Publikationsserver des Leibniz-Zentrums für
Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.

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Árpád v. Klimó

Ungarn – Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte

Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.08.2011
https://docupedia.de//zg/Ungarn_-_Zeitgeschichte_als_moderne_Revolutionsgeschichte

DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.286.v1

Artikelbild: Ungarn - Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte

2006: Plakatwettbewerb zum 50. Jahrestag der ungarischen Revolution von 1956 - Imre Nagy als Che Guevara

Der Beitrag von Árpád v. Klimó ist eine überarbeitete Version des 2004 erschienenen Artikels „Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte. Von der Geschichte der eigenen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiographie des 20. Jahrhunderts” und gibt einen nützlichen Einblick in das Verständnis der ungarischen Zeitgeschichte, vor allem in der Zeit zwischen 1945 und 1989. Warum die Geschichte der eigenen Zeit in Ungarn seit 1848 immer eine Revolutionsgeschichte war, weshalb eine moderne Zeitgeschichte erst nach 1989 entstehen konnte und welche Chancen sich aus dem EU-Beitritt 2004 ergeben haben, wird umfassend beleuchtet.
Ungarn - Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte

von Árpád v. Klimó

Im Jahr 2004 erschien mein Artikel „Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte. Von der Geschichte der eigenen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiographie des 20. Jahrhunderts”.[1] Der folgende Beitrag enthält eine leicht gekürzte und überarbeitete Version dieses Textes, da er, wie ich meine, weiterhin einen nützlichen Einblick in das Verständnis der ungarischen Zeitgeschichte, vor allem in der Zeit zwischen 1945 und 1989, vermittelt. Zunächst werde ich aber kurz darstellen, wie sich heute, sieben Jahre nach Publikation des Artikels, die Situation der ungarischen Zeitgeschichtsforschung darstellt. Das politische und gesellschaftliche Klima haben sich seit 2004 stark verändert, was sich bereits jetzt auf die institutionellen Rahmenbedingungen für zeithistorische Forschung auswirkt.

April 2010 – Sommer 2011: Ungarn im Umbruch

Den damaligen Beitrag, erschienen im Jahr des EU-Beitritts Ungarns, habe ich mit der Vermutung ausklingen lassen, dass sich die enge Beziehung zwischen Zeitgeschichte und Revolution – genauer: den unterschiedlichen Vorstellungen über revolutionäre Umbrüche – in der näheren Zukunft wahrscheinlich lockern werde. Dieser enge Zusammenhang war im Anschluss an die Revolution von 1848/49 entstanden und hatte sich nach 1918/19, 1945 und 1956 vertieft. Inzwischen sind erneut politische Veränderungen eingetreten, die besonders in der Sprache der politischen Parteien als dramatisch oder gar revolutionär bezeichnet werden.[2] Am 15. März 2010, einen Monat vor dem erdrutschartigen Wahlsieg seiner Partei Fidesz (Bund Junger Demokraten) in den Parlamentswahlen, sagte der damalige Oppositionsführer Viktor Orbán: „Wir, Ungarn des 21. Jahrhunderts, haben die Chance, bei den Wahlen am 11. April unsere eigene Revolution zu machen […]. Die kommenden Wahlen werden ‚unsere Revolution’ sein, welche die Nation wieder vereinigen und schnelle, vorhersehbare und verfassungsrechtliche und damit sichere Veränderungen bringen wird, ohne Verluste an Menschenleben.”[3]

Man könnte diese Äußerung als leere Wahlkampf-Rhetorik abtun und darauf verweisen, dass Orbán dies auf einer Veranstaltung zum Gedenken an die ungarische Revolution von 1848/49 sagte. Doch steckt meines Erachtens weit mehr dahinter: eine geschichtspolitische Grundüberzeugung, die viel über den derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Zustand Ungarns ausdrückt und uns helfen kann, die derzeitige Situation und damit auch die nähere Zukunft der ungarischen zeithistorischen Forschung besser zu verstehen. Und trotz der zitierten Äußerung des Ministerpräsidenten Viktor Orbán möchte ich an meiner früheren Hypothese festhalten, dass sich die Zeitgeschichte in Ungarn in Zukunft nicht mehr hauptsächlich mit revolutionären Umbrüchen befassen wird.

Dieser Überzeugung kommt man näher, wenn man die Frage stellt, was der heutige Regierungschef darunter versteht, wenn er von „unserer Revolution” spricht. Welche geschichtspolitischen Implikationen hat dies etwa in Bezug auf 1989 oder andere ungarische Erinnerungsorte wie etwa den Friedensvertrag von Trianon (1920), der 2010 ins Rampenlicht ungarischer Debatten geriet? Wie lässt sich der monumentale Erfolg von Fidesz nicht nur bei den Wahlen zum nationalen Parlament, sondern auch bei den darauffolgenden Regional- und Lokalwahlen erklären? Und schließlich: Welche Folgen hatten die politischen Veränderungen seit dem Wahlsieg von Fidesz für die Zeitgeschichtsforschung in Ungarn, was ist für die Zukunft zu erwarten?

Wenn Orbán von „unserer Revolution” spricht, dann will er damit auch sagen, dass 1989 keine Revolution gewesen sei – und tatsächlich spricht man im Allgemeinen von 1989 als „Systemwechsel” (rendszerváltás), während das Wort Revolution im Unterschied zur ehemaligen DDR oder zur ČSSR nicht verwendet wird. Vor allem drückt er damit aus, dass 1989 keine „ungarische” Revolution wie etwa der Aufstand von 1956 stattgefunden habe. In einem Beitrag, den die „Welt” am 5. Mai 2011 abdruckte, sprach Viktor Orbán von einer notwendigen „ungarischen Neugeburt” und den Problemen der Zeit seit 1989.[4] Dabei bediente er sich zweier Denkfiguren, welche die Vorstellungswelt von Fidesz prägen: Zum einen fand 1989 kein wirklicher Umbruch statt. Es wurden zwar eine Demokratie und entsprechende Institutionen etabliert, doch führten diese zu einer „Verunsicherung” der ungarischen Gesellschaft. Diese Entwicklung wird durch den Zwangscharakter und die Fremdheit des kommunistischen Systems erklärt, welches der ungarischen Gesellschaft ihre „Selbstachtung” genommen hätte.

Angesichts der blutigen Niederschlagung der Revolution von 1956 und der danach einsetzenden Entpolitisierung unter Kádár kann man diese Diagnose der Folgewirkung der Diktatur durchaus nachvollziehen. Andererseits war die Beziehung zwischen Kommunismus und Nationalismus nicht nur in Ungarn wesentlich komplexer, als von Orbán behauptet.[5] Zugleich ist die Kritik an der Entwicklung der postkommunistischen Zeit eng verknüpft mit einer Kritik am „Westen”. Das Reden über eine „Neugeburt Ungarns” betont das nationale Moment und unterstreicht, dass die Veränderungen von nun an nicht einem „fremden”, „östlichen” oder „westlichen” Modell folgen, sondern aus Ungarn selbst kommen.

Die Kritik am Westen und der Wille, einen eigenen, ungarischen Weg zu gehen, kann auch erklären, warum 2010 das Jubiläum des Friedensvertrags von Trianon (1920) eine so zentrale Rolle einnahm.[6] Der Vertrag teilte das Territorium des 1918 aus der Habsburgermonarchie ausgeschiedenen ungarischen Königreichs auf die Nachfolgestaaten auf, wobei nur etwa ein Drittel des Gebiets Ungarn zugesprochen wurde und erhebliche ungarische Minderheiten in Rumänien, der Tschechoslowakei und Jugoslawien verblieben. Ministerpräsident Orbán erklärte zum 90. Jahrestag des Vertrags den 4. Juni zu einem „Tag der nationalen Einheit”, an dem sich „alle Landsleute in der Region an die größte Tragödie Ungarns im 20. Jahrhundert” erinnern sollten. Damit sprach er für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung: Ende 2007 bezeichneten in einer repräsentativen Umfrage 80 Prozent der Befragten Trianon als ein „historisches Unrecht”.[7] Der Erinnerungsort Trianon kann als Teil eines derzeit in Ungarn auf große Resonanz stoßenden Geschichtsnarrativs verstanden werden. Weitere Referenzpunkte dieser die Nation als Opfer stilisierenden Meistererzählung sind die niedergeschlagene Revolution von 1956 und der inzwischen ebenfalls zunehmend negativ gedeutete Systemwechsel von 1989.

Warum ist eine dem Westen ambivalent gegenüberstehende Geschichtspolitik derzeit in Ungarn so populär? Vergleicht man Ungarn mit Polen und Tschechien, zeigen sich deutliche Unterschiede: Sowohl in Polen als auch in Tschechien werden die Ereignisse um 1989 und die Jahrzehnte seither wesentlich positiver betrachtet, ebenso wie die Mitgliedschaft in der Europäischen Union von Ungarn negativer bewertet wird.[8] Das liegt zum einen an der deutlich besseren wirtschaftlichen Entwicklung Polens und Tschechiens vor allem im letzten Jahrzehnt. Außerdem sind in Polen und Tschechien im Unterschied zu Ungarn pro-westliche Geschichtsnarrative etabliert, in die die Ereignisse von 1989 in eine Reihe mit denen von 1945 und auch der Zeit davor eingeordnet werden können: Im Zweiten Weltkrieg waren Polen und Tschechien von Beginn an Opfer der deutschen Aggression, während Ungarn an der Seite des Deutschen Reichs gegen die nach dem Ersten Weltkrieg etablierte Friedensordnung kämpfte – gegen jene Friedensordnung, die gerade das unabhängige Polen und die Tschechoslowakei ermöglicht hatte.

Andererseits sollten die Unterschiede zwischen Ungarn, Polen und Tschechien nicht überbewertet werden. Auch in Polen und in Tschechien gibt es starke anti-europäische Strömungen, die derzeit jedoch nicht mehrheitsfähig sind. Die Ablehnung der Europäischen Union stellt in Ungarn aktuell eine Momentaufnahme dar, die sich durchaus bald wieder ändern kann und die sich tendenziell fast in der gesamten EU beobachten lässt. Die momentane, von anti-westlichen und anti-europäischen Tendenzen begleitete Stimmung in Ungarn erklärt aber auch den monumentalen Erfolg von Fidesz bei den Wahlen von 2010. Der Wahlsieg war vor allem Ausdruck einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit dem Funktionieren des seit 1989 bestehenden demokratischen Systems und dem Einfluss des „Westens”.

