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Rüdiger Graf

Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte

Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012
https://docupedia.de//zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen_Version_2.0_R%C3%BCdiger_Graf

DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.266.v2

Artikelbild: Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte

Atomuhr CS4, Physikalisch-Technische Bundesanstalt, Braunschweig 1992. Braunschweigisches Landesmuseum, Braunschweig, Deutschland. Fotograf: Daderot, 18. November 2014. Quelle: <a rel="nofollow" class="external text" href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Atomuhr_CS4_caesium_clock,_Phys… Commons</a> (<a rel="nofollow" class="external text" href="https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en">CC0 1.0 Universal</a>)

Zeit ist eine der grundlegendsten Kategorien der Geschichtswissenschaft. Rüdiger Graf widmet sich dem Begriff und Phänomen der Zeit zunächst anhand von neueren Theorien über die Zeit in unterschiedlichen Wissensfeldern. Ausgehend von sprachanalytischen Überlegungen hält er fest, dass die Geschichtswissenschaft sich stärker als bisher mit dem Zusammenhang von vergangenen Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukunftsvorstellungen beschäftigen sollte. Die zentrale Aufgabe einer Zeitgeschichte als einer Geschichte unserer Zeit besteht für ihn darin, zentrale Deutungen der Zeit nicht einfach zu reproduzieren, sondern sie vielmehr zu historisieren und zugleich als Faktoren in und für den Wandel der Zeit miteinzubeziehen.

Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte

von Rüdiger Graf

Zeit ist die grundlegendste Kategorie der Geschichtswissenschaft. Historikerinnen und Historiker untersuchen, so könnte man in erster Annäherung formulieren, Wandel in der Zeit. Ohne Zeit bzw. eine bestimmte Konzeption von Zeit gäbe es keine Vorstellung von Geschichte und damit auch keine wissenschaftlichen Versuche, sie zu erfassen. Auch wer behauptet, nicht Wandel, sondern Zustände zu untersuchen, interessiert sich für diese doch als Bedingungen für Wandlungsprozesse. Dementsprechend ist der Begriff der Zeit in der Geschichtswissenschaft omnipräsent: Wir sprechen von der Zeit der Renaissance oder der NS-Zeit, von bleiernen oder modernen Zeiten, Zeiten des Aufbruchs oder des Niedergangs, einer guten oder schlechten Zeit usw. All diese Formulierungen schreiben Zeitabschnitten, Epochen oder Zeitaltern, bestimmte Charakteristika zu. Auch in der Zeitgeschichte selbst geht es nach Hans Rothfels' klassischer Definition um „die Geschichte der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung”, d.h. um die Geschichte unserer Zeit, die nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Kalten Kriegs zunächst als eine Zeit krisenhafter Erschütterungen begriffen wurde.[1] Als Geschichte der Mitlebenden entwirft die Zeitgeschichte eine eigene Zeitordnung, da sich ihr zeitlicher Gegenstandsbereich verschiebt bzw. einen offenen Zukunftshorizont hat und sich ein Schwerpunkt der empirischen Forschung immer entlang der archivalischen Sperrfristen in einem Abstand von dreißig Jahren zur Gegenwart bewegt.

Gerade die fundamentalsten und am häufigsten verwendeten Begriffe sind am schwierigsten zu explizieren, sodass diese Anstrengung nur selten unternommen wird. Auch in der Zeitgeschichte wird zwar häufig von Zeit geredet und noch öfter werden Zeitbegriffe gebraucht, aber nur selten geht es um die Zeit selbst, also nach der Umschreibung des Brockhaus um „das im menschlichen Bewusstsein unterschiedlich erlebte Vergehen von Gegenwart; die nicht umkehrbare, nicht wiederholbare Abfolge des Geschehens, die als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft am Entstehen und Vergehen der Dinge erlebt wird”.[2] Ausgehend von dieser Erläuterung des Zeitbegriffs wird schon die Beschreibung des Gegenstands der Geschichtswissenschaft als „Wandel in der Zeit” problematisch: Denn wenn die Zeit überhaupt nur am „Entstehen und Vergehen der Dinge” wahrgenommen werden kann, dann ist es zu einfach, sie als Raum zu denken, in dem sich Veränderungen vollziehen, oder als Zeitstrahl, auf dem sie ablaufen. Auch wenn dies für viele historische Argumentationszusammenhänge ausreichend sein mag, wird historische Zeit letztlich erst durch die untersuchten Wandlungsprozesse selbst konstituiert. Aufgabe der Geschichtswissenschaften ist es, Zeit nicht einfach vorauszusetzen, sondern sie vielmehr aus dem Entstehen und Vergehen bzw. den Veränderungen der Dinge heraus zu erschließen.[3]

Diese Zeit, die fundamental ist für unser Verständnis von Geschichte und unsere Versuche, diese zu erfassen, ist immer soziale Zeit: Sie selbst und ihr Erleben sind historisch variabel – ihre Messung hängt von gesellschaftlichen Übereinkünften ab, genauso wie ihre Erfahrung von der sozialen Position, von Geschlecht, Bildung, Beruf, Alter und vielen anderen Faktoren.[4] Zeit und Zeitvorstellungen sind wandelbar und daher jenseits der oftmals metaphorischen Verwendung des Zeitbegriffs ein wichtiger Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Im 20. Jahrhundert bzw. dem Gegenstandsbereich der Zeitgeschichte veränderten sich sowohl die Messung der Zeit als auch ihr Verständnis nicht zuletzt durch die Entstehung neuer wissenschaftlicher Theorien: Am Beginn des 20. Jahrhunderts revolutionierte die Relativitätstheorie naturwissenschaftliche Vorstellungen von Raum und Zeit, und sowohl Philosophen als auch Theologen dachten wieder intensiver über den Begriff der Zeit nach. In der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte beschäftigten sich dann zunehmend Soziologen und Anthropologen mit Zeit und Zeitregimen. All diese Theorien und Forschungen anderer Disziplinen, die im ersten Abschnitt kurz vorgestellt werden, dürfen weder reduktionistisch als Produkte sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Entwicklungen betrachtet werden, noch sollten einzelne von ihnen als Theoriemodelle absolut gesetzt werden, an denen sich die historische Analyse zu orientieren hat. Die zentrale Aufgabe besteht vielmehr darin, sie sowohl zu historisieren und ihre Bedeutung für eine Geschichte der Zeit im 20. Jahrhundert zu untersuchen als auch ihre Wirkung auf unser Denken und ihre Funktion für eine Zeitgeschichte der Zeit zu beleuchten.[5]

Nach Auffassung vieler sprachanalytischer Philosophen verwirrt das Substantiv „Zeit” unser Denken, und Ausführungen zur Zeit als solcher bekommen leicht etwas geheimnisvoll Raunendes. Demgegenüber sind unsere Überlegungen wesentlich klarer, wenn wir über die verschiedenen zeitlichen Bestimmungen wie früher/später oder vergangen/gegenwärtig/zukünftig nachdenken (s.u.). Um Mystifizierungen der Zeit zu vermeiden, werden nach den Zeittheorien zunächst historische Arbeiten vorgestellt, die sich möglichst konkret mit Zeit und Zeitvorstellungen in der Zeitgeschichte beschäftigen. Danach wird es um Studien gehen, die sich im Sinne des sprachphilosophischen Postulats der Erforschung der Zeitdimensionen widmen, sich also mit vergangenen Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften beschäftigen.

