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Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.

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Konrad H. Jarausch

Fürsorgediktatur

Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 30.01.2023
https://docupedia.de/Jarausch_fuersorgediktatur_v2_de_2023

DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok-2461

Artikelbild Fürsorgediktatur

Erich Honecker besucht die LPG in Dedelow, Bezirk: Neubrandenburg, 1. Juni 1972 (beschnitten). Fotograf: Peter Koard (ADN). Quelle: Wikimedia Commons / Bundesarchiv, Lizenz CC-BY-SA 3.0

Neu in einer aktualisierten Version 2.0: In seinem Artikel erörtert Konrad H. Jarausch den Neologismus „Fürsorgediktatur“, ein Spannungsbegriff, der den widersprüchlichen Charakter der DDR vor allem unter Honecker auf einen präzisen Nenner bringen sollte. Mit dem Gedanken entworfen, die festgefahrene Auseinandersetzung um die Geschichtspolitik anzustoßen und eine analytische Debatte zu beginnen, beschreibt Jarausch Kritiken und Interpretationsmöglichkeiten des Begriffs.

Die doppelte Herausforderung

Mehr als dreißig Jahre nach der „friedlichen Revolution“ ist die intensive Auseinandersetzung über den fundamentalen Charakter des politischen Systems der DDR weitgehend abgeklungen.[1] In der Diskussion wurden seit der Einsetzung der Enquete-Kommission[2] im Jahr 1992 oft Verkürzungen wie der Begriff des „Unrechtsstaats“ benutzt, um die Repression des SED-Systems zu brandmarken. Aber viele ostdeutsche Bürger:innen fanden ihre eigenen Lebenserfahrungen unter einer solchen Etikettierung nicht wieder; einige neigten daher zu (n)ostalgischen Verklärungen.[3] Im Gegensatz zu den kurzfristigen Themenkonjunkturen der Publizistik bietet die wachsende zeitliche Distanz der wissenschaftlichen Zeitgeschichte die Chance, eine analytische Beschreibung zu liefern, die sowohl einer kritischen Bewertung von Gegnern der SED-Parteidiktatur als auch den Erinnerungen derjenigen DDR-Bürger:innen gerecht wird, die versuchten, ein mehr oder minder „normales“ Leben im „falschen“ System zu führen.

Als Produkt archivgestützter gesellschaftsgeschichtlicher Quellenforschung ist die Begriffsbildung „Fürsorgediktatur“ eine konzeptionelle Reaktion auf diese doppelte erinnerungspolitische Herausforderung, die sich von den gängigen Alternativen der Verdammung und Verklärung der DDR deutlich absetzt.[4] Als Lösungsvorschlag des interpretativen Dilemmas betont diese Neuschöpfung den diktatorischen Charakter der sozialistischen Herrschaft ebenso wie Elemente wohlfahrtsstaatlich-paternalistischer Politik als Mittel der Systemlegitimierung.[5]

Durch diese Kombination von zwei zentralen Aspekten will dieser Spannungsbegriff versuchen, über die festgefahrene Auseinandersetzung um die Geschichtspolitik hinauszuführen und eine analytische Debatte über die Widersprüchlichkeit der DDR anzustoßen. Da seit der Formulierung des Neologismus mehr als zwei Jahrzehnte vergangen sind, werden im Folgenden nicht nur seine Entstehung und Bedeutung, sondern auch seine Kritik und Anwendung diskutiert.


 

Erich Honecker besucht die LPG in Dedelow, Bezirk: Neubrandenburg, 1. Juni 1972. Fotograf: Peter Koard (ADN). Quelle: [https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-L0601-0043,_LPG_Dedelow,_Besuch_durch_Erich_Honecker.jpg Wikimedia Commons] / [https://www.bild.bundesarchiv.de/dba/de/search/?query=Bild+183-L0601-0043 Bundesarchiv],  Lizenz [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en CC-BY-SA 3.0]
Erich Honecker besucht die LPG in Dedelow, Bezirk: Neubrandenburg, 1. Juni 1972. Fotograf: Peter Koard (ADN). Quelle: Wikimedia Commons / Bundesarchiv, Lizenz CC-BY-SA 3.0


 