Welche Folgen hatten die politischen Veränderungen seit dem Wahlsieg von Fidesz bisher für die Zeitgeschichtsforschung in Ungarn, und was ist für die Zukunft zu erwarten? Wie in meinem Beitrag von 2004 bereits angedeutet, erwarte ich weiterhin ein Ende des Booms der Zeitgeschichte, wie er in den 1990er-Jahren einsetzte. Möglicherweise haben wir diesen Boom sogar schon hinter uns. Die neue Regierung, die von einer großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird, hat diese Abkehr von der Zeitgeschichte sogar in der neuen, 2012 in Kraft tretenden ungarischen Verfassung verankert. Das „Neue Grundgesetz” soll „ein Vertrag zwischen den Ungarn der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft” sein: „Ein lebendiger Rahmen, der den Willen der Nation ausdrückt, die Form, in der wir leben möchten.”[9] Dem eigentlichen Grundgesetz vorangestellt ist das „Nationale Glaubensbekenntnis”, das Richtschnur für die Bestimmungen des Grundgesetzes sein soll (Art. R, UGG). Das „Neue Grundgesetz” verbindet unterschiedliche Ideen: Einerseits wird Ungarn als Teil der Europäischen Union beschrieben (Art. E, UGG), und Teile des europäischen Rechts sind im Grundgesetz enthalten. Andererseits, und dies wird auch im „Nationalen Glaubensbekenntnis” festgehalten, verpflichtet sich die „ungarische Nation” (bzw. die Zweidrittel-Mehrheit des Parlaments), zu ihrer alten, „historischen Verfassung” zurückzukehren.[10] Damit rückt die tausendjährige Geschichte Ungarns in den Mittelpunkt des ungarischen Staats. Zugleich wird die Zeitgeschichte, insbesondere die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht als Teil des Erbes verstanden, während aber 1956 ausdrücklich bejaht wird: „Wir anerkennen nicht die Rechtskontinuität der kommunistischen Verfassung aus dem Jahre 1949, weil sie die Grundlage einer tyrannischen Herrschaft war, deswegen erklären wir deren Ungültigkeit. Wir sind mit den Abgeordneten der ersten freien Landesversammlung einverstanden, die in ihrem ersten Beschluss erklärt haben, dass unsere heutige Freiheit aus unserer Revolution von 1956 hervorging. Wir rechnen die Wiederherstellung der am 19. März 1944 verlorenen staatlichen Selbstbestimmung unserer Heimat ab dem 2. Mai 1990, die Konstituierung der ersten frei gewählten Volksvertretung. Diesen Tag betrachten wir als Anfang der neuen Demokratie und verfassungsmäßigen Ordnung unserer Heimat.”[11]

Hier wird wieder die zwiespältige Haltung gegenüber den Ereignissen von 1989/90 deutlich. Die Bestimmungen des „Nationalen Glaubensbekenntnisses” und ihre Bedeutung werden Verfassungsjuristen in Ungarn jedenfalls noch lange beschäftigen. Deutlich wird jedoch nicht nur eine Abkehr von der Zeitgeschichte, sondern die regelrechte Verdammung der Zeit zwischen deutscher Besatzung (März 1944) und dem Ende des Kommunismus 1989. Möglicherweise wird die Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Auftrieb bekommen, als Ungarn noch ein großes Königreich war. Insgesamt wird zudem erwartet, dass die Zahl der Universitäten, die in den letzten 20 Jahren enorm gewachsen war, wieder schrumpfen wird. Derzeit gibt das ungarische Bildungsministerium die Zahl der Universitäten und Hochschulen mit 25 an, darunter sind 18 staatliche und sieben private Einrichtungen.[12] Es ist zu vermuten, dass die Geschichtsinstitute besonders von den Kürzungen betroffen sein werden. Während einer Diskussion, initiiert vom Institut für Politikgeschichte (früher Institut der Geschichte der Sozialistischen Arbeiterpartei), zu Problemen der Zeitgeschichte stellte Gábor Gyáni, einer der engagiertesten Sozialhistoriker Ungarns, eine düstere Prognose auf: „Heute erleben wir, wie die gesamte Zeitgeschichtsschreibung institutionell umstrukturiert wird, und bei diesen politischen Entscheidungen werden nicht die Debatten und Meinungen der Historiker gefragt sein, sondern die eigenen politischen Ziele und Erwartungen. Viele Zeitgeschichtsforscher werden ihren Arbeitsplatz verlieren, ihre wissenschaftlichen Perspektiven oder eben das Vergnügen an ihrer fachlichen Ausbildung. Darüber müssen wir sprechen, wenn wir heute über Zeitgeschichte sprechen, […] denn diese Dingen geschehen genau jetzt.”[13]

Eine Institution, die wie keine andere die Zeitgeschichtsforschung in Ungarn seit 1989 geprägt hat, ist von den Veränderungen besonders stark betroffen: das Institut zur Erforschung der Revolution von 1956 oder kurz das „56er-Institut”.[14] Dieses war 1994 zu einer Stiftung öffentlichen Rechts geworden, doch hat es diese rechtliche Stellung seit Dezember 2010 wieder eingebüßt. Außerdem wurden nun anstelle von 151 Millionen Forint lediglich noch 53 Millionen an staatlichen Zuschüssen bewilligt. Noch schwerer wiegt aber der Verlust der Unabhängigkeit, denn das Institut wird fortan nur noch als Teil der Széchényi-Nationalbibliothek bestehen und ist damit mittelbar dem Bildungsministerium unterstellt. Aus einem lebendigen, unabhängigen Forschungsinstitut wird eine Bibliotheksabteilung, die gegenüber der Bibliotheksleitung weisungsgebunden ist und kaum noch wie bisher zur Forschung beitragen kann. Es wird weniger Forscher, weniger Konferenzen, weniger Veröffentlichungen, weniger Austausch mit Kollegen im In- und Ausland geben. Möglicherweise beschleunigt Fidesz mit seinen radikalen Maßnahmen nur das Ende des Postkommunismus, welches sich schon abgezeichnet hatte. Auch neue Initiativen wie die des Open Society Archives (OSA) oder der neuen Stiftung „Múlt-kor” (Vergangene Zeit) werden die bereits entstandenen und weiter entstehenden Lücken kaum schließen.[15]

Angesichts des Kahlschlags in der Forschung mag es zynisch klingen, aber vielleicht ergibt sich aus der heutigen Situation doch noch eine Chance für die wissenschaftliche Zeitgeschichtsschreibung. Denn der Boom der Zeitgeschichte seit den 1990er-Jahren war vor allem von nicht-wissenschaftlichen Publikationen getragen, von allerlei Erinnerungen und Rechtfertigungsschriften.[16] So kann der Umbruch, den wir gerade erleben, und die daraus zu erwartenden Konflikte auch irgendwann zu einem neuen Boom an zeithistorischer Forschung führen. Denn, wie mein nun folgender Text von 2004 zeigt, die Geschichte der ungarischen Zeitgeschichtsforschung ist noch sehr jung, sie steht weiterhin am Anfang.

Von der Geschichte der eigenen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiografie des 20. Jahrhunderts

Auf den ersten Blick hatten ungarische Historiker, die sich mit der ihnen unmittelbaren Vergangenheit befassten, hauptsächlich Revolutionen im Blick: diejenige von 1848/49, danach die Doppelrevolution von 1918-19, eine zeitlang die „volksdemokratische” Revolution (1945-1948) und schließlich in jüngster Zeit das Jahr 1956. Selbst das Jahr 1989 wird, wenn auch nicht ohne Kontroverse, oft als „Revolution” tituliert.

Kann man diese Revolutions-Historiografie aber „Zeitgeschichte” nennen? Denn zunächst ist festzustellen, dass es eine institutionalisierte Disziplin „Zeitgeschichte” in Ungarn, vergleichbar jener in Deutschland, nur ansatzweise gibt. Das Wort ist nicht einmal in einschlägigen Lexika zu finden. Lehrstühle, die sich mit zeitgenössischer Geschichte beschäftigen, müssen auch die „Neuere Geschichte” ab 1789 behandeln („Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit”).[17] Die Unsicherheit der Gegenstandsbestimmung erhöht sich dadurch, dass in der ungarischen Fachsprache seit dem 19. Jahrhundert mindestens vier Wörter für die Beschreibung der Geschichte der unmittelbaren Vergangenheit kursieren: „kortörténet” (Zeit-Geschichte), „legújabbkori történet” (Geschichte der Neuesten Zeit), „jelenkortörténet” (Gegenwartszeitgeschichte) oder auch „jelentörténet” (Gegenwartsgeschichte) – alle übrigens ohne erkennbare inhaltliche Abgrenzung voneinander.

Auf der anderen Seite lässt sich aber eine deutliche Zunahme der Beschäftigung mit der Geschichte der unmittelbaren Vergangenheit feststellen, was möglicherweise in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einem weltweiten Trend entsprach.[18] Gerade seit den 1980er-Jahren rückte die neueste Geschichte vom Rande in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Historiker und der Öffentlichkeit, was nicht allein mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems erklärt werden kann. Schon seit dem Ersten Weltkrieg fanden in regelmäßigen Abständen Diskussionen über die besonderen Probleme einer Disziplin „Zeitgeschichte” statt. Sie verweisen darauf, wie eng die häufigen politischen Umbrüche, die Geschichte der ungarischen Revolutionen seit 1848, mit der Herausbildung der Disziplin Zeitgeschichte zusammenhingen, diesen Prozess manchmal beschleunigten und manchmal bremsten.

Um diese langsame Entstehungsgeschichte besser nachzeichnen zu können, bedarf es daher zunächst einer Unterscheidung zwischen einer Geschichtsschreibung der eigenen Zeit, wie sie von Historikern seit dem Beginn moderner Geschichtswissenschaft betrieben wird, und einer Zeitgeschichte als Disziplin, wie sie sich etwa in Deutschland erst nach 1945 durchsetzen konnte. Dass eine institutionalisierte Zeitgeschichte etwas ganz anderes bedeutet als die bloße Beschäftigung von Historikern mit ihrer eigenen Zeit, wird deutlich, wenn man etwa die ungarischen Fachdiskussionen betrachtet, bei denen vier Grundfragen im Mittelpunkt standen.

(1.) Der Gegenstand der Zeitgeschichte: Oft wird unter „Zeitgeschichte” die Geschichte der Zeit der „Mitlebenden” bzw. der gerade lebenden drei Generationen verstanden.[19] Diese Abgrenzung hat nicht nur den Nachteil, dass sie ständig variiert und dadurch unscharf ist, sondern auch, dass sie einen für die Entstehung der Zeitgeschichte geradezu fundamentalen Grundgedanken verschleiert: die Tatsache, dass es eben nicht nur um die Zeit einiger Generationen geht, sondern dass dieser Zeit ein ganz bestimmter, unverwechselbarer Epochencharakter zugeschrieben wird: Es geht um die wie auch immer verstandene Moderne.[20] Nicht nur am ungarischen Fall ist abzulesen, dass es beim Reden von Zeitgeschichte um die Legitimität dieser Moderne selbst geht, um den Konflikt zwischen „konservativen” oder gegenrevolutionären und „progressiven” oder revolutionären Denkströmungen. Das Beispiel Ungarns zeigt sehr deutlich, dass sich die Kommunikation um „Zeitgeschichte” immer dann verdichtete, wenn auch die Debatte über die Moderne intensiver geführt wurde. In diesem Zusammenhang diskutierten Historiker oft auch über die Angemessenheit von sozialwissenschaftlichen oder politologischen Theorien und Methoden in der Geschichtswissenschaft.

(2.) Die Beziehung zwischen Historiker und Gegenstand bzw. das Problem der Nichtabgeschlossenheit der „Zeitgeschichte”: Übertragen auf das Gebiet der Periodisierung stellten konservative Fachvertreter aufgrund des Mangels an „Abgeschlossenheit” der modernen Epoche deren Historisierbarkeit in Frage. Gegenstand historischer Forschung könne nur eine Zeit sein, die „abgeschlossen” sei und damit dem Historiker eine inhaltliche Zielvorgabe für seine Arbeit biete. Die Vorstellung, Geschichte müsse teleologisch sein, und das ihr zu Grunde liegende traditionelle Gesellschaftsmodell hingen mit der Nationalstaatsfixierung des Historismus zusammen. Dieser betrachtete vor allem die „Haupt- und Staatsaktionen” als Gegenstandsbereich der Historiografie, deren Vollzug in der Vergangenheit erklärt werden konnte, wenn ihr Ergebnis, etwa der Ausgang eines Krieges oder einer dynastischen Verbindung, bekannt war. Da diese Sichtweise bis zum Zweiten Weltkrieg die Zunft dominierte, gehörte der Streit um die Beziehung des Historikers zu seinem Gegenstand stets zu den wichtigsten Themen des Diskurses über Zeitgeschichte. Zeitgeschichte wurde erst dann als Teildisziplin vollkommen akzeptiert, als bestimmte Prämissen des Historismus ihre Gültigkeit eingebüßt hatten. Dies konnte erst in dem Moment geschehen, in dem die Historiker die Moderne und damit auch die Legitimität von Revolutionen akzeptiert hatten. Dass dies aber aus bestimmten Gründen ausgerechnet in der Ära der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft nicht möglich war, hing mit ihrem problematischen Verständnis der Moderne und ihrer teleologischen Grundausrichtung zusammen. Dies führte dazu, dass ausgerechnet eine Geschichtsauffassung, die sich als „revolutionäre” verstand, ein besonders starres Verhältnis zur Revolutionsgeschichte entwickelte.