Veränderungen der Zeitvorstellungen im 20. Jahrhundert

Naturwissenschaften und Technik

Die von Isaac Newton als Grundlage der Mechanik postulierte „absolute, wahre und mathematische Zeit”, die „an sich ... gleichförmig ist” und in der sich alle Körper bewegen, war schon früh kritisiert worden, da Zeit immer nur relational zu bestimmen und eine absolute Zeit unerkennbar sei.[6] Erst 1905 wurde die Vorstellung einer absoluten Zeit jedoch mit Albert Einsteins Aufsatz „Zur Elektrodynamik bewegter Körper” grundsätzlich beseitigt.[7] So abstrakt und kompliziert die Relativitätstheorie auch ist, geht sie doch nicht zuletzt von dem sehr konkreten Problem der Uhrensynchronisation aus. Die Synchronisation von zwei Uhren an verschiedenen Orten ist insofern schwierig, als sie von der Kenntnis der Übertragungsdauer eines Signals zwischen den Uhren abhängt, diese aber nicht bestimmt werden kann, solange es keine synchronen Uhren an den beiden Orten gibt. Erfolgen müsse die Synchronisation, so Einstein, durch Lichtsignale, da sich das Licht überall mit der gleichen Geschwindigkeit ausbreite, die nicht überschritten werden könne. Wenn sich nun aber zwei Inertialsysteme[8] relativ zueinander bewegen, erscheinen zwei Uhren, die sich an verschiedenen Punkten in einem System befinden, Beobachtern innerhalb dieses Systems synchron, Beobachtern aus dem anderen System aber als diachron. Daher gibt es keine Möglichkeit, die Gleichzeitigkeit von Ereignissen über diese Bezugssysteme hinaus festzustellen; die Idee einer absoluten Zeit erweist sich als Illusion, und an ihre Stelle tritt eine relative, auf bestimmte Inertialsysteme bezogene Zeit.[9]

Obwohl die Relativitätstheorie postmodernen Theoretikern oft als vager Beleg der These gilt, dass angeblich alles relativ und damit auch alles möglich sei, ist letztlich unklar, was aus diesen Überlegungen für die Geistes- und Sozialwissenschaften folgt.[10] Zweifelsohne trugen sie jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Destabilisierung eines universalen und homogenen Zeitverständnisses bei. Darüber hinaus veränderten sich im 20. Jahrhundert auch die Techniken der Zeitmessung, die traditionell auf astronomischen Beobachtungen, der Erdrotation bzw. des Umlaufs der Erde um die Sonne basierten, nachdem erkannt worden war, dass diese Bewegungen nicht völlig gleichförmig verliefen. 1967 wurde die Sekunde neu definiert durch die „Dauer von 9.192.631.770 Schwingungen eines Hyperfeinstrukturübergangs im Grundzustand von Cäsium 133”, und vier Jahre später legte die 14. Generalkonferenz für Maß und Gewicht auf dieser Basis die internationale Atomzeit fest, die seit dem 1. Januar 1972 gilt.[11]

Philosophie

Um die Jahrhundertwende und dann verstärkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts richteten sich viele Philosophen gegen die Vorstellung einer absoluten und homogenen Zeit sowie gegen die transzendentalphilosophische Wendung, die ihr Immanuel Kant gegeben hatte, wonach Zeit und Raum apriorische Kategorien menschlicher Erkenntnis sind.[12] Sie lehnten ein vergegenständlichtes bzw. verräumlichtes Verständnis von Zeit ab und betonten demgegenüber, dass Zeit und Zeitlichkeit viel grundlegendere Phänomene menschlicher Existenz seien. Schon Ende des 19. Jahrhunderts unterschied Henri Bergson einen quantitativen von einem qualitativen Zeitbegriff, den er für ursprünglicher hielt und über den Begriff der Dauer zu fassen suchte. Edmund Husserl entwickelte eine Phänomenologie des Zeiterlebens in Erinnerung (Retention) und Erwartung (Protention), und Merlau-Ponty kritisierte die Vorstellungen einer metaphysischen, naturwissenschaftlichen sowie objektiven Zeit, indem er grundsätzlicher versuchte, über den Begriff der Zeit das Verhältnis des Subjekts zur Welt zu bestimmen.

Am einflussreichsten wurde Martin Heideggers Entwurf einer Existenzialontologie, die die „Seinsvergessenheit” der bisherigen Philosophie überwinden sollte. Bisher hätten Philosophen, so Heidegger, Sein immer vergegenständlicht als Seiendes begriffen und damit den ihm wesentlichen Charakter der Zeitlichkeit übersehen bzw. verstellt. Demgegenüber bestimmte Heidegger die fundamentale Zeitlichkeit des Daseins durch den Begriff der Sorge, d.h. des Vorgriffs auf die Zukunft, und sah hierin die Grundlage für alle weiteren Überlegungen zu Zeit und Geschichte.[13] Aus anderer Richtung, aber philosophisch kaum weniger einflussreich, kritisierte Walter Benjamin das Geschichtsbild des Historismus. Der Annahme eines Fortschritts bzw. auch nur eines „eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs” der Menschheit stellte er die messianische Vorstellung einer erfüllten „Jetztzeit” entgegen.[14] Auch in der zeitgenössischen Theologie und Religionsphilosophie erfuhr dieser Gedanke des „Kairos” eine Aufwertung, wie zum Beispiel bei Paul Tillich.[15]

Während im Zentrum all dieser philosophischen Überlegungen der Begriff der Zeit stand, hegten sprachanalytische Philosophen dem Substantiv gegenüber ein grundsätzliches Unbehagen. Nach Ludwig Wittgenstein beginnt der Fehler bereits, „wenn wir uns über die Beschaffenheit der Zeit den Kopf zerbrechen, wenn sie uns wie ein sonderbares Ding erscheint. [… Denn] es ist der Gebrauch des Substantives Zeit, der uns hinters Licht führt.”[16] Statt über die Zeit wie über einen Gegenstand nachzudenken, was zumeist in räumlichen Metaphern geschieht (sie „fließt”, „steht still”, „läuft” etc.), und dabei über ihre besonderen Qualitäten tiefsinnig zu werden, solle man sich vielmehr mit den konkreten zeitlichen Bestimmungen beschäftigen. Denn im Gegensatz zum unklaren und dunklen Substantiv seien Ausdrücke wie früher/später oder vergangen/gegenwärtig/zukünftig viel einfacher zu verstehen und zur sprachlichen Analyse geeignet.[17] Auch Historiker haben meist keine grundsätzlichen Probleme damit, frühere Ereignisse von späteren zu unterscheiden oder zu entscheiden, ob ein Ereignis im Verhältnis zu einem anderen zukünftig, gegenwärtig oder vergangen ist, und täten daher gut daran, diese sprachlichen Zusammenhänge in ihren Überlegungen zu Zeit und Zeitlichkeit in der Geschichte zu reflektieren, anstatt metaphernreich die besondere Qualität der historischen Zeit ergründen zu wollen.

