdammer, 29.04.10, S. 28-33, hier S. 33.
    34. Chris van der Heijden, De oorlog als mensenverhaal, S. 33.
    35. Chris van der Heijden, De werkelijkheid van de oorlog.
    36. Van der Heijden, Grijs Verleden, S. 12.
    37. Van der Heijden, Buitenhof, 15.4.2001, online unter http://www.vpro.nl/programma/buitenhof/afleveringen/3502282.
    38. Und er beschränkt sich nicht allein auf Vergangenes: Gerade seine Kommentare zu aktuellen Ereignissen gehören zu seinen umstrittensten Schriften. Ob es nun um die Legitimität Israels geht („Israel. Ein heilloser Irrtum“), um die Einschätzung des Rechtspopulismus („Betrachte Wilders wie einen Demokraten“) oder um die Verurteilung des Sobibor-Täters Iwan Demjanjuk („Die Mörder sind unter uns“) – immer wieder unterminiert Van der Heijden routiniertes Wissen und die in der Holocausterinnerung begründete Ordnung unserer Gegenwart. Vgl. die Kritik bei Gans, Eigentlich waren alle doch ein bisschen Täter und Opfer.
    39. So Anet Bleich, Vreemd smakende omelet van fout en goed. Grauwsluiers over de bezetting van Nederland, in: Volkskrant, 19.2.2010.
    40. Die einzelnen Folgen sind online verfügbar, inklusive Hintergrundmaterial, vgl. http://deoorlog.nps.nl.
    41. Rudolf Dekker, Aanpassen in De Oorlog. TV-serie benadert accommodatie te positief, in: Geschiedenis magazine 1/2010, S. 20-23; Barbara Henkes, De Bezetting revisited. Hoe van De Oorlog een ‘normale’ geschiedenis werd gemaakt die eindigt in vrede, BMGN 125 (2010), 1, S. 73-99.
    42. Henkes, De Bezetting revisited, S. 73.
    43. Klaus Große Kracht, Der zankende Zunft. Historische Kontroversen nach 1945, Göttingen 2005; Wulf Kansteiner, In Pursuit of German Memory. History, Politics and Television after Auschwitz, Athens 2006.
    44. Bart van der Boom, De lokroep van de Beweging, in: Historisch Nieuwsblad 5 (2007); Ismee Tames, Besmette Jeugd. Kinderen van NSB-ers na de oorlog, Amsterdam 2009; Bart van der Boom, „We leven nog.“ De stemming in bezet Nederland, Amsterdam 2003.
    45. Hans Blom, In de ban van goed en fout? Wetenschappelijke geschiedschrijving over de bezettingstijd in Nederland, wiederabgedruckt in: ders., In de ban van goed en fout. Geschiedschrijving over de bezettingstijd in Nederland, Amsterdam 2007, S. 9-30. Tatsächlich war Blom einer der wenigen führenden Fachleute, die „Grijs Verleden“ nicht pauschal verurteilten, indem er eine durchaus lobende, wenn auch zwiespältige Rezension verfasste, ebd., S. 57-68.
    46. Vgl. Hans Blom, Een kwart eeuw later. Nog altijd in de ban van goed en fout?, in: ebd., S. 133-154.
    47. Historici zijn volgers, geen voorspellers. Interview met Marjan Schwegman, in: De Groene Amsterdammer, 13.4.2007.
    48. Marjan Schwegman/Jolande Withuis, Weg met Grijs – bewonderen mag, in: Historisch Nieuwsblad 2009.
    49. Vgl. Gans, Eigentlich waren doch alle ein bisschen Täter und Opfer …
    50. Marjan Schwegman, Waar zijn de Nederlandse verzetshelden (Van-der-Lubbelezing 2008), online unter http://www.niod.knaw.nl/documents/publicaties/NIODSchwegmanVerzetshelden.pdf.
    51. Withuis, Het einde van Grijs; dies., Weest mannlijk, zijt sterk. Pim Boellaard (1903-2001), het leven van een verzetsheld, Amsterdam 2008.
    52. Martijn Eickhoff/Barbara Henkes/Frank van Vree, De verleiding van een grijze geschiedschrijving. Morele waarden in historische voorstellingen, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 124 (2010), S. 322-339. 
    53. Schwegman, Waar zijn de Nederlandse verzetshelden, S. 4.
    54. Henkes, De Bezetting revisited, S. 90.