(3.) Die Forderung nach kritischer Distanz zum Gegenstand: Die Behauptung einer „Nichtabgeschlossenheit” der Zeitgeschichte wurde mit dem Vorwurf verbunden, der Zeithistoriker verfüge nicht über genügend „Distanz” zu seinem Gegenstand. Dagegen betonten die Zeithistoriker immer wieder ihre besondere Verpflichtung gegenüber den Methoden und Instrumenten der Geschichtsschreibung, insbesondere gegenüber der Quellenkritik. Mit dem Niedergang des Historismus und dem Aufkommen sozialwissenschaftlicher Modelle trat die Vorstellung zurück, der bloße zeitliche Abstand zu einem Geschehen schaffe eine quasi „natürliche” Distanz. Zeitgeschichte konnte daher erst durch die Verbindung eines in der Philosophie und den Sozialwissenschaften erarbeiteten Modernebegriffs mit den Methoden und Fragestellungen der Geschichtsschreibung entstehen.

(4.) Das zeithistorische Quellen- und Institutionalisierungsproblem: Ausgehend von der Feststellung, wonach eine Epochenbestimmung ohne ideologische oder geistesgeschichtliche Konstruktion gar nicht möglich sei, konnten Zeithistoriker dem Vorwurf begegnen, dass die Zeitgeschichte ein spezifisches Quellenproblem habe. Wenn Staatsmänner und ihre Handlungen nicht mehr ausschließliches Thema historischen Arbeitens sind, dann stellt auch die eingeschränkte Zugänglichkeit zu staatlichen Akten kein unlösbares Problem mehr dar. Mit der wachsenden Neigung zu einem modernen, eher sozial- denn geistesgeschichtlich begründeten Epochenbegriff konnten erstmals massenhaft zeithistorische Quellen erschlossen werden. Gerade diese Fülle führte die engagierten Vertreter der Zeitgeschichte dazu, moderne wissenschaftliche Institute und kollektive Forschungsarbeiten anzustreben, was dem historistischen Ideal des einsamen Gelehrten entgegenstand.

Im Folgenden werde ich den Versuch unternehmen, den langsamen, bisher noch nicht abgeschlossenen Prozess nachzuzeichnen, der von einer noch vordisziplinären Geschichte der eigenen Zeit zur institutionalisierten Zeitgeschichte in Ungarn führte. Dabei soll deutlich werden, wie eng die allmähliche Institutionalisierung von Zeitgeschichte mit einem veränderten Moderneverständnis der Historiker zusammenhing, das wiederum von den aktuellen politischen Brüchen beeinflusst wurde. Dabei gehe ich bewusst von einem deutschen „Zeitgeschichte”-Begriff als Modell aus. Denn die deutsche Geschichtswissenschaft stellte für die ungarische seit dem 19. Jahrhundert die wichtigste Referenzgröße dar.[21] Die Entstehung eines modernen Zeitgeschichtsbegriffs kann natürlich nicht vollkommen darauf verzichten, wenigstens beispielhaft auf die jeweiligen historischen Forschungen zu Gegenwartsthemen einzugehen. Die Darstellung von deren Entwicklung oder gar die lückenlose Beschreibung ihrer Ergebnisse soll aber nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein.[22]

„Die schmachvolle Zeit des Bolschewismus, ewiger Tiefpunkt unserer Geschichte”. Die konservative Geistesgeschichte und ihr widersprüchliches Verhältnis zur Zeitgeschichte (1920-1949)

Die führenden Historiker der Horthyzeit, Bálint Hóman (1885-1951) und Gyula Szekfű (1883-1955), Verfasser eines bis heute hoch angesehenen Handbuchs der ungarischen Geschichte in sechs Bänden, das als „der Hóman- Szekfű” bekannt ist, begründeten die Dominanz ihrer „geistesgeschichtlichen” Schule mit einer scharfen Kritik der national-liberalen „kleinungarischen” Historiografie.[23] Besonders aggressiv griffen sie deren französische Wurzeln an: „Die französische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts”, so Szekfű, „gründete derart primitiv auf dem Stammesstandpunkt, nach dem Frankreich die Nation, die einzig wahre Kulturnation Europas und der Menschheit sei, und deren transzendentaler Mission, den anderen Völkern die großen humanistischen Ideen, die ewigen Ideale der Freiheit und Bildung zu bringen und sie aus der mittelalterlichen Finsternis emporzuheben, wenn es sein muss, auch mit Gewalt, besser aber mit typisch französischer Eroberungskraft und Charme.”[24]

Was stand hinter dieser Polemik? Zum einen der mit Frankreich identifizierte Vertrag von Trianon, der Friedensvertrag, nach dem das Königreich Ungarn um zwei Drittel seines Territoriums verkleinert worden war, zum anderen aber auch eine tiefe persönliche Verletzung, die Szekfű 1913 erleiden musste, als er es gewagt hatte, einen der Säulenheiligen der 48er-Unabhängigkeitspartei, den Fürsten Rákóczi, zu kritisieren.[25] Dafür war er von einem großen Teil der national-liberalen politischen Klasse derart scharf angegriffen worden, dass er eine Stelle als Archivar in Wien annahm und erst 1924 wieder nach Budapest zurückkehrte. [26] Szekfű hatte diese beiden Probleme, ein zeithistorisches: der Weltkrieg und seine Folgen, und ein historiografisches: die Vormacht der kleinungarisch-protestantischen Revolutionsgeschichtsschreibung, schon 1918 in einem fulminanten Essay über die ungarische Misere zusammengefasst. Seine Studie „Drei Generationen” (Három nemzedék) gilt als eine der entscheidenden intellektuellen Begründungen der Horthyära und Schlüsseltext der ungarischen Konservativen Revolution.[27] In „Drei Generationen” beschreibt Szekfű den unaufhaltsamen Niedergang des ungarischen Staates im Zeichen des Liberalismus, der im Laufe von drei Generationen (Reformer vor 1848, Revolutionäre von 1848, Unabhängige um 1900) den Konflikt mit der Habsburgermonarchie verschärft und zugleich zu einem Auseinanderfallen der ungarischen Gesellschaft geführt habe, auf deren Trümmern sich 1919 der Bolschewismus hätte erheben können.

Die radikale Ablehnung der französischen und allgemeiner: westlichen Geschichtsschreibung verband sich bei den konservativen ungarischen Historikern mit einer Hinwendung zur deutschen Geistesgeschichte, besonders zu Dilthey und Meinecke. Szekfű hatte schon in seiner auf deutsch erschienenen „Staatsbiographie” mit dem Titel: „Der Staat Ungarn” (Deutsche Verlags-Anstalt 1918) dem Primat der Außenpolitik gehuldigt, sich auf die „Staatsnotwendigkeit”, die „geistige und sittliche Kraft des Staates” und seine „Lenker” konzentriert.[28] Er war seinen liberalen Vorgängern weit überlegen, da er seine politischen Interessen mit einem ungleich weiteren historischen Blick unter Einbeziehung von kultur-, wirtschafts- und sozialhistorischen Erkenntnissen sowie im Kontext der gesamteuropäischen Entwicklung brillant darstellen konnte.

Am Beispiel Szekfűs wird deutlich, warum es in der Horthyzeit zu einem gespaltenen Verhältnis der Historiker zur Zeitgeschichte kommen musste. Die dominierende Geistesgeschichte wollte den „Beweis” für die überlegene ungarische Staatsbildungskraft seit dem Mittelalter, für die kulturelle Überlegenheit gegenüber den Nachbarländern und daraus folgend: die Unrechtmäßigkeit des Friedensvertrags von Trianon erbringen.[29] Daher rückte wie in der deutschen Geschichtsschreibung das Mittelalter in den Mittelpunkt der Forschung, und die „einfühlende” Hermeneutik wurde zu einem Dogma geschichtswissenschaftlicher Arbeit erhoben. Andererseits mussten sich die Historiker aber zunehmend mit zeithistorischen Fragen beschäftigen, ohne dass sie „Zeitgeschichte” als Disziplin akzeptieren konnten.

Dieser Zwiespalt zeigt sich auch im letzten Band des „Hóman- Szekfű” von 1936. Im letzten Kapitel beschäftigte sich Szekfű unter der Überschrift „Der Zusammenbruch des Gleichgewichts” mit den Jahren zwischen 1906 und 1914. Die Geschichte der danach folgenden 22 Jahre bereitete ihm aber unüberwindliche Probleme: „Die Geschichte des Weltkriegs- und Trianon-Ungarns können wir heute noch nicht unternehmen. Selbst wenn noch so viele Angaben aus den Kriegsjahren bekannt sind und noch so viele amtliche Publikationen und Erinnerungen, tagebuchartige Aufzeichnungen, auch Zeitzeugnisse von dieser oder jener Seite produziert werden, so können wir weder den bloßen Ablauf der Ereignisse rekonstruieren, noch sind wir uns im Klaren über deren eigentliche Bewegungskräfte. Die nach Trianon erfolgten Ereignisse sind noch hier unter uns, die dicken Nebel des Heute und Gestern verhüllen sie noch, und wer weiß, wann wir sie in vollem Sonnenlicht werden sehen und ihre genauen Umrisse in Augenschein nehmen können!” [30]

Auch andere namhafte Historiker beschäftigten sich mit zeithistorischen Themen, ohne jedoch Zeitgeschichte als legitimen Gegenstand der Geschichtsschreibung anzuerkennen. Allen voran wäre Henrik Marczali (1856-1940) zu nennen, Szekfűs Lehrer, der 1919 vorzeitig seinen Lehrstuhl verlor, weil man ihm vorwarf, in Kontakt zur Räterepublik gestanden zu haben.[31] Marczali hatte schon seit den 1880er-Jahren über die Geschichte der „neuesten Zeit” Werke verfasst und sorgfältig vorbereitete Interviews mit Zeitzeugen, zumeist bekannten Politikern, dabei als Quellen verwendet.[32]

Keiner der Genannten hätte sich als „Zeithistoriker” bezeichnet. Sie sahen es als ihre politische Pflicht an, der Nation im „Existenzkampf” gegen den Friedensvertrag beizustehen. Auch fühlten sie sich als Angehörige der verbeamteten Mittelschicht durch die Moderne bedroht, so etwa Szekfű, der für die Krise vor 1914 das „vollständig atomisierte Wesen der Gesellschaft” verantwortlich machte.[33] Der Geschichtsphilosoph und Soziologe István Dékány (1886-1965) wies auf den Übergangscharakter der gegenwärtigen Zeit hin, „deren Charakter und neues Problem sich bereits herausbildet, die Weltpolitik, genauer: die Schaffung kontinentaler Organisationen”.[34]

Mit der doppelten Schwächung des Nationalstaats drohte den Historikern der Verlust ihres wichtigsten Orientierungsrahmens. Daher konnten sie trotz aller institutionellen Schritte in Richtung Zeitgeschichte die notwendige Erweiterung ihres Geschichtsbegriffs nicht mitgehen. Die von der Regierung großzügig geförderte Erweiterung des Tätigkeitsbereichs der Historiker, etwa die Sicherung des die ungarische Geschichte betreffenden Quellenmaterials des Wiener Hofarchivs, das seit 1921 groß angelegte Editionsprojekt „Quellen zur neuzeitlichen Geschichte Ungarns” (Fontes Historiae Hungaricae Aevi Recentioris), die Sammlung von Exilantenschriften im Nationalmuseum, fand vor dem Hintergrund des Kampfes mit den Nachfolgestaaten statt, der auch immer wieder auf den verschiedenen Internationalen Historikertagen ausgetragen wurde.[35]

Die mit deutscher Hilfe ab 1938 erzielten territorialen Revisionserfolge schienen der Zeitgeschichte als historischer Teildisziplin in Ungarn zum Durchbruch zu verhelfen. Aber nur scheinbar. Viel wichtiger blieb die Mittelalterforschung, die auch Bálint Hóman, Vorsitzender der Historischen Gesellschaft und Kultusminister von 1931-1945, betrieb.[36] Die konservativen Eliten Ungarns klammerten sich an eine ins 11. Jahrhundert zurückprojizierte „Sankt-Stephanstradition”.[37] Andere wissenschaftliche Methoden, neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft wurden zwar toleriert, gerieten aber leicht in den Verdacht, „bolschewistisch” zu sein oder zumindest über den "materialistischen" Liberalismus dorthin zu führen.[38] An dieser defensiven Stimmung scheiterte übrigens auch die Etablierung der „Volksgeschichte” in Ungarn.[39] Seit Kriegsbeginn beteiligten sich zahlreiche zumeist jüngere Historiker, aber auch Gyula Szekfű, an der Suche nach einem Ausweg aus der ungarischen „Sackgasse”. Im 1941 gegründeten und 1949 teilweise in das neugeschaffene Akademieinstitut übernommenen „Institut für Geschichtswissenschaft” des Pál-Teleki-Instituts wurde in systematischen Vergleichen und beziehungsgeschichtlichen Studien das Verhältnis zwischen Magyaren und den anderen Völkern des Donauraums und des Balkans nicht mehr allein als „Kampf der Kulturen” dargestellt. Dort spielte „Zeitgeschichte” allerdings keine besondere Rolle.