Soziologie

Nach einer ersten Theoretisierungswelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Religionssoziologie, die sich mit Riten und Festkalendern beschäftigte, intensivierte sich die sozialwissenschaftliche Reflexion auf Zeit vor allem seit Anfang der 1970er- und noch einmal seit dem Ende der 1980er-Jahre, seitdem es mit „Time & Society und „KronoScope auch zwei Zeitschriften gibt, die dem Verhältnis von Zeit und Gesellschaft gewidmet sind.[18] Übereinstimmend lehnen Zeitsoziologen die Vorstellung einer natürlichen und homogenen Zeit ab und behandeln diese stattdessen als gesellschaftlich konstituiert: „As ordering principle, social tool for co-ordination, and regulation, as a symbol for the conceptual organisation of natural and social events, social scientists view time as constituted by social activity.”[19] Unterscheiden kann man jedoch eine stärker empirische Sozialforschung, die ganz konkrete Tages- und Zeitabläufe und ihre soziale Differenzierung untersucht, von eher sozialtheoretisch/-philosophisch angelegten Arbeiten, die sich allgemeiner mit dem Wandel der Zeit beschäftigen und dabei oft auch historische Thesen formulieren.[20]

Im zweiten Feld entwickelt Otthein Rammstedt ein weithin geteiltes Schema, demzufolge Zeitmessung und -wahrnehmung kulturabhängig sind: In einfachen, undifferenzierten Gesellschaften gebe es nur okkasionelle Zeitvorstellungen, die zwischen Jetzt und Nicht-Jetzt unterscheiden. In frühen ständisch differenzierten Gesellschaften bilde sich dann ein zyklisches Zeitbewusstsein aus, das in den funktional differenzierten Gesellschaften der Hochmoderne von einem linearen Zeitbewusstsein abgelöst werde.[21] Diese Beobachtungen erklärend, argumentiert Niklas Luhmanns Systemtheorie, dass die „Differenzierung von System und Umwelt Zeitlichkeit” produziere und komplexere Gesellschaftssysteme daher auch über differenzierte Zeitstrukturen verfügten. Dies fördere die Entstehung einer „Weltzeit”, die die Systemzeiten in abstrakter Form vermitteln könne.[22] Wenn Zeit aber nur in bestimmten Systemen denkbar ist, argumentiert Luhmann weiter, dann ist eine Geschichtsbetrachtung verfehlt, die die Vergangenheit als vergangene Gegenwarten betrachtet. Vielmehr müsse man „bei der historischen Erforschung vergangener Gegenwarten die damals gegenwärtige Zukunft und die damals gegenwärtige Vergangenheit mit berücksichtigen, also Dreifachmodalisierungen verwenden”.[23] Denn nur so werde der Charakter vergangener Zeiten sichtbar. Angesichts der Komplexitätssteigerung von Gesellschaften in der Moderne und der Tatsache, dass die offene Zukunft grundsätzlich geeigneter ist, Komplexität aufzunehmen, als die Vergangenheit, formuliert Luhmann die Hypothese, dass in der Moderne der Zukunftshorizont von Gesellschaften gegenüber ihren Vergangenheiten an Bedeutung gewinnt und die Zukunft zunehmend zum Medium gesellschaftlicher Selbstbeschreibung wird.[24]

Der Boom zeitsoziologischer Texte seit dem Ende der 1980er-Jahre resultierte vor allem aus der Wahrnehmung einer kommunikativen Verdichtung der Welt in der „Netzwerkgesellschaft” (Manuel Castells), die einerseits ein höheres Maß an globaler Gleichzeitigkeit zu schaffen schien, andererseits aber das Bewusstsein für zeitliche Differenzen und Ungleichzeitigkeiten zwischen verschiedenen Systemen schärfte.[25] Grundsätzlich vertreten soziologische Zeitdiagnosen seit den 1980er-Jahren vor allem zwei Thesen: Sie konstatieren eine „Beschleunigung” der Zeit und einen Verlust der Zukunft. So diagnostiziert Hermann Lübbe eine „modernitätsspezifische Zeitverknappung”, eine immer raschere Veränderung der Lebensverhältnisse bzw. eine Verpflichtung aufs Neue, die zu einer Musealisierung der Gegenwart und einer Hypertrophie der Vergangenheitsvergegenwärtigung führe.[26] Hartmut Rosa unterscheidet zwischen einer technischen Beschleunigung, einer Beschleunigung des Lebenstempos und einer Beschleunigung der sozialen und kulturellen Veränderungsraten, die eine zunehmende Desynchronisation von Alltagszeit, Lebenszeit und historischer Zeit bewirkten.[27] Schon Hans Blumenberg hatte im Auseinanderklaffen von „Lebenszeit und Weltzeit” eine elementare Modernitätserfahrung gesehen und in der Idee, sie wieder zusammenzuführen, ein Movens politischer Bewegungen im 20. Jahrhundert ausgemacht.[28]

Für Helga Nowotny haben die technologischen Entwicklungen der jüngsten Zeit vor allem im Bereich der Telekommunikation weniger zu einer Beschleunigung als vielmehr zu einer neuen Form weltweiter Gleichzeitigkeit geführt und damit zu einem „Erstrecken der Gegenwart”, die nun den Platz der vorher offenen Zukunft einnehme. Die Kehrseite dieser Entwicklung sei eine neue „Sehnsucht nach dem Augenblick und der Entdeckung der eigenen Zeitlichkeit”, der „Eigenzeit”.[29] Insofern Modernität und Modernisierung als Beschleunigung – oder mit einer einflussreichen Formulierung David Harveys als „time-space compression” – begriffen werden, registrieren auch alle Diagnosen eines Bruchs (in) der Moderne bzw. der Herausbildung einer „zweiten”, „flüssigen” „Post-” oder „Spätmoderne” eine noch weitergehende Beschleunigung und eine damit verbundene Desynchronisation der verschiedenen Zeiten innerhalb einer Gesellschaft.[30] In der seit den 1990er-Jahren inflationären Beschleunigungsliteratur ist die Grenze zwischen sozialwissenschaftlicher Analyse und feuilletonistischem Befindlichkeitsschrifttum oft fließend.[31] Letzteres gibt unzählige Belege für eine angebliche Beschleunigung der Zeit und fordert „Entschleunigungen”, ohne dass jedoch genau geklärt würde, was Be- und Entschleunigung überhaupt bedeuten soll.[32] Statt diese Begriffe in die eigene Beschreibungssprache zu übernehmen, bestünde eine Aufgabe der Zeitgeschichte gerade darin, sie als Zeitdeutungen selbst zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, ihre Konjunkturen zu erklären und ihre Bedeutung für das gegenwärtige Zeitbewusstsein auch in der Zeitgeschichtsschreibung zu bestimmen.

Zeit in der Zeitgeschichte

Auch wenn Historikerinnen und Historiker permanent über Veränderungen in der Zeit oder Veränderungen der Zeiten reden, steht die Zeit selbst doch eher selten im Fokus ihrer Überlegungen. Während in den letzten Jahren der Begriff des Raums im Zuge des spatial turn Gegenstand intensiver Debatten und auch theoretischer Reflexionen war, liegt das Nachdenken über die Zeit in der Geschichtswissenschaft etwas länger zurück und erfolgte auch nicht primär in der Zeitgeschichtsschreibung.[33] Zum einen wurde im Anschluss an Fernand Braudels Mittelmeer-Buch eine Theorie der historischen Zeiten diskutiert, die zwischen den fast unveränderlichen Phänomenen langer Dauer, der longue durée, zyklischen Bewegungen wie wirtschaftlichen Konjunkturen und kurzfristigen Ereignisabfolgen unterscheidet.[34] Vor allem der Begriff der „longue durée” – also eines langen Zeitraums mit sich nicht oder kaum wahrnehmbar wandelnden Strukturen, die die Bedingungen von Ereignisfolgen bilden – hat der Geschichtsforschung auch zu anderen Epochen neue Impulse gegeben.