Die Bedeutung des Begriffs

Der unerwartete Kollaps des Kommunismus hatte zunächst die im Kalten Krieg vorherrschende Totalitarismus-Theorie wiederbelebt, da die skandalisierenden Enthüllungen aus Stasi-Dokumenten die Breite der von der SED autorisierten Unterdrückungsmaßnahmen der Bevölkerung belegten. Diese etwas statische, anklagende Sicht wurde vor allem von Regimeopfern im Osten und Antikommunisten im Westen vertreten.[6] Dagegen protestierten postkommunistische Vertreter:innen der Linken, die zumindest den humanistischen Kern des sozialistischen Experiments auf deutschem Boden aus dem Untergang des „realen Sozialismus“ zu retten versuchten. Ihre vor allem in Memoiren vorgelegte Binnensicht des Ulbricht-Honecker-Staats tendierte dahin, die hässlichen Seiten zu bagatellisieren und die positiven Aspekte des ostdeutschen Sozialsystems hervorzuheben.[7]

Eine vermittelnde und analytisch wohl produktivere Perspektive, die sich vor allem in der sozialhistorischen Forschung durchgesetzt hat, sieht die DDR dagegen als „moderne Diktatur“ oder „durchherrschte Gesellschaft“. Allerdings ist diese Etikettierung nicht spezifisch genug, um die SED-Ideologie von anderen repressiven Regimen des 20. Jahrhunderts zu unterscheiden.[8]

Der Neologismus „Fürsorgediktatur“ ist daher als ein Versuch zu verstehen, den widersprüchlichen Charakter des politischen Systems der DDR, das sowohl einen emanzipatorischen Anspruch hatte als auch aus stalinistischer Praxis bestand, auf einen prägnanten Nenner zu bringen. Den ursprünglichen Vorschlag aus dem Jahr 1998 begründete ich wie folgt:

„Eine Interpretation der DDR als radikalisierter Wohlfahrtsstaat könnte man daher mit den beiden etwas gegensätzlichen Begriffen der ‚Fürsorge‘ und der ‚Diktatur‘ umschreiben. In seiner engeren Bedeutung suggeriert das Wort ‚Fürsorge‘ die ‚Pflege, Hilfe, die man jemandem zuteil werden läßt‘ sowie ‚tätige Bemühung um jemanden, der ihrer bedarf‘; im erweiterten Sinne bedeutet es eine ‚öffentlich organisierte Hilfstätigkeit zur Unterstützung in Notsituationen oder besonderen Lebenslagen‘. Diese Konnotationen der individuellen Hinwendung und kollektiven Hilfeleistung könnten auf den ethischen Anspruch des Sozialismus hinweisen, der nicht nur eine sozialpolitische Betreuung der bedürftigen Schichten, sondern eine weitaus breitere, emanzipatorische Umgestaltung der Gesellschaft bezweckte. Gleichzeitig schwingt aber schon in den Verbindungen dieses Wortes ‚Fürsorge‘ mit ‚Anstalt‘ oder ‚Erziehung‘ ein Unterton von Strenge und Bevormundung mit, der in Günter Grass’ ironischer Anklage in seinem Roman ‚Ein weites Feld‘ zum Ausdruck kommt: ‚Eure Fürsorge hieß Beschattung.‘ Die Kopplung mit dem politischen Systembegriff der Diktatur verschärft diese Doppeldeutigkeit noch zu einer eindeutigen Bezeichnung von politischer Unterdrückung.“[9]

Die Neuschöpfung dieses Doppelworts sollte „explizit auf die grundsätzliche Widersprüchlichkeit in den Zielen und Handlungen des SED-Systems hin[weisen], die in den scheinbar paradoxen Erinnerungen ehemaliger Bürger an ihr Leben in der DDR auftaucht. Einerseits greift dieser Terminus die ideologischen Intentionen des Sozialismus auf, indem er an das Projekt der egalitären Gesellschaftsreform zugunsten von hilfsbedürftigen Unterschichten wie Arbeitern und Bauern erinnert – also die DDR als Teil der weltweiten Bewegung sieht, die auf eine Solidarisierung und Humanisierung des gesellschaftlichen Lebens hinarbeitete. Andererseits ist in dieser Begriffskoppelung auch eine unzweideutige Kritik kommunistischer Unterdrückung enthalten, weil sie das Wort ‚Diktatur‘ im zweiten Teil verwendet, das den Zwangscharakter der sozialistischen Utopie sowie (die Gewaltsamkeit) ihrer Umsetzung klar kennzeichnet. Mit ihrer bewussten Verbindung von progressivem Anspruch und regressiver Realität ist diese Begriffsneubildung daher ein Versuch, den spezifischen Charakter der DDR im Vergleich mit anderen modernen Diktaturen des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten.“[10]