Die mittelalterliche Staatsgründerfigur, die St. Stephan-Statute, wurde im Jahr 2000 in Kecskemét aufgestellt. Foto: Csanády 2007, Quelle: [http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Szent_Istv%C3%A1n_Kecskem%C3%A9t.jpg Wikimedia Commons] ([http://en.wikipedia.org/wiki/Public_domain Public Domain]).
Die mittelalterliche Staatsgründerfigur, die St. Stephan-Statute, wurde im Jahr 2000 in Kecskemét aufgestellt. Foto: Csanády 2007, Quelle: Wikimedia Commons (Public Domain).


 

„Volksdemokratische Revolution”. Eine verstaatlichte Zeitgeschichte?

1946 wurde Bálint Hóman wegen „Kriegsverbrechen” und „volksschädlichem Verhalten” zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Er starb 1951 aufgrund der schlechten Haftbedingungen im Gefängnis.[40] Szekfű ging als Botschafter nach Moskau und erhielt später einen hohen repräsentativen Posten. An die Universität kehrte er nicht mehr zurück.[41] Bis 1948 drängten die neuen Machthaber alle führenden Repräsentanten der Geistesgeschichte aus den Universitäten.

Noch konsequenter als zuvor das Horthyregime kriminalisierte die kommunistische Diktatur die unmittelbare Vergangenheit und klammerte sie auf diese Weise aus der „normalen” Geschichte aus. Die Leitung des Ungarischen Staatsarchivs richtete 1952 eine „Gerichtsgruppe” ein, die juristischen Zwecken dienendes Material besonders über mutmaßliche Kriegsverbrecher sammelte.[42] Zwei Jahre später gliederte sie eine „Volksdemokratische Gruppe” aus der bisherigen II. Abteilung (Staatsakten seit 1867) aus. Das dort gesammelte Material verbrannte ironischerweise nach einem Beschuss durch sowjetische Panzer im November 1956. Doch scheiterte die volksdemokratische Zeitgeschichtsschreibung nicht an den Granaten der Roten Armee, sondern an den ideologischen Beschränkungen des stalinistischen Systems.

In Westdeutschland entstand in diesen Jahren „Zeitgeschichte”, als einige Historiker begannen, die Moderne als historische Epoche zu akzeptieren und sie mit struktur- und politikhistorischen Modellen zu beschreiben.[43] Der Modernebegriff der stalinistischen Historiografie in Ungarn presste die Epoche dagegen in das Schema ihrer Parteigeschichte hinein. Diese beruhte auf der sogenannten Zwei-Linien-Perspektive, einer Einteilung der Vergangenheit in „fortschrittliche” und „rückschrittliche” „Linien”.[44]

Die Anwendung der „Zwei Linien-Perspektive” erlaubte die Legitimierung der Einparteiendiktatur und die Rechtfertigung der Unterwerfung unter die Sowjetunion, die Identifizierung mit der neuen Staatsmacht sowie die Konstruktion von Feindbildern. Die Bipolarität des stalinistischen Denkens durchschnitt die Zeit aber nicht nur diachron, sondern brachte tendenziell auch die Gegenwart selbst zum Verschwinden: Alles, was vor Gründung der Volksrepublik geschehen war, wurde zur negativen „Vergangenheit” erklärt, während alles, was danach geschah und geschehen würde, der Zukunft zugerechnet wurde. Alles, was die Partei tat, war auf die Zukunft hin ausgerichtet, was ihre „Feinde” taten, auf die Vergangenheit.[45] Zeitgeschichte ist aber zwischen Vergangenheit und Zukunft angesiedelt. Deswegen würde ich die „Zeitgeschichte”, wie sie die marxistisch-leninistische Historiografie betrieb, von der Zeitgeschichte in westlichen Gesellschaften unterscheiden: Es fehlte ihr die Nichtabgeschlossenheit, stattdessen führte sie auf ein von der Partei vorgegebenes Telos. Hinzu trat, dass Historiker den Beginn der „Neuesten Zeit” unterschiedlich datieren mussten: In der Weltgeschichte, die sich an der Sowjetunion ausrichtete, setzte diese mit 1917, in der ungarischen dagegen mit 1918 ein.[46]

Versuchte Institutionalisierung einer tabuisierten Zeitgeschichte. Widersprüche des Kádárismus (1957-1989)

Anlässlich einer Rede zum 40. Jubiläum der Räterepublik im März 1959 sprach Erik Molnár (1894-1966), Vorsitzender der Historischen Gesellschaft, von einem neuen „Verhältnis zwischen den Massen und der Partei”, von einer „Stärkung der Proletardemokratie” bei gleichzeitiger „führender Rolle der Partei”. Molnár, seit 1949 Direktor des Akademie-Instituts für Geschichtswissenschaften und wie János Kádár kein Moskowit, sondern vor 1945 Mitglied der kommunistischen Widerstandsbewegung, propagierte eine kritische Sicht auf die marxistisch-leninistische Historiografie der 1950er-Jahre.[47] Deren dogmatische Anwendung der „Zwei-Linien-Perspektive” hätte aufgrund ihrer unkritischen Glorifizierung jeglicher Freiheitsbewegung den früheren „rechten” durch einen „linken” Nationalismus ersetzt. Im Namen einer „Rückkehr zu Lenin” nahm Molnár zugleich eine poststalinistische Revision der Räterepublik von 1919 und der Rolle Béla Kuns vor, in der er zugleich die „Konterrevolution” von 1956 scharf verurteilte.[48]

Hinter der Rehabilitierung Béla Kuns standen Kádárs Versuche, die Diktatur der Partei durch einen Kult um die Opfer des Stalinismus (zu denen er sich selbst stilisieren ließ) neu zu legitimieren.[49] Die Neuinterpretation der Räterepublik durch Molnár macht Möglichkeiten und Grenzen der poststalinistischen Parteigeschichte deutlich: Durch ihre doppelte Abgrenzung gegenüber Stalinismus und Revisionismus ergaben sich gewisse Interpretationsspielräume, die sich, je nach Parteilinie, öffnen und wieder schließen konnten.

Seit den 1960er-Jahren gab es mehrere Versuche, Zeitgeschichte zu institutionalisieren. Zu diesem Zweck wurde die Geschichte der noch lebenden Generationen in zwei Teile gespalten. Am Akademie-Institut arbeiteten seit 1961 zwei Arbeitsgruppen zur „Neuesten Geschichte”: Die erste beschäftigte sich mit 1918-1945, die zweite mit der „volksdemokratischen Epoche”. Eine solche Periodisierung war schon 1954 im Staatsarchiv vorgenommen worden und fand sich auch in den vom Institut seit 1960 herausgegebenen Bibliografien wieder, die anlässlich der Internationalen Historikerkongresse erschienen.[50] Schließlich erweiterte das Staatsarchiv seine (1956 verbrannte) „Volksdemokratische Gruppe” zu einer „Volksdemokratischen Abteilung”, die 1970 zur Gründung eines eigenen „Neuen Ungarischen Zentralarchivs” führte.[51]

Die Zweiteilung erlaubte es, ab den 1970er-Jahren zunehmend undogmatisch über die Jahrzehnte zwischen dem Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu arbeiten. Diese Forschungen gipfelten in dem 1976 erschienenen 8. Band der „Geschichte Ungarns” über die Doppelrevolution von 1918/19 und die Horthyzeit (1919-1945). Das auf zehn Bände geplante Handbuch, von dem bis 1989 sieben Bände erschienen, war das größte historiografische Unternehmen der Kádárzeit. Die Spaltung der Zeitgeschichte, die relativ freie Darstellung der Zwischenkriegszeit, brachte aber die Schwierigkeiten bei der Behandlung der Zeit nach 1945 nur umso greller ans Licht: Im Unterschied zum 8. blieb der 9. Band, der die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg behandeln sollte, unausgeführt. Der Leiter der „Arbeitsgruppe für volksdemokratische Geschichte” hatte in der Eröffnungsrede von 1961 schon gedroht, dass jedes Problem der volksdemokratischen Epoche untersucht werden könne, vorausgesetzt, dass dies „auf der Basis der richtigen marxistischen Auffassung geschieht”. [52] Unter diesen Umständen mussten die Spät-Zeithistoriker ihre Arbeit der ständig schwankenden Parteilinie anpassen, was eine kontinuierliche Forschung nicht gerade begünstigte. 1980 räumte der Leiter des Akademie-Insituts ein, dass die wissenschaftliche Erforschung der Zeit nach 1945 „aus politischen, wissenschaftlichen und persönlichen Gründen” gerade erst beginnen könne.[53] Die „volksdemokratische” Arbeitsgruppe des Akademie-Instituts gab daraufhin die Arbeit am Handbuch an das Parteihistorische Institut der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei ab. Doch auch dort fand der Band bis 1989 keinen Abschluss. Nach dem Systemwechsel wurden die Arbeiten schließlich eingestellt.

Im Ergebnis scheiterte die ungarische Geschichtsschreibung der Kádárzeit also an der gleichen Aufgabe wie die konservative Historiografie unter Horthy: an der geschichtswissenschaftlichen Darstellung der eigenen Zeit als Teil einer Gesamtdarstellung der Nationalgeschichte. Dabei hatte es an Versuchen und Ansätzen dazu, wie die Einrichtung der Arbeitsgruppe am Institut für Geschichte der Akademie zeigt, nicht gefehlt. Immer wieder wurde die Diskussion über Zeitgeschichte von Neuem angeschoben, stand sie doch in einem engen Zusammenhang mit den (ebenfalls immer wieder abgebrochenen) Wirtschafts- und Wissenschaftsreformen, zu deren eifrigsten Verfechtern nicht zuletzt die beiden international renommierten Wirtschafts- und Sozialhistoriker György Ránki (1930-1988) und Iván T. Berend (geb. 1930) gehörten, die sich besonders mit dem 20. Jahrhundert befassten.[54] Ránki war auch Herausgeber des 8. Bandes der „Geschichte Ungarns”.