Zum anderen war die Veränderung der Zeit und Zeitwahrnehmung ein zentraler Gegenstand von Reinhart Kosellecks Projekt einer historischen Semantik. Die von 1972 bis 1997 entstandenen Geschichtlichen Grundbegriffe sollen den Wandel der „Leitbegriffe der politischen Bewegung” erfassen und beschreiben damit zugleich ein „sich änderndes Verhältnis zu Natur und Geschichte, zur Welt und zur Zeit, kurz: den Beginn der ‚Neuzeit'”.[35] Einer ihrer wichtigsten Befunde ist die „Verzeitlichung” des politischen und sozialen Vokabulars, das heißt die Veränderung von Beschreibungskategorien zu „Ziel- und Erwartungsbegriffen” und die Entstehung von Begriffen, „die geschichtliche Zeit selber artikulieren” (z.B. Fortschritt, Entwicklung, Geschichte).[36] Der Untersuchungszeitraum der Geschichtlichen Grundbegriffe ist aber auf die sogenannte Sattelzeit um 1800 konzentriert, und das 20. Jahrhundert bzw. der Gegenstandsbereich der Zeitgeschichte kommen in den Artikeln allenfalls skizzenhaft in den kurzen „Ausblicken” am Ende vor. Auch für „Erfahrungsraum” und „Erwartungshorizont”, die immer wieder zitierten Zentralkategorien von Kosellecks Analyse geschichtlicher Zeit, ist unklar, wie sie sich auf die Zeitgeschichte übertragen lassen. Koselleck vertritt die Position, dass sich „in der Neuzeit die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert, genauer, daß sich die Neuzeit erst als eine neue Zeit begreifen läßt, seitdem sich die Erwartungen immer mehr von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfernt haben”.[37] Aber was geschieht mit Erfahrungsraum und Erwartungshorizont im 20. Jahrhundert? Entfernen sie sich immer weiter voneinander, bleiben sie einfach getrennt, nachdem sie einmal auseinandergetreten sind, oder nähern sie sich einander durch den Aufstieg wissenschaftlicher Prognose und Planung nicht im Gegenteil wieder an?[38]

Diese Fragen sind völlig offen, und angesichts der Vagheit der Begriffe sowie der Überlieferungsdichte im 20. Jahrhundert ist ungewiss, ob sie je eindeutig beantwortet werden können. Von den Studien, die sich explizit einer Geschichte der Zeit widmen, werden diese Probleme allerdings zumeist noch nicht einmal adressiert, auch wenn Kosellecks Begriffe omnipräsent sind. Statt einer systematischen Analyse der Zeit offerieren viele Arbeiten, die „Zeit” im Titel tragen und oft eine längere diachrone Perspektive haben, ein Sammelsurium von Beobachtungen über Zeittheorien, Zeitmessungen, Veränderungen von Tages- und Arbeitsabläufen sowie künstlerischen oder literarischen Werken zur Zeit.[39] Darüber hinaus gibt es unzählige impressionistische Befunde, die eine fundamentale Veränderung des Zeitbewusstseins oder einfach gleich „der Zeit” im Ersten Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg oder – im Anschluss an die oben zitierten Soziologen – im Übergang von der Moderne zur Postmoderne bzw. in der angeblichen Beschleunigung des Internetzeitalters und der „Netzwerkgesellschaft” lokalisieren. Obwohl auch Stephen Kerns Kulturgeschichte von Raum und Zeit im frühen 20. Jahrhundert einige dieser Probleme teilt, geht sie doch einen Schritt darüber hinaus, indem sie die Großkategorie „Zeit” auflöst und sich mit ihren Dimensionen, d.h. mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschäftigt.[40] Der Zeit als solcher widmen sich in instruktiver Weise vor allem Arbeiten aus der Intellectual History, der Wissenschafts- und Technikgeschichte sowie der Alltags- und Sozialgeschichte. Ihnen geht es allerdings jeweils in sehr verschiedenen Hinsichten um Zeit und Zeitvorstellungen.

Intellectual History/Wissenschafts- und Technikgeschichte

Zeit steht im Zentrum von Untersuchungen, die sich mit den oben zitierten Zeittheoretikern aus Philosophie und Soziologie sowie der Entwicklung des Geschichtsdenkens im 20. Jahrhundert beschäftigen, auch wenn es hier im traditionellen Stil der |Intellectual History oftmals eher um „Leben und Werk” großer Denker geht als um eine systematische Analyse der Verbreitung ihrer Zeitvorstellungen.[41] Darüber hinaus werden auch Zeitkonzeptionen in Literatur und bildender Kunst untersucht, wobei hier der Bezug auf Zeit – oder oft Zukunft – die Analyse meist nicht strukturiert, sondern ihr nur als metaphorischer Aufhänger dient.[42] Aus der Wissenschaftsgeschichte naturwissenschaftlicher Zeitauffassungen ist Peter Galisons Arbeit hervorzuheben, die die Entstehung der Relativitätstheorie zwischen abstrakten physikalischen Fragen und konkreten Methoden zur Uhrensynchronisation, deren Vorschläge auf Einsteins Tisch im Berner Patentamt landeten, nachzeichnet.[43] Auch darüber hinaus bilden die Vereinheitlichung der Zeit, die Innovation der Zeitmessung und die Ausbreitung der Uhr bzw. uhrzeitbestimmter Lebensweisen und technischer Innovationen, die das Zeitverständnis beeinflussten, wichtige historische Forschungsgegenstände, die aber bisher eher für frühere Epochen untersucht wurden.[44] Für die Zeitgeschichte ginge es darum, genauer als die soziologischen Diagnosen zu zeigen, welche Konsequenzen technologische Innovationen in den Bereichen Transport und Kommunikation für die Struktur und Wahrnehmung von Raum und Zeit im 20. Jahrhundert hatten.[45] Die auffälligen Häufungen zeitsoziologischer und zeitphilosophischer Schriften zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie an seinem Ende könnten hier Ausgangspunkte für die genauere Untersuchung des Verhältnisses von Transportmitteln, Kommunikationsmedien und Zeitvorstellungen bilden.

Sozial- und Kulturgeschichte

In „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus” definiert schon Max Weber in der Auseinandersetzung mit Benjamin Franklins Diktum, dass Zeit Geld sei, die rationelle Einteilung der Arbeitszeit und ihrer Abläufe als wesentlichen Grund für den Aufstieg des Kapitalismus.[46] Im frühen 20. Jahrhundert erreichte die Organisation der Arbeitsabläufe in der fordistischen Fließbandarbeit und ihrer tayloristischen Organisation eine neue Stufe, die sowohl wirtschafts- und kulturgeschichtlich als auch wissenschafts- und technikgeschichtlich untersucht werden kann.[47] Für die jüngere Zeitgeschichte stehen demgegenüber eher die Entwicklung des Verhältnisses von Arbeitszeit und Freizeit im wirtschaftlichen Boom der Nachkriegszeit sowie die Veränderung der Lebenszeit durch die Auflösung der „Normalerwerbsbiografie” im Vordergrund.[48] Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist die geschlechterspezifische Differenzierung der Zeiterfahrung in Hausarbeit und Erwerbstätigkeit sowie deren Veränderung bzw. Persistenz durch die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen.[49] All diese sozial- und alltagsgeschichtlichen Arbeiten können auf seit den 1920er-Jahren mehr oder weniger systematisch erstellte Umfragen und Erhebungen zurückgreifen, die einerseits reichhaltige Daten bereitstellen, andererseits aber für die Zeitgeschichte die Schwierigkeit mit sich bringen, eine eigenständige Position jenseits der sozialwissenschaftlichen Denkmuster zu formulieren.[50]