 

Die bewusste Verbindung von progressivem Anspruch ...: Kindergarten, Lugau, 1979. Fotograf: Eugen Nosko © SLUB/Deutsche Fotothek/Nosko, Eugen. Quelle: [https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fotothek_df_n-08_0000162.jpg Wikimedia Commons] / [https://www.deutschefotothek.de/documents/obj/87104707 Deutsche Fotothek],  Lizenz [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en CC-BY-SA 3.0]
Die bewusste Verbindung von progressivem Anspruch ...: Kindergarten, Lugau, 1979. Fotograf: Eugen Nosko © SLUB/Deutsche Fotothek/Nosko, Eugen. Quelle: Wikimedia Commons / Deutsche Fotothek, Lizenz CC-BY-SA 3.0


 

... und regressiver Realität: Jugendliche Häftlinge eines Jugendwerkhofs bei der Arbeit, Festung Königstein (Sächsische Schweiz), 1950. Fotograf:innen: Renate und Roger Rössing © SLUB/Deutsche Fotothek/Rössing, Roger & Rössing, Renate. Quelle: [https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fotothek_df_roe-neg_0002479_003_Jugendliche_H%C3%A4ftlinge_bei_der_Arbeit.jpg Wikimedia Commons] / [https://www.deutschefotothek.de/documents/obj/88882105 Deutsche Fotothek], Lizenz [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en CC-BY-SA 3.0]
... und regressiver Realität: Jugendliche Häftlinge eines Jugendwerkhofs bei der Arbeit, Festung Königstein (Sächsische Schweiz), 1950. Fotograf:innen: Renate und Roger Rössing © SLUB/Deutsche Fotothek/Rössing, Roger & Rössing, Renate. Quelle: Wikimedia Commons / Deutsche Fotothek, Lizenz CC-BY-SA 3.0


 

Mit diesem Ansatz sollte eine Reihe von Fragen über das Verhältnis von SED-Herrschaft und gesellschaftlicher Praxis neu gestellt und im Gegensatz zur ausschließlichen Betonung von Gewalt auch auf die wachsende Rolle sogenannter weicher Stabilisatoren vor allem unter Erich Honecker hingewiesen werden. Als sozialutopisches Projekt der Schaffung einer neuen Gesellschaft benutzte der „reale Sozialismus“ neben Zwangsmaßnahmen eine Mischung aus emanzipatorischer Rhetorik und Konsumanreizen zur Herstellung von „widerwillige[r] Loyalität“, die sein alltägliches Funktionieren jahrzehntelang ermöglichte.[11]


 

Kritik und Anwendung

Die Reaktion der Öffentlichkeit und Wissenschaft auf diese Begriffsneubildung war – wie zu erwarten – durchaus gemischt. Einige Vertreter der Totalitarismustheorie missverstanden den „Fürsorge“-Teil des Neologismus als eine Verniedlichung des SED-Regimes durch Überbetonung des Wohlfahrtsaspekts, also als eine Art von „Weichspülung“, die damit keinesfalls intendiert war.[12] So behauptete Sylvia Sasse, „‚Fürsorgediktatur‘ nimmt eine bewusste Entschärfung des Wortes ‚Diktatur‘ in Kauf“ und beklagte den Rückgang der Benutzung des Wortes „Diktatur“ ganz allgemein.[13] Auch Marcel Boldorf kritisierte die Vorstellung eines sozialstaatlichen Charakters des SED-Regimes als Illusion aufgrund der verbreiteten Armut der Rentner:innen.[14] Dagegen ließe sich einwenden, dass gerade durch die humanistische Rhetorik der SED der Diktaturcharakter besonders perfide verschleiert wurde.