Einen dieser zahlreichen Versuche zur Etablierung einer Zeitgeschichte startete die Ungarische Historische Gesellschaft im August 1969. Die damals stattfindende Tagung über „Theoretische und methodische Probleme der Zeitgeschichte” leitete Miklós Incze (geb. 1922) ein. Incze verzichtete auf eine theoretische Begründung des Begriffs „Zeitgeschichte” (kortörténet) und bestimmte ihn als den Zeitabschnitt seit dem Ersten Weltkrieg, als die Zeit, den die „Generationen unserer gegenwärtigen Gesellschaft erlebt haben”.[55] Er verwies auf den Zeitgeschichts-Boom in der „westlichen Geschichtswissenschaft unseres Jahrzehnts” und auf die Zeitgeschichtsforschung in der DDR, die den ungarischen Historikern vor allem durch die Auseinandersetzung mit der westdeutschen Zeitgeschichte bzw. durch ihre Mitarbeit an einem Werk über die „Geschichte der europäischen Volksdemokratien” (so auch das gleichnamige Leipziger Institut) bekannt war.[56] Incze warnte davor, die Zeitgrenze zu weit nach hinten zu verschieben, denn dann würde sich die „Zeitgeschichte” kaum mehr von der „Geschichte der Neuesten Zeit” (legújabb kor története) unterscheiden. Wie auch bei den „bürgerlichen” Historikern üblich, sei die „Unabgeschlossenheit” das wichtigste bestimmende Kriterium für die Zeitgeschichte. Die „Geschichte der neuesten Zeit” bezeichne dagegen „jene Zeitabschnitte, die nach den bekannten Kriterien der geschichtlichen Periodizität für abgeschlossen gelten. Daher beginne die eigentliche Zeitgeschichte mit dem Jahr 1945, „denn zu diesem Zeitpunkt nahm die jüngste, in unseren Tagen noch andauernde, noch nicht abgeschlossene geschichtliche Periode ihren Anfang”. Dies sei die Epoche der Industriegesellschaft, des „sozialistischen Weltsystems” (bzw. des „Staatsmonopol-Kapitalismus” im Westen), der „Auflösung des Kolonialsystems” und der „wissenschaftlich-technischen Revolution”. In Bezug auf die Quellen bezeichne Zeitgeschichte „jene Zeitspanne der Quellen archivarischen Charakters, in der sie noch in der Praxis, im Dienst des täglichen Lebens stehen und noch nicht […] zu Geschichtsquellen geworden sind”. Charakteristisch für Zeitgeschichte sei außerdem „das beschleunigte Tempo und die Überstürzung der Geschehnisse” sowie die „Anhäufung der Kenntnisse, der Informationen und Kommunikationen”.

Wörtlich meinte Incze, die „wissenschaftlich-technische Revolution verursacht eine übermäßige Informationsstauung und dadurch naturgemäß eine Stauung im Gehirn”. Daher müssten die Historiker zunehmend komparatistisch und quantifizierend arbeiten, um die Quellen- und Informationsmassen „brauchbar” zu machen. Sie könnten dabei von den Physikern und deren „feinen Messmethoden und technischen Verfahren” lernen. Die Zeitgeschichte als Teil einer umfassenden „Gegenwartsforschung” (neben Politologie, Soziologie, Ökonomie, Gesellschaftspsychologie) verlange „eine umfassendere, komplexere gesellschaftswissenschaftliche Bildung als die Forschung abgeschlossener Epochen, denn sie setzt unvermeidlich einen komplexen Überblick über sämtliche Gesellschaftswissenschaften, über ihren Zusammenhang und ihre gegenseitige Abhängigkeit voraus”.[57]

Jeder, der die Arbeiten der Geschichtsschreibung der Kádárzeit über die Zeit nach 1945 kennt, weiß, dass aus dem hier euphorisch beschriebenen Projekt nur äußerst langweilige und sterile Texte resultierten, die allein aus der Aufzählung der „Erfolge” des staatssozialistischen Modells unter der Führung der Partei und der wortreichen „Thematisierung” von Problemen ohne jegliche Analyse derselben bestanden.[58] Die „Zeitgeschichte” der Volksdemokratie behandelte eben doch eine „abgeschlossene” Epoche, denn die Perspektive aus der sie allein geschrieben werden konnte, war die Perspektive des „Sozialismus”, wie ihn die Partei definierte. So brachte ein Parteihistoriker in der Diskussion von 1969 zum Ausdruck, dass „der Anfangspunkt historischer Zeiten nicht durch den Auftritt irgendwelcher Generationen entschieden wird, sondern durch etwas ganz anderes: den Kampf zwischen den Klassen, bzw. dessen Ergebnis, [das ist] ein entscheidender Wendepunkt der Geschichte”.[59]

Ferenc Glatz, späterer Institutsdirektor, nutzte die Diskussion, um auf die „Zeitgeschichtsschreibung” der Zwischenkriegszeit, namentlich die Schriften von Gyula Szekfű, hinzuweisen.[60] Er widersprach Incze, der behauptete, es gebe noch keine ungarische Zeitgeschichte. Im Laufe von zwei Jahrzehnten gelang es Glatz, Szekfű schrittweise zu rehabilitieren. 1988 konnte er Szekfűs „Staat Ungarn” von 1918 veröffentlichen, 1990 auch den „Hóman- Szekfű” (Reprint der 2. Auflage von 1935-36).[61] Die historiografiegeschichtlichen Arbeiten von Glatz und anderen stellten ein weiteres Ergebnis der Reformbemühungen seit den 1960er-Jahren dar, die aber ebenfalls nicht zum Abschluss kamen. Denn der geplante zehnte Band des Handbuchs zur Geschichte Ungarns sollte der Historiografie gewidmet sein. Auch die 1985 zu diesem Zweck gegründete Arbeitsgruppe der Akademie brachte ihr Werk nicht zum Abschluss.[62]

Die Fortschrittseuphorie von 1969, ausgelöst durch erste wirtschaftliche und soziale Erfolge des Staatssozialismus nach den langen stalinistischen und poststalinistischen Krisenjahren und die Reformen von 1968, vermochte einer ungarischen Zeitgeschichtsschreibung, die von einem positiven Modernebegriff sowie einer Verbindung von Politik- und Strukturgeschichte ausging, nicht zum Durchbruch verhelfen. Die mehrfach mit großem akademischen Aufwand inszenierten Anläufe zur Etablierung einer eigenen Zeitgeschichte führten aber zu einer schrittweisen Annäherung an die westliche Geschichtswissenschaft. 1981, als Ungarn dem Internationalen Währungsfonds beitrat, wurde an der University of Indiana in Bloomington ein Lehrstuhl für Ungarische Geschichte eingerichtet, der seither von namhaften ungarischen Historikern besetzt wurde, zuerst von Ránki.

Das Jahr ´56 – der Aufstand, die Revolution, der Bürgerkrieg und Freiheitskampf gegen fremde Invasoren, die äußerst blutige Rache Kádárs in den Jahren danach – alles, was die ungarische Gesellschaft wirklich bewegte, durfte von Historikern nicht untersucht werden. Aber auch über die Verbrechen der stalinistischen Zeit durfte nur in ritualisierten, aus der Sowjetunion übernommenen Formeln gesprochen werden, die heute nur noch grotesk wirken, so wenn es etwa hieß, Béla Kun sei Opfer des „Personenkults” geworden – als ob ihn eine Plakatwand erschlagen hätte.[63] Schließlich erlaubte die Parteiideologie auch keine offene Untersuchung der Themen Holocaust und Krieg, vielleicht auch, weil diese ideologisch nicht „sauber” zu behandeln waren.[64] Die Institutionalisierung der „Zeitgeschichte” als Nachkriegsgeschichte blieb eine prekäre Angelegenheit, weil sie den labilen, auf kollektivem Vergessen und bescheidenem Wohlstand basierenden Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten potenziell gefährden konnte. Als Ende der 1980er-Jahre offener über 1956 gesprochen werden konnte, markierte dies schon das unmittelbar bevorstehende Ende der Diktatur. Die wirtschaftliche, soziale, innen- und außenpolitische Krise des Staatssozialismus hatte das System Kádárs bereits so weit untergraben, dass das Reden über ´56, also auch über die Legitimität des Kádárismus, nicht mehr kontrolliert und unterbunden werden konnte.[65]

Durchbruch im Zeichen von 1956. Ungarische Zeitgeschichte nach dem „Systemwechsel” 1989

Im ersten Jahrzehnt der bürgerlichen Demokratie in Ungarn stand die Erinnerung an 1956 im Mittelpunkt des zeithistorischen Interesses und der Forschung. Zeitgeschichte, so schien es, war nun endgültig etabliert, und zwar als Revolutionsgeschichte. Zeithistorische Schriften erlebten einen nie dagewesenen Boom, zeithistorische Debatten, Diskussionen und Streitereien prägten das kulturelle und vor allem das politische Leben. In der Geschichtswissenschaft war besonders das 1989 gegründete „Dokumentations- und Forschungsinstitut für die Geschichte der Revolution von 1956” führend. Aus der Sicht der Geschichtsschreibung zur DDR oder ČSSR, wo 1953 bzw. 1968 keine zentrale Rolle spielen, erscheint die ungarische Fixierung auf das Jahr 1956, trotz aller Unterschiede der genannten Ereignisse, aber erklärungsbedürftig.

Die Ereignisse von 1956 passen erstens in die nationale Meistererzählung der „Revolutionen und Freiheitskämpfe” seit dem 16. Jahrhundert, mit der auch die Errichtung der stalinistischen Diktatur 1948/49 legtimiert worden war.[66] Auf diese Tradition hatten sich aber auch die Studenten und Arbeiter im Herbst 1956 berufen, als sie gegen das System demonstrierten. In der Kádárzeit verwies deshalb jede Demonstration im Zusammenhang mit 1848 auf die tabuisierte Erinnerung an 1956.[67]

Ein zweiter Grund für die Bündelung geschichtspolitischer und historiografischer Anstrengungen auf 1956 ist in der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Erinnerungen und Empfindungen an die Kádárzeit begründet: Die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren eine Zeit, in der es den meisten Ungarn materiell so gut ging wie nie zuvor (vielen auch besser als danach).[68] Die Epoche, die als „Gulaschkommunismus” in der Publizistik verklärt wurde, eignete sich nicht so sehr für eine polarisierende, durch wütenden Antikommunismus oder versteckte Apologie gekennzeichnete Diskussion wie die Ereignisse von 1956, die scheinbar so eindeutig eine Unterscheidung zwischen „Tätern” und „Opfern” zuließen. [69] Da sich aber 1989 fast jeder zu den Opfern (der „Russen”) hinzurechnete, eignete sich die stark simplifizierte Vorstellung von 1956 als „Revolution und Freiheitskampf” auch zur parteiübergreifenden Neubegründung der ungarischen Republik in der Zeit des Systemwechsels 1989/90.[70] Die Erinnerung an `56 erlaubte es, über die Diktatur und ihre Opfer zu sprechen und zugleich über die Kádárzeit zu schweigen. Außerdem ließen die schillernden Ereignisse Identifizierungen mit verschiedenen Akteuren und Handlungen vom ganz linken bis zum äußersten rechten Lager des politischen Spektrums zu.[71]

Neben dem 56er-Institut trug auch das ehemalige „Parteihistorische Institut” (nun „Politikgeschichtliches Institut”) mit einigen Forschungsarbeiten zur Erneuerung der Zeitgeschichte bei. Das ehemalige Partei-Institut musste allerdings seine 1970 vom Staatsarchiv übernommenen und weiter komplettierten Parteidokumente aus der Zeit nach 1949 wieder an das Staatsarchiv übergeben, denn Staats- und Parteigeschichte waren seit der Errichtung der Diktatur nicht mehr voneinander zu trennen. Im Juli 1992 wurde das 1970 gegründete „Neue Zentralarchiv” wieder in das Staatsarchiv zurückgegliedert, während man die Periodisierung (Material vor und nach 1945) aber beibehielt. Nach deutschem Vorbild („Gauck-” bzw. „Birthler-Behörde”) wurde im September 1997 das „Amt für Geschichte” [Történeti Hivatal] geschaffen, das sich der Archivierung und Erforschung der Akten der ehemaligen Staatssicherheitsdienste widmet.[72] Andere Stiftungen, wie das von George Soros finanzierte „Open Society Archive”, aber auch einzelne Wissenschaftler, wie der Soziologe Tibor Huszár, der in den letzten Jahren eine außergewöhnliche Produktivität entfaltet hat, haben ganz wesentlich zur Erforschung der Parteidiktatur beigetragen.[73]

Während sich die Zeitgeschichtsforschung also ungemein verbreiterte und vermehrte, scheint das Nachdenken über Zeitgeschichte seit 1989 eine eher untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Es gibt noch immer Zeithistoriker wie Tibor Hajdu, die ernsthaft die Ansicht vertreten, der Kádárzeit könne man sich „noch nicht mit den Mitteln der Historiografie annähern, denn unser Wissen ist begrenzt, und es fehlt die Perspektive”.[74] Mit diesem Satz formulierte Hajdu ein Problem, das auch anderen ungarischen Historikern unter den Nägeln brennt. Auf der „Ersten nationalen Konferenz für Gegenwartsgeschichte”, die 1994 gemeinsam vom Akademie- und 56er-Institut in Debrecen veranstaltet wurde, bemühte Ferenc Glatz eine Unterscheidung zwischen einer „abgeschlossenen” „Zeitgeschichte” und einer „noch nicht abgeschlossenen” „Gegenwartsgeschichte”.[75] Zur ersten zählt er etwa die Geschichte der DDR, die zweite bezeichne dagegen eine besondere „Problemgeschichte”. „Gegenwartshistoriker” seien nicht „Epochenspezialisten”, sondern müssten über eine spezifische „Gegenwartssensibilität” verfügen, sich mit den „historischen Wurzeln” von Fragen „aktuellen Interesses” beschäftigen.