Dimensionen historischer Zeit und ihre Erforschung

Zahl- und auch ertragreicher als die historischen Arbeiten zur Zeit als solcher sind, wie die oben zitierten sprachphilosophischen Erwägungen erwarten lassen, Studien zu ihren Dimensionen, zu vergangenen Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften. Unabhängig davon, ob man sich dem linguistic turn verpflichtet fühlt oder nicht, erfordert die Untersuchung vergangener Zeitdimensionen zunächst einmal eine Beschäftigung mit ihren sprachlichen Ausdrucksformen: „Nicht Vergangenheit und Zukunft als solche sind wir nämlich bereit, als seiend anzusehen, sondern Zeitqualitäten, die in der Gegenwart existieren können, ohne daß die Dinge, von denen wir sprechen, wenn wir sie erzählen oder vorhersagen, noch oder schon existieren.”[51] Mit diesem Bezug auf Augustinus argumentiert Paul Ricœur, es gebe „keine zukünftige, keine vergangene und keine gegenwärtige Zeit, sondern eine dreifache Gegenwart, eine solche des Zukünftigen, des Vergangenen und des Gegenwärtigen”.[52] Da sich die temporale Auffächerung und Ausdifferenzierung der menschlichen Erfahrung wesentlich sprachlich vollzieht, müssen die Artikulationsformen der Zeitdimensionen im Mittelpunkt der Analyse stehen.[53] Vor allem die Historiografie zu vergangenen Vergangenheitsbezügen ist sehr breit. Um vergangene Gegenwarten geht es der Geschichtswissenschaft in gewissem Sinne immer, aber erst in jüngerer Zeit versuchen Studien, deren je spezifische Zeitlichkeit herauszuarbeiten. Genauso haben auch Untersuchungen der vergangenen Zukunft in den letzten Jahren zugenommen.

Vergangene Vergangenheit: Memoria, Erinnerung, Gedächtnis

Da sich die Geschichtswissenschaft mit der Vergangenheit unserer Gegenwart beschäftigt, tendieren Historikerinnen und Historiker auch bei der Untersuchung vergangener Zeitvorstellungen bzw. der mentalen Verfassung bestimmter Epochen dazu, deren Vergangenheitsbezug zu akzentuieren. Nicht zuletzt weil sie selbst professionelle Vergangenheitsdeuter sind, versuchen sie zu zeigen, dass und inwiefern der Bezug auf eine gemeinsame Vergangenheit „kollektive Identitäten” konstituiert habe. Sie untersuchen „erfundene Traditionen”[54] und deren Wirkung auf die Ausbildung und Entwicklung kollektiver Identitäten in der Neuzeit[55] oder erforschen Memorialkulturen bzw. das kollektive oder kulturelle Gedächtnis[56] und seine „Erinnerungsorte”.[57] Der Vergangenheitsorientierung des Faches Rechnung tragend, enthält auch die Docupedia-Zeitgeschichte gleich mehrere Artikel zu vergangenen und gegenwärtigen Vergangenheitsbezügen, die diese Fragen ausführlich mit weiteren Literaturverweisen behandeln.[58]

Vergangene Gegenwart: Jahre und Brüche

Während es gerade in der Zeitgeschichte im Unterschied zu den früheren Epochen schon immer viele Arbeiten gab, die sich auf kleine und kleinste Zeiträume konzentrieren,[59] ist diese zeitliche Fokussierung erst jüngst als Möglichkeit begriffen worden, klassische historische Erzählformen und die damit verbundenen Zeitvorstellungen zu überwinden. Hans Ulrich Gumbrecht entwirft in seinem Buch über 1926 ein „Jahr am Rande der Zeit”, das nicht mehr in klassischen Narrativen, sondern nur noch in der Vielfalt kleiner Episoden und Aspekte zu erfassen sei.[60] Ähnliches gilt, wenn auch nicht ganz so konsequent, für Andreas Killens Studie über 1973.[61] Auch wenn sie sich mit einem etwas längeren Zeitraum beschäftigt, versucht doch auch Martin Geyers Arbeit über München von 1914 bis 1924, diese Phase des Umbruchs nicht zuletzt darüber zu erfassen, wie sich das Verhältnis der Menschen zur Zeit, wie sich ihre Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft änderten.[62] Wo die Forschung zu den sogenannten Schlüsseljahren der Zeitgeschichte – den Zäsuren[63] und Umbrüchen von 1917, 1918, 1933, 1945, 1968, 1989 etc. – über das Nacherzählen beschleunigter Ereignisfolgen hinausgeht, indem sie die Veränderung der Vergangenheits- und Zukunftsbezüge herausarbeitet, hat sie das Potenzial, den Zeitcharakter der jeweiligen historischen Gegenwarten sichtbar zu machen. Gerade der abrupte politische Systemumbruch zerstört Erfahrungsräume und Zukunftshorizonte gleichermaßen und suspendiert damit quasi die Zeit. Bis eine neue Ordnung an die Stelle der alten tritt, werden Zeitvorstellungen in stärkerem Maße reflexiv und damit auch der historischen Analyse zugänglich.[64]

Vergangene Zukunft: Utopien, Prognosen und Planungen

Trotz des stärkeren Vergangenheitsbezugs hat die deutsche Geschichtswissenschaft die „vergangene Zukunft” keineswegs vergessen. Bereits 1962 widmete sich ein Historikertag dem Thema Zukunft, und mit Karl Dietrich Erdmann und Reinhard Wittram argumentierten zwei Historiker, die nicht eben im Verdacht stehen, jeder Mode hinterhergelaufen zu sein, die Zukunft sei eine Zentralkategorie der Geschichte und „das Element Zukunft, die Zukunft selbst [sei] aus keiner historischen Betrachtung auszuschließen”.[65] Historische Zukunftsforschung dient einerseits dazu, der klassischen historistischen Forderung nachzukommen, jede Epoche aus sich selbst heraus und das heißt vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Zukunftshorizonts zu verstehen, um so Handlungen und Entscheidungen richtig einzuschätzen.[66] Andererseits kann sie im Sinne Kosellecks zum Verständnis und zur Analyse historischer Zeitvorstellungen beitragen.[67] In beiden Feldern gibt es einerseits Arbeiten, die sich stärker auf den Inhalt der Zukunftsvorstellungen konzentrieren, und andererseits solche, denen es eher darum geht, die Haltungen und Einstellungen zur Zukunft bzw. den Modus der Zukunftsaneignung herauszuarbeiten.[68]