Glatz' Unterscheidung zwischen „Zeit”- und „Gegenwartsgeschichte” ist nur schwer nachzuvollziehen. Sein Vergleich mit der Erforschung der Geschichte der DDR könnte aber so verstanden werden, dass im Unterschied zu Deutschland die Geschichte der kommunistischen Diktatur Ungarns (noch) „Gegenwartsgeschichte” ist, weil Glatz wie auch Hajdu und viele andere Historiker sowohl vor als auch nach 1989 an ihrer Erforschung beteiligt sind. Dagegen wurde die Geschichte der DDR hauptsächlich von Historikern der alten Bundesrepublik geschrieben, für die DDR-Geschichte kein Gegenwartsproblem im Sinne von Glatz' Unterscheidung darstellt.

Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts scheint der ungarische Diskurs über Zeitgeschichte eine neue Stufe der Selbstreflexion zu erreichen. Zeitgeschichte und Geschichtsschreibung insgesamt werden zunehmend als Teil von Erinnerungskultur betrachtet.[76] Das öffentliche Interesse wendet sich immer mehr von 1956 und der stalinistischen Zeit ab und der Kádárzeit zu, in der die meisten der heute noch Ton angebenden Historikerinnen und Historiker ihre Karriere begannen. Die Geschichte der eigenen Zeit war in Ungarn seit 1848 immer Revolutionsgeschichte gewesen: vor 1918 die Revolutionsgeschichte von 1848/49, in der Zwischenkriegszeit die Revolutionsgeschichte von 1918-19; nach 1945 die „volksdemokratische” Revolutionsgeschichte und zwischen 1989 und 2000 die Geschichte von 1956. So ging es bei der revolutionszentrierten Geschichte der eigenen Zeit immer auch um die Legitimität des jeweiligen politischen Systems. Eine moderne Zeitgeschichte, die auf einer sozialwissenschaftlich und politologisch legitimierten Moderne basiert, konnte daher bis 1989 nicht entstehen. Die ständigen Legitimationskämpfe ließen es nicht zu, dass die Historiker ihre eigene Zeit als modernen Teil der Geschichte, als Zeitgeschichte akzeptieren konnten. Die Chancen stehen gut, dass die ungarische Geschichtsschreibung die wichtige und fruchtbare, aber auch deutlichen Grenzen unterworfene Phase als Revolutionsgeschichte verlassen und in eine neue Ära übergehen kann, in der es nicht mehr um alles oder nichts geht.

Empfohlene Literatur zum Thema

Péter Apor, Secret Agents: Historiography and the Context of a Public Scandal in Contemporary Hungary, in: Ulf Brunnbauer, Stefan Troebst (Hrsg.), Zwischen Amnesie und Nostalgie: Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa. Böhlau, Köln u.a. 2007, ISBN 9783412131067, S. 113-30.

Christian Gerlach, Götz Aly, Das letzte Kapitel. Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden 1944/45, DVA, Stuttgart 2002, ISBN 9780199274611.

Tytus Jaskułowski, Detlef Stein (Hrsg.), Auswahlbibliographien zur Geschichte des Kommunismus in Osteuropa. Bd. II: Ungarn, Osteuropa-Zentrum, Berlin 2008, ISBN 9783940452443.

András Mink, The Revisions of the 1956 Hungarian Revolution, in: Michal Kopeček (Hrsg.), Past in the Making. Historical Revisionism in Central Europe after 1989. Central European University Press, Budapest / New York 2008, ISBN 9789639776043, S. 169-78.

István Rév, Retroactive Justice. Prehistory of Post-Communism, Stanford University Press, Stanford 2005, ISBN 9780804736428.

Balázs Trencsényi, Péter Apor, Fine-Tuning the Polyphonic Past. Hungarian Historical Writing in the 1990s, in: Sorin Antohi, Balázs Trencsényi, Péter Apor (Hrsg.), Narratives unbound: historical studies in post-communist Eastern Europe. Central European University Press, 2007, ISBN 9789637326851, S. 1-100.

Zitation

Árpád v. Klimó, Ungarn - Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.8.2011, URL: http://docupedia.de/zg/Ungarn_-_Zeitgeschichte_als_moderne_Revolutionsgeschichte (Überarbeitete und erweiterte Wiederveröffentlichung von: Árpád v. Klimó, Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte. Von der Geschichte der eigenen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiographie des 20. Jahrhunderts, in: Alexander Nützenadel/Wolfgang Schieder (Hrsg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven in Europa, Göttingen 2004, S. 283-306.)