Der Inhalt der Zukunftsvorstellungen steht bei Arbeiten im Zentrum, die im Stil der Utopiegeschichtsschreibung die Entwicklung eines bestimmten literarischen Genres, sei es der positiven oder der negativen Zukunftsliteratur, nachvollziehen und dabei oftmals eher impressionistischen Charakter haben. Neben Utopien[69] geht es Arbeiten zur vergangenen Zukunft beispielsweise um Prophetien[70], Science Fiction[71], Architekturvisionen und Verkehrsplanungen[72], Technik[73] und Raumfahrt[74], Apokalypsen[75], Chiliasmen[76] und Umweltängste[77], aber auch die Zukunftsvorstellungen von Parteien und Verbänden werden genauer untersucht und auf ihre Überzeugungskraft hin befragt.[78] Arbeiten zu den Formen der Zukunftsaneignung konzentrieren sich demgegenüber auf den Modus des Redens und Nachdenkens über die Zukunft (Utopie, Prognose, Planung etc.) und dessen Veränderung sowie auf das Verhältnis von Optimismus/Pessimismus, Kontinuität und Bruch, die zeitlichen Dimensionen der Erwartung und den Grad des Gestaltbarkeitsbewusstseins.[79] Intensiv diskutiert wurde in diesem Zusammenhang vor allem der Aufstieg der Planung im 20. Jahrhundert, der als systemübergreifendes Signum einer Verwissenschaftlichung des Sozialen und der Politik gilt, wobei die Frage offen ist, ob die Zeit der Planung in den 1970er-Jahren endete oder ob sie, in welcher Form auch immer, bis in die Gegenwart fortdauert.[80] Gemeinhin gelten zudem vor allem die 1950er- und 1960er-Jahre in den westlichen Gesellschaften als eine Phase der Zukunfts- und Gestaltungseuphorie, die sich nicht zuletzt im Boom der Zukunftsforschung geäußert habe, dann aber in der Krise der 1970er-Jahre zerbrochen sei und seit den 1980er-Jahren kurzfristigeren und pragmatischeren Zukunftsaneignungen Platz gemacht habe.[81] Eine systematische und empirische Überprüfung dieser schon von den Zeitgenossen formulierten These, die zudem zur zeitgleichen Entkirchlichung und zum Verlust religiöser Deutungsmuster und Zeitvorstellungen zu relationieren wäre, steht noch aus. Das Gleiche gilt für die Auffassung, dass nach 1989 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks auch die grundsätzliche Alternative zum Modell westlicher Demokratien zerbrochen sei und sich damit ihr Zukunftshorizont geschlossen habe, wenn nicht gar argumentiert wird, die Geschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit im Sinne Hegels sei an ihr Ende gekommen.[82]

Fazit

Die Strukturen langer Dauer, Wirtschaftszyklen, politische Brüche und soziale oder kulturelle Entwicklungen, mit denen sich Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker beschäftigen, vollzogen sich nicht in einer gleichförmigen und homogenen Zeit, sondern sie konstituierten erst die Zeit, die damit auch Gegenstand der Zeitgeschichte in einem starken Sinn ist. Einen Wandel eben dieser Zeit diagnostizierten im 20. Jahrhundert bereits Sozialwissenschaftler und Philosophen, sei es als eine weitere Steigerung der modernitätsspezifischen Beschleunigung, als time-space compression, als Desynchronisation von Alltagszeit, Lebenszeit und Weltzeit oder als Verlust der Zukunft und Ausdehnung der Gegenwart. Die zentrale Aufgabe einer Zeitgeschichte als einer Geschichte unserer Zeit besteht darin, diese Deutungen nicht einfach zu reproduzieren, sondern sie vielmehr zu historisieren und zugleich als Faktoren in den Wandel der Zeit miteinzubeziehen. Hierzu können wissenschafts- und technikhistorische Arbeiten zur Zeittheorie und -messung, die noch nicht im gleichen Umfang wie zu früheren Epochen vorliegen, genauso beitragen wie sozial- und alltagsgeschichtliche zu den sozial differenzierten Veränderungen des Umgangs mit der Zeit bzw. des Verhältnisses von Arbeitszeit und Freizeit. In diskurs- und ideengeschichtlichen Arbeiten könnten und sollten sozialwissenschaftliche wie feuilletonistische Zeitdeutungen untersucht und ihre Wirkungen auf das Zeitverständnis abgeschätzt werden.

Aller Voraussicht nach wird am Ende dieser Untersuchungen keine einheitliche Geschichte der „Zeit” im 20. Jahrhundert oder in der Zeitgeschichte stehen, und auch Kosellecks Kategorien „Erfahrungsraum” und „Erwartungshorizont” oder die vielfältigen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Moderne/Postmoderne Deutungen werden sich als zu allgemein erweisen, um die Ausdifferenzierung verschiedener Zeiten, Zeitverhältnisse und Zeiterfahrungen in der Zeitgeschichte zu erfassen. Schon allgemeine Periodisierungen einer Geschichte der Zeit sind schwer vorstellbar, weil sie deren sozialen Charakter unterbelichten und ein bestimmtes Verständnis der Zeit voraussetzen, deren Variabilität doch gerade Gegenstand der Untersuchung sein sollte. Vielversprechender als die Untersuchung der Zeit als solcher erscheint demgegenüber die Beschäftigung mit ihren Dimensionen, der je verschiedenen Gestalt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ihrem Wechselverhältnis zueinander. Damit eröffnen sich beim gleichzeitigen Verzicht auf eingängige Großkategorien und -periodisierungen weite Frage- und Forschungshorizonte, die sich durch die Offenheit und Unabgeschlossenheit der Zeitgeschichte noch einmal vergrößern und nur empirisch gefüllt werden können. Zeit und Zeitkonzeptionen sind in der Zeitgeschichte nicht zuletzt deshalb offener und vielgestaltiger, weil ihre Zukunft unbekannter ist als die Zukunft weiter zurückliegender Epochen. Dass das Verständnis unserer Zeit und unser Zeitverständnis morgen revidiert werden könnten, macht ihre Erforschung aber nicht überflüssig, sondern im Gegenteil umso dringender.

Empfohlene Literatur zum Thema

Jan Assmann, Zeit, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, S. 1186–262.

Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1989, ISBN 9783518064108.

Niklas Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. VS Verlag, Wiesbaden 2005, ISBN 9783531612812, S. 128-66.

Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005, ISBN 9783518293607.

Walther Ch. Zimmerli, Mike Sandbothe (Hrsg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007, ISBN 9783534191994.

Zitation
Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, URL: http://docupedia.de/zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen_Version_2.0_R.C3.BCdiger_Graf

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Anmerkungen

    1. Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1-8, hier S. 2; Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zur Zeitgeschichte, in: Victor Conzemius (Hrsg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte. Referate der internationalen Tagung in Hünigen/Bern (Schweiz) 1985, Göttingen 1988, S. 17-31.
    2. Brockhaus Enzyklopädie Online, online unter http://www.brockhaus-enzyklopaedie.de/index.php.
    3. Zur Theorie historischer Zeiten siehe grundlegend Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989; siehe auch Jörn Rüsen, Typen des Zeitbewusstseins. Sinnkonzepte des geschichtlichen Wandels, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. I: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2004, S. 365-384; Jörn Rüsen (Hrsg.), Zeit deuten. Perspektiven, Epochen, Paradigmen, Bielefeld 2003.
    4. Pitirim A. Sorokin/Robert K. Merton, Social Time: A Methodological and Functional Analysis, in: American Journal of Sociology 42.5 (1937), S. 615-629.
    5. Siehe zum Verhältnis der Zeitgeschichte zu den Nachbardisziplinen Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), Heft 4, S. 1-30.
    6. Peter Janich, Artikel Zeitmessung, VII. Zeit in der Physik, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Darmstadt 2004, S. 1244-1249, hier S. 1246.
    7. Albert Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, in: Annalen der Physik 17 (1905), S. 891-921.
    8. Das heißt zwei Bezugs- oder Koordinatensysteme, in denen die Gesetze der newtonschen Mechanik gelten.
    9. Peter Galison, Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit, Frankfurt a.M. 2003.
    10. Zur Kritik daran siehe auch Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005, S. 65.
    11. Artikel: Zeitmessung, in: Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bänden, Bd. 30, Leipzig/Mannheim 2006, S. 499-501.
    12. Dazu und zum Folgenden ausführlicher und mit Literaturhinweisen Ralf Beuthan/Mike Sandbothe, Artikel: Zeit. 19. und 20. Jahrhundert von Kant bis zur Gegenwart, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Darmstadt 2004, S. 1234-1244.
    13. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 15., durchges. Aufl., Tübingen 1979.
    14. Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a.M. 1978, S. 78-94.
    15. Paul Tillich, Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswendung, Darmstadt 1929.
    16. Ludwig Wittgenstein, Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung (Das braune Buch), Frankfurt a.M. 1984, S. 22.
    17. Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs, Frankfurt a.M. 1972; siehe auch den klassischen Aufsatz von John und Ellis McTaggart, „Die Irrealität der Zeit“ (1908), der zusammen mit anderen zeitphilosophischen Texten des 20. Jahrhunderts wieder abgedruckt ist in Walther Ch. Zimmerli/Mike Sandbothe (Hrsg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, 2. Aufl., Darmstadt 2007, S. 67-86.
    18. Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981; Werner Bergmann, The Problem of Time in Sociology: An Overview of the Literature on the State of Theory and Research on the ‘Sociology of Time’, 1900-82, in: Time & Society 1 (1992), H. 1, S. 81-134; Gilles Pronovost, The Sociology of Time, London 1989, S. 92. Schon seit 1972 trifft sich die International Society for the Study of Time regelmäßig zu Kongressen, die in Tagungsbänden einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
    19. Barbara Adam, Time and Social Theory, Cambridge 1990, S. 42; siehe auch dies., Timewatch. The Social Analysis of Time, Cambridge 1995, S. 5; dies., Time, Cambridge 2004.
    20. Siehe zu den Fragestellungen und Methoden der Ersteren: Jack Goody, Time. Social Organization, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 16, New York 1968, S. 30-37; Jonathan Gershuny, Time-use. Research Methods, in: Neil J. Smelser/Paul Baltes (Hrsg.), International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Bd. 23, Amsterdam 2001, S. 15752-15756; Wendy E. Pentland, Time Use Research in the Social Sciences, New York 1999.
    21. Otthein Rammstedt, Alltagsbewußtsein von Zeit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 27 (1975), S. 47-63.
    22. Niklas Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und Strukturen gesellschaftlicher Systeme [1975], in: Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1991, S. 103-133, hier S. 107f., 111.
    23. Ebd., S. 112.
    24. Ebd., S. 122: „Vielmehr wechselt der Zeithorizont, der die Selektivität der Gegenwart primär steuert. Es ist nicht mehr vergangene, sondern künftige Selektivität, auf die bei gegenwärtiger Verhaltenswahl hauptsächlich geachtet wird. Die Gegenwart versteht sich als Vergangenheit künftig-kontingenter Gegenwarten und wählt sich selbst als Vor-Auswahl im Rahmen künftiger Kontingenz.“ Siehe auch Niklas Luhmann, Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980, S. 235-300; Niklas Luhmann, Die Beschreibung der Zukunft, in: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 129-147; Niklas Luhmann, The Future Cannot Begin. Temporal Structures in Modern Society, in: Social Research 43 (1976), S. 152.
    25. Robert Hassan/Ronald E. Purser, Introduction, in: dies. (Hrsg.), 24/7. Time and Temporality in the Network Society, Stanford 2007, S. 1-24, hier S. 2, 12. Siehe auch J. Bender/D. Wellbery (Hrsg.), Chronotypes. The Construction of Time, Stanford 1991; Graham Crow/Sue Heath (Hrsg.), Social Conceptions of Time. Structure and Process in Work and Everyday Life, Houndmills, Basingstoke 2002.
    26. Hermann Lübbe, Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Graz 1983; Hermann Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin/New York 1992, S. V, 22.
    27. Rosa, Beschleunigung, S. 16, 44-46.
    28. Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M. 1986.
    29. Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a.M. 1989, S. 8-16.
    30. David Harvey, The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Malden Mass. 2004; Rosa, Beschleunigung, S. 49-50, fasst die Position so zusammen, „dass die in der Moderne konstitutiv angelegte soziale Beschleunigung in der ‚Spätmoderne‘ einen kritischen Punkt übersteigt, jenseits dessen sich der Anspruch auf gesellschaftliche Synchronisation und soziale Integration nicht mehr aufrechterhalten lässt“.
    31. Thomas Hylland Eriksen, Tyranny of the Moment. Fast and Slow. Time in the Information Age, London 2001; Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt a.M. 2004; Oliver D. Bidlo, Rastlose Zeiten. Die Beschleunigung des Alltags, Essen 2009.
    32. Siehe zum Beispiel Fritz Reheis, Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus, München 2006, oder Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik, Zeit für Zeitpolitik, Bremen 2003. Zur grundsätzlichen Problematik der Beschleunigung Reinhart Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, in: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, S. 150-177.
    33. Siehe aber jetzt Martin Sabrow, Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012.
    34. Fernand Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée, in: Marc Bloch u.a. (Hrsg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a.M. 1987, S. 47-85; Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Frankfurt a.M. 1994.; siehe zur Begriffsgeschichte der langen Dauer auch Ulrich Raulff, Der unsichtbare Augenblick, Göttingen 2000, S. 13-49.
    35. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972ff., S. XIII-XXVII, hier S. XV.
    36. Ebd., S. XVI f.
    37. Reinhart Koselleck, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Zwei historische Kategorien, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 349-375, hier S. 359.
    38. Siehe dazu auch die Überlegungen von: Christian Geulen, Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010), H. 1, online unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geulen-1-2010.
    39. Angela Schwarz, Wie uns die Stunde schlägt. Zeitbewußtsein und Zeiterfahrungen im Industriezeitalter als Gegenstand der Mentalitätsgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 83 (2001), S. 451-479. Wolfgang Kaschuba, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt a.M. 2004.
    40. Stephen Kern, The Culture of Time and Space 1880-1918, Cambridge, Mass 1983.
    41. Siehe als Beispiele John Farrenkopf, Prophet of Decline. Spengler on World History and Politics, Lousiana 2001; Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft, Berlin 1997; Anson Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment, Berkeley/Los Angeles/London 1997; Wolfgang Bialas, Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht im Übergang zu einer Teleologie der Apokalypse. Die Frankfurter Schule und die Geschichte, Frankfurt a.M. 1994; George L. Mosse, Death, Time, and History, in: Masses and Man, New York 1980, 69-86. Hier wie im weiteren Verlauf dieses und des nächsten Abschnitts ist die Literatur zu umfangreich, als dass sie auch nur annähernd vollständig aufgenommen werden könnte, weshalb ich mich auf ausgewählte Beispiele beschränke.