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Anmerkungen

    1. Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine aktuell ergänzte sowie leicht gekürzte Wiederveröffentlichung eines Artikels von 2004: Árpád v. Klimó, Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte. Von der Geschichte der eigenen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiographie des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft, Vol. 20: Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004, S. 283-306. 
    2. Eine scharfe Kritik an Viktor Orbán und der neuen Regierung äußerte der Historiker István Deák: http://www.nybooks.com/articles/archives/2011/apr/28/hungary-threat/?pagination=false&printpage=true; die Replik von György Schöpflin und die Antwort von Deák unter: http://www.nybooks.com/articles/archives/2011/jun/23/threat-hungary-exchange/?pagination=false&printpage=true.
    3. Eigene Übersetzung, zitiert nach: http://www.orbanviktor.hu/in_english_article/11_april_2010_is_our_revolution.
    4. http://www.welt.de/debatte/article13340784/Wir-Ungarn-gewinnen-die-Selbstachtung-zurueck.html.
    5. Vgl. Martin Mevius, Agents of Moscow. The Hungarian Communist Party and the Origins of Socialist Patriotism 1941-1953, Oxford 2005; vgl. auch ders., Reappraising Communism and Nationalism, in: Nationalities Papers: The Journal of Nationalism and Ethnicity 37 (2009), H. 4, S. 377-400.
    6. Vgl. dazu demnächst: Árpád v. Klimó, Trianon und der Diskurs über nationale Identität in „Rumpf-Ungarn“ (1918-38), erscheint in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (vorauss. 2012).
    7. Zahlen nach Árpád v. Klimó, Hungary, in: Oliver Rathkolb/Günther Ogris (Hrsg.), Authoritarianism, History and Democratic Dispositions in Austria, Poland, Hungary and the Czech Republic, Innsbruck u. a. 2010, S. 79-90, hier S. 83. Vgl. auch: Wéber, Metámorfozisok, S. 177.
    8. Ende 2007 betrachteten nur 45 Prozent der Ungarn den Systemwechsel von 1989 als positiv, während dies jeweils 73 Prozent der Polen und Tschechen taten. Zahlen nach: Árpád v. Klimó, Hungary, in: Rathkolb/Ogris (Hrsg.), Authoritarianism, S. 82. Im Unterschied zu Polen und Tschechien bewertete im November 2010 eine knappe Mehrheit der Ungarn die Mitgliedschaft in der EU negativ (45 Prozent positiv, 47 Prozent negativ). In Polen dagegen standen 78 Prozent der Bevölkerung der Mitgliedschaft positiv gegenüber und 14 Prozent negativ, in Tschechien waren 53 Prozent dafür und 40 Prozent dagegen. Im EU-Durchschnitt lagen die Zahlen bei 50 Prozent für und 39 Prozent gegen die EU-Mitgliedschaft. Vgl. die Ergebnisse von Standard Eurobarometer 74, Autumn 2010: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb74/eb74_anx_full_fr.pdf (Daten erhoben im November 2010, veröffentlicht im Februar 2011).
    9. Der deutsche Text der am 1. Januar 2012 in Kraft tretenden Verfassung (Stand Mai 2011) ist zu finden auf der Webseite der Andrássy Universität Budapest: http://vsr-europa.blogspot.com/2011/05/das-neue-grundgesetz-von-ungarn.html. Im Folgenden: UGG (Ungarisches Grundgesetz).
    10. „Wir ehren die Errungenschaften unserer historischen Verfassung und die Heilige Krone, die die verfassungsmäßige staatliche Kontinuität von Ungarn und die Einheit der Nation verkörpert.“ Vgl. http://vsr-europa.blogspot.com/2011/05/das-neue-grundgesetz-von-ungarn.html.
    11. Nationales Glaubensbekenntnis, online unter: http://vsr-europa.blogspot.com/2011/05/das-neue-grundgesetz-von-ungarn.html.
    12. http://www.nefmi.gov.hu/felsooktatas/felsooktatasi-intezmenyek (28.2.2011).
    13. Die Debatte fand am 11.11.2010 statt. Vgl. http://www.polhist.hu/index.php?option=com_jevents&task=icalrepeat.detail&evid=79&Itemid=4&year=2010&month=11&day=11&uid=80269ce7a711048467e3d767944c476c.
    14. Vgl. dazu den Artikel im Internetportal Revizor: http://www.revizoronline.hu/hu/cikk/3221/visszaszerzett-kulturvagyonok-2/ vom 20.4.2011 sowie den Beitrag auf den Internetseiten des Instituts: http://www.rev.hu/portal/page/portal/rev/sorsunk/jovonk_2010.
    15. Open Society Archive: http://www.osaarchivum.org; Bei „Múlt-kor“ steht allerdings die Zeitgeschichte nicht allein im Vordergrund, es gibt ebenso Portale zur Ur- und Frühgeschichte, zur Antike, zum Mittelalter, zur Neuzeit und zum 20. Jahrhundert. Vgl. http://mult-kor.hu.
    16. Vgl. meine Einführung zur Bibliografie ungarischsprachiger Werke zur kommunistischen Zeit (erschienen zwischen 1989 und 2006) mit fast 1000 Einträgen: Árpád v. Klimó, Einführung. Ungarische Geschichte nach 1944/45 in ungarischsprachigen Publikationen, in: Tytus Jaskułowski/Detlef Stein (Hrsg.), Auswahlbibliographien zur Geschichte des Kommunismus in Osteuropa, Bd. II: Ungarn, Berlin 2008, S. 6-18. 
    17. Die Lehrstühle an der größten ungarischen Universität, der Lorant-Eötvös-Universität in Budapest, umfassen im Unterschied zum entsprechenden Lehrstuhl in Debrecen, der der Modernen Ungarischen Geschichte gewidmet ist, als ihr Aufgabengebiet „Neuere und Gegenwartsgeschichte“ („Ujabb és jelenkortörténet“), geografisch unterteilt nach ”Ungarn" und "Welt". Vgl. http://www.btk.elte.hu/dynpage6.exe?f=btke&p1=m:FomenuH,EntryF2&p3=x:FomenuV2,Entry2S2&p4=p:6221&dep=BTKD-77 (Budapest) und http://btk.unideb.hu/?link=intezetek (Debrecen).
    18. D. Lowenthal, Possessed by the Past. The Heritage Crusade and the Spoils of History, New York u. a. 1996; G. Schulz, Einführung in die Zeitgeschichte, Darmstadt 1992, S. 55.
    19. H. Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1-8, hier S. 2.
    20. Schulz, Einführung, S. 55.
    21. Vgl. etwa: B. Hóman, A történelem útja [Der Weg der Geschichte], in: ders. (Hrsg.), A magyar történetírás új útjai [Neue Wege der ungarischen Geschichtsschreibung], Budapest 1931, S. 7-52. So auch der heute führende Zeithistoriker Ignác Romsics in der Diskussion im Institut für Politikwissenschaft am 11.11.2010. Vgl. http://www.polhist.hu/index.php?option=com_jevents&task=icalrepeat.detail&evid=79&Itemid=4&year=2010&month=11&day=11&uid=80269ce7a711048467e3d767944c476c.
    22. Forschungsüberblicke in deutscher Sprache bieten: H. Fischer, Politik und Geschichtswissenschaft in Ungarn, München 1982; G. Seewann, Geschichtswissenschaft und Politik in Ungarn 1950-80, in: Südost-Forschungen XLI (1982), S. 261-323; I. Romsics, Ungarns Geschichte im Zeitraum 1945-48 in der ungarischen Historiographie, in: Berliner Beiträge zur Hungarologie 6 (1993), S. 7-16; A. Vári, Die ungarische Historiographie über die Periode des Stalinismus, in: ebd., S. 17-30.
    23. Der Vergleich bei Gyula Szekfű, Politikai történetírás [Politische Geschichtsschreibung], in: Hóman (Hrsg.), Magyar történetírás, S. 397-444, hier S. 439f.
    24. Szekfű, Gyula, Politikai történetírás, S. 406.
    25. Zum Trianon-Revisionismus: Anikó Kovács-Bertrand, Der ungarische Revisionismus nach dem Ersten Weltkrieg. Der publizistische Kampf gegen den Friedensvertrag von Trianon (1918-31), München 1997; zuletzt auch: M. Zeidler, Ideas on Territorial Revision in Hungary 1920-1945, Boulder Col. 2007.
    26. Ausführlich dazu: Irene Raab Epstein/Gyula Szekfű, A Study in the Political Basis of Hungarian Historiography, Indiana University Ph.D. 1974; zuletzt erschien eine Edition wichtiger Schriften mit einer einleitenden Studie: Iván Zoltán Denes, Szekfű Gyula, Budapest 2001.
    27. Als sich die Regierung seit 1933 zunehmend dem nationalsozialistischen Deutschland annäherte, kritisierte Szekfű den „neobarocken“ Geist der Zeit: Gyula Szekfű, Három nemzedék és ami utána következik [Drei Generationen und was danach geschah], 5. Auflage, Budapest 1938. Vgl. Zoltán Tóth, „A magyar középosztály megteremtése“. Jegyzetek néhány társadalmi-politikai textus margójára [„Die Erschaffung der ungarischen Mittelklasse“. Notizen zum Kern einiger gesellschaftspolitischer Texte], in: Századvég 7 (1997), S. 30-45.
    28. Vgl. Attila Pók, Rankes Einfluß auf Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken in Ungarn – ein historisierter Historiker, in: Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, hg. v. Wolfgang J. Mommsen, Stuttgart 1988, S. 201-214.
    29. Péter Gunst, A magyar történetírás története [Geschichte der ungarischen Geschichtsschreibung], Debrecen 1995, S. 171.
    30. Gyula Szekfű, Magyar történet [Ungarische Geschichte], Bd. V: K. Magyar Egyetemi Nyomda: Bp. 1936, S. 603.
    31. Marczali studierte in Wien, Paris und Berlin, war seit 1878 Gymnasiallehrer, ab 1895 Universitätsprofessor. Art. Marczali, Henrik, in: Magyar Életrajzi Lexikon Magyar [Ungarisches Biographisches Lexikon, i. f.: MÈL], Bd. 2, Budapest 1969, S. 138.
    32. Im Vorwort spricht Marczali über die Französische Revolution und die Verbreitung der demokratischen und verfassungsrechtlichen Kämpfe, die sie auch in Ungarn ausgelöst habe. Zudem meint er, die „Neueste Zeit“ sei durch Tendenzen des „Kosmopolitismus“ wie des nationalen Gedankens geprägt. Zu seinen, im Text nur selten ausgewiesenen Quellen, schreibt er: „Zu den hiesigen Ereignissen benutzte ich auch archivalische Quellen, bei wichtigeren Tatsachen informierte ich mich jedoch auch bei höhersthenden Persönlichkeiten.“ Siehe Henrik Marczali, A legujabb kor története [Geschichte der neuesten Zeit] 1825-80, Budapest 1892, S. 2. Vgl. auch Péter Gunst, Marczali Henrik és a „kortörténetírás“ [Henrik Marczali und die „Zeitgeschichte“], in: Századok 135 (2001), H. 1, S. 181-190. Gunst betont zu Recht, dass es auch existenzielle und politische Gründe für ungarische Historiker gab, sich nicht als „Zeithistoriker“ auszuweisen.
    33. Magyar történet, S. 603.
    34. István Dékány, A történettudomány módszertana [Die Methode der Geschichtswissenschaft], Budapest 1925. – A Magyar történettudomány kézikönyve (Handbuch der ungarischen Geschichtswissenschaft), hg. v. Bálint Hóman, I. Band, 2. Heft), S. 53. István Dékány studierte in London (LSE), war 1920 Privatdozent für Geschichtstheorie in Kolozsvár (Cluj, Rumänien) und ab 1922 als Privatdozent für Geschichtsphilosophie in Budapest tätig. Seit 1924 arbeitete er als Gymnasiallehrer, 1932 wurde ihm der Titel „ao. Universitätsprofessor“ verliehen. 1939 erhielt er einen Lehrstuhl am Budapester Lehrerbildungsinstitut. Dékány war Akademiemitglied, Vizepräsident der Ung. Philosophischen Gesellschaft, Präsident der Ung. Sozialwissenschaftlichen Gesellschaft (1931-1940), Vizepräsident des „Institut internationale de sociologie“ in Genf. Seine Hauptwerke sind: „Társadalomalkotó erôk“ (1920); „Politikai lélektan“ (1932); „Az ember jellem alapformái“ (1932) sowie: „A mai társadalom [Die heutige Gesellschaft]“ (2. Aufl. 1943); Szociológiai mûszótár [Soziologisches Fachwörterbuch] (Bp. 1944). Angaben n. MÉL I, 1967, S. 362f.
    35. Gunst, Történetírás, S. 171f. Zur „Fontes“-Serie auch: Kálmán Benda, A magyar történeti forráskiadás múltja [Die Vergangenheit der ungarischen historischen Quelleneditionen], in: A magyar történettudomány kézikönyve [Handbuch der ungarischen Geschichtswissenschaft. Nachdruck der Ausgabe von 1929], Budapest 1987, S. 7-20.
    36. Vgl. Domokos Kosáry, Társadalomtudományok [Gesellschaftswissenschaften] 1919-45, in: A magyar Tudományos Akadémia másfél évszázada [Anderthalb Jahrhunderte Ungarische Akademie der Wissenschaften] 1825-1975, hg. v. Zsigmond Pál Pach, Budapest 1975, S. 312-332.
    37. Árpád v. Klimó, Nationale Geschichtskulte als Teile einer Geschichtskultur: Ungarn im europäischen Kontext, in: Comparativ 10 (2000), H. 2, S. 36-60; ausführlich ders., Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860-1948), München 2002.
    38. So meinte etwa Hóman, die Konsequenz jeglicher materialistischer Grundannahme, wozu er auch den Positivismus zählte, sei letztendlich der „Bolschewismus“. Hóman, A törénelem útja. Aus einer ganz ähnlichen Haltung heraus musste daher der Soziologe Hans Freyer, der während des Krieges als Gastprofessor Deutsche Kulturgeschichte in Budapest gelehrt hatte, 1951 auf dem Marburger Historikertag den Unterschied zwischen einer soziologisch inspirierten Strukturgeschichte und einem der Geschichte untergeordneten historischen Materialismus betonen. Vgl. Sebastian Conrad, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945-60, Göttingen 1999, S. 273.
    39. Vgl. dazu Árpád v. Klimó, Volksgeschichte in Ungarn. Chancen, Schwierigkeiten, Folgen eines „deutschen” Projektes, in: Matthias Middell; Ulrike Sommer (Hrsg.), Historische West- und Ostforschung in Zentraleuropa zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – Verflechtung und Vergleich, Leipzig 2004, S. 151-178.
    40. Im März 1945 war Hóman nach Deutschland geflohen und im November von der US-Armee mit 150 weiteren mutmaßlichen Kriegsverbrechern an die ungarischen Behörden ausgeliefert worden. Ausführlich: L. B. Horváth, Hóman Bálint utolsó évei [Die letzten Jahre des Bálint Hóman] (1945-51), in: Sic Itur Ad Astra (1993), S. 120-229.