    42. Peter Conrad, Modern Times, Modern Places. Life & Art in the 20th Century, London 1999.
    43. Galison, Einsteins Uhren.
    44. Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München/Wien 1992; Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1979; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2008.
    45. Dazu eher impressionistisch Kaschuba, Überwindung der Distanz.
    46. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 1996, S. 13-14; E. P. Thompson, Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism, in: Past and Present 38 (1967), S. 56-97.
    47. Zur Rezeption in Deutschland und Europa siehe Charles S. Maier, Between Taylorism and Technocracy. European Ideologies and the Vision of Productivity in the 1920s, in: Journal of Contemporary History 5 (1970), S. 27-51; Mary Nolan, Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, New York/Oxford 1994; Rüdiger Hachtmann, Ein Kind der Ruhrindustrie? Die Geschichte des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Arbeitsphysiologie von 1913 bis 1945, in: Westfälische Forschungen 60 (2010), S. 155-192.
    48. Axel Schildt, „Mach mal Pause!“ Freie Zeit, Freizeitverhalten und Freizeitdiskurse in der westdeutschen Wiederaufbaugesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 33 (1993), S. 357-406; Detlef Siegfried, Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 33-43; Andreas Wirsching, Konsum statt Arbeit? Individualität in der modernen Massengesellschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), S. 171-200.
    49. Siehe einführend Martina Kessel (Hrsg.), Zwischen Abwasch und Verlangen. Zeiterfahrungen von Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, München 1995, oder zum Beispiel Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948-1969, Göttingen 1999.
    50. Siehe zum Beispiel Alf Lüdtke (Hrsg.), Mein Arbeitstag, mein Wochenende. Arbeiterinnen berichten von ihrem Alltag 1928, Hamburg 1991; Manfred Garhammer, Wie Europäer ihre Zeit nutzen. Zeitstrukturen und Zeitkulturen im Zeichen der Globalisierung, Berlin 1999; und Erlend Holz, Zeitverwendung in Deutschland. Beruf, Familie, Freizeit, Stuttgart 2000.
    51. Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, München 1988, S. 22.
    52. Ebd., S. 99.
    53. Ebd., S. 87.
    54. Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.
    55. Steffen Bruendel (Hrsg.), Kollektive Identität, Berlin 2000; Bernhard Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität, Frankfurt a.M. 1991; Helmut Berding (Hrsg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt a.M. 1994; ders. (Hrsg.), Mythos und Nation, Frankfurt a.M. 1996.
    56. Grundlegend dazu Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985 [1. Aufl., Frankreich 1925]; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997.
    57. Hagen Schulze/Etienne François (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001.
    58. Siehe den Beitrag von Christoph Cornelißen über Erinnerungskulturen in diesem Band sowie Sabine Moller, Erinnerung und Gedächtnis, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 12. 4.2010, online unter http://docupedia.de/zg/Erinnerung_und_Gedächtnis.. Weitere Beiträge über „Gedächtnisorte“ und „Geschichtsbewusstsein und Zeitgeschichte“ sind geplant.
    59. Siehe zum Beispiel: Henry Ashby Turner, Hitler's Thirty Days to Power. January 1933, Reading, Mass 1996.
    60. Hans Ulrich Gumbrecht, In 1926. Living at the Edge of Time, Cambridge, Mass 1997.
    61. Andreas Killen, 1973 Nervous Breakdown. Watergate, Warhol, and the Birth of Post-Sixties America, New York, NY 2006.
    62. Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914 - 1924, Göttingen 1998.
    63. Vgl. den Beitrag von Martin Sabrow in diesem Band.
    64. Volker Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007, S. 129; Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987. Als Beispiel zur Russischen Revolution Richard Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York 1989. Siehe zur Bedeutung des Bruchs von 1945 für das Zeitverständnis der Zeitgeschichte Martin H. Geyer, Im Schatten der NS-Zeit. Zeitgeschichte als Paradigma einer (bundes-)republikanischen Geschichtswissenschaft, in: Alexander Nützenadel/Wolfgang Schieder (Hrsg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004, S. 25-53. Als Beispiele für Jahresforschung, die das hier skizzierte Potenzial allerdings nicht immer realisiert Martin Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990; Gerd-Rainer Horn/Padraic Kenney (Hrsg.), Transnational Moments of Change. Europe 1945, 1968, 1989, Lanham Md. 2004; Dietrich Papenfuß (Hrsg.), Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert. Tagungsbeiträge eines Symposiums der Alexander-von-Humboldt-Stiftung Bonn- Bad Godesberg, veranstaltet vom 14. - 18. März 1999 in Bamberg, Köln 2000.
    65. Karl Dietrich Erdmann, Die Zukunft als Kategorie der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 198 (1964), S. 44-61; Reinhard Wittram, Zukunft in der Geschichte. Zu Grenzfragen zwischen Geschichtswissenschaft und Theologie, Göttingen 1966, S. 6.
    66. Leopold Ranke, Vorrede zu den ‚Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535‘ (1824), in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 42-46.
    67. Lucian Hölscher, Zukunft und Historische Zukunftsforschung, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften I: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2004, S. 401-416; Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999.
    68. Siehe zu dieser Unterscheidung Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2008.
    69. Susan Buck-Morss, Dreamworld and Catastrophe. The Passing of Mass Utopia in East and West, Cambridge/Mass. 2000; Michael D. Gordin/Gyan Prakash/Helen Tilley, Utopia/Dystopia. Conditions of Historical Possibility, Princeton 2010; siehe auch allgemein George Thomas Kurian (Hrsg.), Encyclopedia of the Future, New York 1996.
    70. Enno Bünz (Hrsg.), Der Tag X in der Geschichte. Erwartungen und Enttäuschungen seit tausend Jahren, Stuttgart 1997.
    71. Peter S. Fisher, Fantasy and Politics. Visions of the Future in the Weimar Republic, Madison 1991; Roland Innerhofer, Deutsche Science Fiction 1870-1914. Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung, Wien 1996.
    72. Wolfgang Voigt, Atlantropa. Weltbauen am Mittelmeer. Ein Architektentraum der Moderne, Hamburg 1998; Hans-Liudger Dienel/Helmuth Trischler (Hrsg.), Geschichte der Zukunft des Verkehrs. Verkehrskonzepte von der frühen Neuzeit bis zum 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997; Ralf Roth/Karl Schlögel, Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2009; Wolfgang Nerdinger, Architekturutopie und Realität des Bauens zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 269-286.
    73. Dirk van Laak, Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999.
    74. Alexander Geppert (Hrsg.), Imagining Outer Space. European Astroculture in the Twentieth Century, Basingstoke/New York 2012.
    75. Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988; Eugen Weber, Apocalypses. Prophecies, Cults and Millennial Beliefs through the Ages, Cambridge/Mass. 1999.
    76. Richard Landes, Encyclopedia of Millennialism and Millennial Movements, New York 2000.
    77. Frank Uekötter/Jens Hohensee (Hrsg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Stuttgart 2004.
    78. Siehe zum Beispiel Lucian Hölscher, Die verschobene Revolution. Zur Generierung historischer Zeit in der deutschen Sozialdemokratie vor 1933, in: Hardtwig, Utopie und politische Herrschaft, S. 219-231; Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998.
    79. Graf, Zukunft, S. 27-33.
    80. Dirk van Laak, Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 34 (2008), S. 305-326; Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen 2005; Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005; Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22 (1996), S. 165-193.
    81. Alexander Schmidt-Gernig, Die gesellschaftliche Konstruktion der Zukunft. Westeuropäische Zukunftsforschung und Gesellschaftsplanung zwischen 1950 und 1980, in: WeltTrends 18 (1998), S. 63-84; ders., Ansichten einer zukünftigen Weltgesellschaft. Westliche Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre als Beispiel einer transnationalen Expertenöffentlichkeit, in: Hartmut Kaelble (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2002, S. 393-421; Elke Seefried, Experten für die Planung? „Zukunftsforscher“ als Berater der Bundesregierung 1966-1972/73, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 109-152.
    82. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992; zur Idee der Posthistorie siehe auch Lutz Niethammer/Dirk van Laak, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989.