    41. Szekfű schrieb auch einen sehr positiven Bericht über die Sowjetunion. Allerdings war er nicht zum Marxisten bekehrt worden, sondern sah „realpolitisch“ keine andere Möglichkeit als eine Unterwerfung gemäß des „Primats der Außenpolitik“.
    42. J. Lakos, A Magyar Országos Levéltár története [Geschichte des Ung. Staatsarchivs], in: A Magyar Országos Levéltár [Ung. Staatsarchiv], Budapest 1996, S. 11-55, hier S. 38.
    43. J.-S. Chun, Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit. Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948-1962, München 2000, S. 23-48, 100-118.
    44. Stefan Plaggenborg, Verstetigte Gegenwart: Über das Zeitverständnis im real existierenden Sozialismus, in: Martin Schulze-Wessel (Hrsg.), Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung im Sozialismus: Die Tschechoslowakei im ostmitteleuropäischen Kontext 1945-1989, München 2010, S. 19-32.
    45. Auch Kádár hielt sich noch an diese Zweiteilung, als er die „Konterrevolution“ von 1956 erklärte: „Die Macht ist heute die wichtigste Waffe des werktätigen Volkes, mit der es die Welt der Unterdrückung und der Entbehrung: die kapitalistische Vergangenheit endgültig vernichtet und für immer begräbt und das sozialistische Land der Freiheit und des Wohlstands zum vollkommenen, endgültigen Sieg führt. Die früheren Kapitalisten, die früheren Großgrundbesitzer, die Faschisten und die Revisionisten – unterstützt von ihren ausländischen Freunden und der ganzen internationalen Reaktion – schlugen 1956 gegen die Volksherrschaft los.“ Népszabadság, 22. August 1959. Vgl. zum stalinistischen Zukunftskult auch: Klimó, Nation, Kapitel XII.
    46. Általános történelmi fogalomgyűjtemény [Allgemeine historische Begriffssammlung], hg. v. L. Markó, 4. Aufl., Budapest 1994, S. 164.
    47. Gy. Ránki, Erik Molnár, Budapest 1971, S. 148-150. Vgl. auch: Seewann, Geschichtswissenschaft, S. 290-297.
    48. E. Molnár, A magyar tanácsköztársaság történelmi jelentôsége [Die historische Bedeutung der ungarischen Räterepublik], in: ders., Válogatott tanulmányok [Ausgewählte Studien], Budapest 1969, S. 352-358, hier S. 352. Erstmals erschien der Artikel in: Magyar tudomány IV/4 (1959), S. 171-177.
    49. So wurden nach 1956 Gerüchte darüber gestreut und bis heute auch in weiten Kreisen kolportiert, wonach Kádár nach seiner Verhaftung 1952 gefoltert worden sei. Tatsächlich hatte er als Innenminister 1949 die ersten Schauprozesse selbst mitorganisiert und durchgeführt. Vgl. A. Mink, The Kádár of History, in: Budapest Review of Books 11/1-4 (2001), S. 37-47, hier S. 38. Ähnlich wurde auch in Polen gemunkelt, Gomułka sei gefoltert worden. Eine erste Analyse der neuen Legitimation unter Kádár: M. Kalmár, Ennivaló és hozomány. A kora kádárizmus ideológiája [Zu essen und ´ne Aussteuer. Die Ideologie des frühen Kadarismus], Budapest 1998.
    50. Diese Bibliografie spricht von „Zeitgeschichte“ (histoire contemporaine) nur für die Weltgeschichte, mit der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ als Anfang, während sie für Ungarn, natürlich auch aufgrund der größeren Zahl von Titeln, die Zweiteilung in vor und nach 1945 vornimmt. Siehe: Bibliographie d’œuvres choisies de la science historique hongroise 1945-59, Budapest 1960. 
    51. Lakos, S. 45.
    52. So erinnert sich der ehemalige Akademie-Mitarbeiter: Gy. Litván, Történetírásunk és jelenkorunk [Unsere Geschichtsschreibung und unsere Gegenwart], in: Hatalom és társadalom a XX. századi magyar történelemben [Herrschaft und Gesellschaft in der ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts], hg. v. T. Valuch, Budapest 1995, S. 39-45. Zitat S. 40.
    53. Zs. P. Pach, A jelenkortörténet kutatásáról [Über die Erforschung der Gegenwartsgeschichte], in: Történelmi Szemle (1981), S. 129-134.
    54. Aus der Sicht von Berend: I. T. Berend, A történelem – ahogyan megéltem. [Die Geschichte – wie ich sie erlebte], Budapest 1997.
    55. M. Incze, A kortörténetírás kérdései. [Fragen der Zeitgeschichte], Budapest 1970, S. 324-333, hier S. 324. Incze hatte in Kolozsvár (Cluj) studiert und war seit 1949 Mitarbeiter am Akademie-Institut für Geschichte, 1955-58 Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neue und Neueste Weltgeschichte der ELTE und seit 1958 ordentlicher Professor. Incze hatte 1951 am ersten stalinistischen Handbuch „Magyar Nép története. Rövid attékintés“ [Geschichte des ungarischen Volkes. Kurzer Überblick] mitgewirkt und mehrere Arbeiten über die Horthyzeit und besonders die Weltwirtschaftskrise von 1929 verfasst. Siehe: Magyar Irók élete és munkái [Leben und Werk ungarischer Schriftsteller], Bd. XV, 1993, S. 226f.
    56. Incze zitiert zwei ins Ungarische übersetzte Artikel: L. Stern, A második világháborúval foglalkozó reakciós történetírás fôbb irányzatai [Die Hauptströmungen der sich mit dem Zweiten Weltkrieg befassenden reaktionären Geschichtsschreibung], in: Századok 92 (1958), S. 202-21; E. Donnert/R. Door, Az európai népi demokráciák történetének kutatása a lipcsei Marx Károly tudományegyetemen [Die Forschung zur Geschichte der europäischen Volksdemokratien an der Karl-Marx-Universität Leipzig], in: Századok 100 (1966), S. 157-161.
    57. Alle Zitate nach: Incze, Kortörténetírás, S. 326-333. Die Grenzen der Autonomie der Wissenschaftler bestimmte der Chefideologe der Kádárzeit folgendermaßen: „[…] die gesellschaftliche Anwendung der wissenschaftlichen Ergebnisse [jedoch] verbleibt nicht mehr innerhalb des wissenschaftlichen Rahmens, sondern beansprucht auf jede Weise die Hilfe der gesellschaftslenkenden Kräfte, v. a. der marxistisch-leninistischen Politik, die die Empfehlungen der Wissenschaft überblickt, […] diese kontrolliert, sie akzeptiert oder ablehnt und über ihre teilweise Annahme und die Art ihrer Anwendung entscheidet.“ Gy. Aczél, Sozialistische Demokratie und Kultur, Frankfurt a. Main/Budapest 1975, S. 252.
    58. Selbst noch in einer 1986 in zweiter Auflage erschienenen Geschichte Ungarns im zwanzigsten Jahrhundert finden sich Sätze wie: „Der zweite Dreijahresplan der Volkswirtschaft baute auf den 1957 erzielten Produktionserfolgen auf. Die Plangestalter betrachteten – auf der Grundlage der Wegweisungen der Parteiführung und der Regierung – weiterhin die Industrialisierung als Hauptaufgabe, und dabei die Sicherung der herausragenden Rolle der Schwerindustrie.“ Siehe: Magyarország a XX. században [Ungarn im 20. Jahrhundert], hg. v. S. Balogh, Budapest 1986, S. 441.
    59. P. Simon, A jelenkor és a munkásmozgalom történetének kutatása [Die Gegenwart und die Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung], in: A kortörténetírás, S. 565-570.
    60. F. Glatz, A kortörténetírás kérdése a magyar polgári történetírásban [Die Frage der Zeitgeschichte in der ungarischen bürgerlichen Geschichtsschreibung], in: Századok 1970/3, S. 579-583.
    61. Beide Titel gab der Budapester Verlag „Maecenas“ heraus, jeweils mit einem Vorwort von Ferenc Glatz. Vgl. auch: F. Glatz, Történetírás korszakváltásban [Geschichtsschreibung im Epochenwechsel], Budapest 1990.
    62. F. Glatz, Jelenkortörténet és jelentörténet [Gegenwartszeitgeschichte und Gegenwartsgeschichte], in: Hatalom és társadalom, S. 17-27.
    63. So etwa im Personenverzeichnis der „Geschichte Ungarns“ von 1967 (Corvina-Verlag). Die von der Partei herausgegebene „Geschichte der ungarischen Arbeiterbewegung“ von 1961 schweigt sich über die Prozesse in Moskau noch aus, beschreibt nur den heroischen antifaschistischen Kampf der wenigen KP-Mitglieder in Ungarn. Wortreicher dagegen die offizielle Sprachregelung im Zweiten Band der vom Parteihistorischen Institut erarbeiteten „Geschichte der ungarischen revolutionären Arbeiterbewegung“ von 1967: „Die einseitige Kritik und die Unsicherheit diktierten administrative Maßnahmen, […], denen auch Béla Kun zum Opfer fiel: 1937 wurde er verhaftet und aufgrund falscher Anklagen verurteilt. Im November 1939 starb er im Gefängnis. Nach Stalins Tod, als auf die im Umkreis des Personenkults begangenen Ungesetzlichkeiten Licht fiel, wurde auch er rehabilitiert. Das ungarische Volk und die internationale Arbeiterbewegung bewahren sein Andenken in Ehren, weil er trotz seiner Fehler eine große Gestalt in der ungarischen und internationalen kommunistischen Bewegung ist.“ (S. 177) In der beim Dietz-Verlag der SED erschienenen „Geschichte der ungarischen revolutionären Arbeiterbewegung“ des Instituts für Parteigeschichte der USAP von 1983 fiel Kun nur noch einem nicht näher erläuterten „widerrechtlichen Gerichtsverfahren“ zum Opfer (S. 349). Noch 1979 wurde eine Béla-Kun-Biografie von György Borsányi „aus dem Verkehr gezogen“, vgl. Gunst, Történetírás, S. 201.
    64. Die ungarische Justiz bemühte sich nach 1989, die Opfer der früheren Regime, von den rassistischen Gesetzen der Horthyzeit 1938 über den Judenmord, die Verbrechen der Sowjets und der ungarischen Staatssicherheit in der unmittelbaren Nachkriegszeit und während der Rákosi-Diktatur bis hin zu dem blutigen Rachefeldzug Kádárs, der mit der Generalamnestie von 1963 seinen formellen Abschluss fand, wenigstens symbolisch zu entschädigen. Im Parlament, wo zunächst verschiedene Opferperspektiven gegeneinander ausgespielt wurden, einigte man sich schließlich darauf, von einem Vierteljahrhundert staatlichen Terrors auszugehen (1938-1963). Das war es, was die ungarische Gesellschaft unruhig machte, nicht die Fragen, was an „Revisionismus“ oder „Personenkult“ historisch „falsch“ sei. Vgl. A. Schauschitz, Vergangenheitsbewältigung in Ungarn, in: Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, hg. v. H. König u.a., Leviathan-SH 18/1998, S. 233-260. Auf gewisse Kontinuitäten zwischen der Entrechtung der jüdischen Bevölkerung und Maßnahmen gegen „Schwaben“ nach 1945 weisen auch hin: Christian Gerlach/Götz Aly, Das letzte Kapitel. Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden 1944/45, Stuttgart/München 2002, S. 430-433.
    65. H. Nyyssönen, The Presence of the Past in Politics. `1956` after 1956 in Hungary, Jyväskylä 1999; ders., Der Volksaufstand 1956 in der ungarischen Erinnerungspolitik, in: ZfG 47 (1999), S. 914-932.
    66. Árpad v. Klimó, 1848/49 in der politischen Kultur Ungarns, in: 1848 im europäischen Kontext, hg. v. H. Fröhlich u. a.,Wien 1999, S. 204-222.
    67. Gy. Gyarmati, Máricus Hatalma – A Hatalom Márciusa. Fejezetek Március 15. ünneplésének történetéből [Die Macht des März – der März der Macht. Aus der Geschichte der 15. März-Feiern], Budapest 1998.
    68. T. Valuch, A „Guyláskommunizmus“, in: I. Romsics (Hrsg.), Mítoszok, legendák, tévhitek a 20. századi magyar történelemrôl [Mythen, Legenden, Irrglauben aus der ungarischen Geschichte im 20. Jahrhundert], Budapest 2002, S. 361-390. Ausführlich über die Sozialgeschichte der Kádárzeit: T. Valuch, Magyarország társadalomtörténete a XX. század második felében [Gesellschaftsgeschichte Ungarns in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts], Budapest 2001.
    69. Ähnlich auch: Mink, The Kádár of History. Zur Polarisierung des politischen Systems vgl. Emilia Palonen, Political Polarisation and Populism in Contemporary Hungary, in: Parliamentary Affairs 62 (2009), H. 2, S. 318-334.
    70. Vgl. Presence Nyyssönen; Gy. Litván/J. M. Bak (Hrsg.), Die ungarische Revolution 1956, Wien 1994.
    71. Ein Versuch, die unterschiedlichen Sichtweisen und Blindstellen auf `56 zu unterscheiden: S. Horváth, 1956 történetírása a rendszerváltás óta [Die Geschichtsschreibung über 1956 seit dem Systemwechsel], in: Századvég N.F. 23 (2002), S. 107-120.
    72. Um nur eine der zahlreichen Veröffentlichungen zu nennen: Gy. Gyarmati (Hrsg.), Államvédelem a Rákosi-korszakban [Staatssicherheit in der Rákosizeit], Budapest 2000.
    73. T. Huszár, A hatalom rejtett dimenziói. Magyar tudományos tanács [Die verborgenen Dimensionen der Macht. Der Ungarische Wissenschaftliche Rat] 1948-49, Budapest 1995; ders./J. Szabó (Hrsg.), Restauráció vagy kiigazítás. A kádári represszió intézményesülése [Restauration oder Korrektur. Die Institutionalisierung der Kádárschen Repression] 1956-61, Budapest 1999; T. Huszár, Kádár János politikai életrajza [Politische Biografie von János Kádár] I. 1912-56, Budapest 2001.
    74. T. Hajdu, The Great Illusion, in: Budapest Review of Books 11/1-4 (2001), S. 87-92, hier S. 91.
    75. F. Glatz, Jelenkortörténet és jelentörténet, in: Hatalom és társadalom, 1995, S. 17-27.
    76. Beispiele: S. Horváth, 1956 történetírás; Romsics, Mítószok; allgemeiner: G. Gyáni, Emlékezés, emlékezet és a történelem elbeszelése [Erinnerung, Erinnern und die Erzählung der Geschichte], Budapest 2000.