Manche eher linke Kritiker hingegen begrüßten die Anerkennung des sozialemanzipatorischen Anspruchs, stießen sich aber an dem Insistieren auf dem diktatorischen Charakter in seiner Umsetzung, der das DDR-Regime implizit auch in die Nähe der NS-Verbrechen zu rücken schien. So argumentierte etwa Siegfried Prokop in seiner Rezension der DDR-Kulturgeschichte von Gerd Dietrich im „Neuen Deutschland“ mit der Überschrift „Eine Diktatur, die doch keine war?“[15] Für größere Differenzierung plädierten auch Philipp Heldmann und Jeannette Madarász.[16]

Etwas neutralere Kritiker:innen wiesen zu Recht darauf hin, dass der Terminus die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ des „Konsumkommunismus“ unter Erich Honecker besser beschreibe als die mit äußerem Zwang verbundene Stalinisierung und Sowjetisierung unter Ulbricht.[17] Andere Forscher, die die Herausforderung einer Begriffsneubildung annahmen, schlugen dagegen weitere Alternativen wie „Versorgungsdiktatur“, „Erziehungsdiktatur“ oder „Konsensdiktatur“ vor, die in eine ähnliche Richtung gingen, aber je nach Fragestellung etwas andere Aspekte thematisierten.[18] Jedoch beschrieb keines dieser anderen Etikette die DDR ähnlich grundsätzlich und erreichte die gleiche Verbreitung wie der Terminus Fürsorgediktatur.

Einige Beispiele mögen die wachsende Bandbreite der Anwendung des Begriffs illustrieren. Manche Autoren wie Gerd Dietrich zitieren Fürsorgediktatur ohne weitere Kommentierung als selbstverständliche Epochenbezeichnung, wie in dem Titel des dritten Bandes seiner DDR-Kulturgeschichte. Inhaltlich anregender ist die Verwendung von der Erziehungssoziologin Sonja Häder oder die der Pädagogen Ursula Plog und Achim Leschinsky in ihren Untersuchungen über das ostdeutsche Erziehungssystem.[19] Andere wie der Sozialhistoriker Christian Rau haben die „Grenzen und Spielräume in der ‚Fürsorgediktatur‘“ ausgelotet, indem sie „das Fürsorgedenken der SED-Führung“ anhand der staatlichen Wohnungspolitik untersuchten.[20]

Wiederum andere Wissenschaftler:innen wie der Psychiater Bernhard Strauß und die Mitarbeiter:innen im Projekt „SeelenArbeit im Sozialismus. Psychologie, Psychiatrie & Psychotherapie in der DDR“ trugen selbst zur Erweiterung des Ansatzes bei: „Die ‚Fürsorgediktatur‘ DDR agierte ambivalent: Einerseits wurden Dissidenten rücksichtslos verfolgt, andererseits legitimierte sich der Staat programmatisch mit humanistischen Idealen.“[21] Wie der Kulturanthropologe Felix Mühlberg und die Sozialhistoriker Hans Günter Hockerts und Alexander Burdumy betonten, scheint der Begriff bei der Analyse von Themen aus Kultur, Sozialpolitik oder Medizin gute Dienste zu leisten, weil er die Widersprüchlichkeit des SED-Systems stärker als andere Bezeichnungen thematisiert.[22]

Eine weitere Resonanz der Begriffsbildung erschließt sich aus der gleichzeitigen anglo-amerikanischen Version einer „welfare dictatorship“, die das Paradoxon von „care and coercion“ beschreibt. In ähnlicher Weise geht es dabei um die Erfassung der Widersprüchlichkeit des Lebens in einer sozialistischen Diktatur, die gleichzeitig emanzipatorisch und repressiv zu sein schien.[23] Obwohl der englischsprachige Begriff nicht so präzise ist, hat er sich dennoch schnell verbreitet, weil die Diskussion außerhalb Deutschlands weniger ideologisch aufgeladen ist. Genutzt wird er u.a. von der ungarischen Arbeiterhistorikerin Eszter Bartha in ihrer vergleichenden Studie zur DDR, von dem englischen Historiker Corey Ross in seiner Begriffsgeschichte der DDR oder auch von dem westdeutschen Alltagshistoriker Thomas Lindenberger.[24] Mary Fulbrooks Gegenvorschlag einer „participatory dictatorship“ beschreibt die Mitarbeit der ostdeutschen Bürger:innen, vernachlässigt aber die ideologischen Ziele der DDR-Führung.[25] Weil im englischen Sprachraum Gary Bruces Ansatz des Totalitarismus eher eine Ausnahme ist, beziehen sich viele der neueren Forschungen auf die Perspektive der „welfare dictatorship“, ohne sie deswegen zu verabsolutieren.[26]


 

Ehemaliges Verhörzimmer an der DDR-Grenzübergangsstelle Marienborn, heute Teil der Ausstellung der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Fotograf:in: ChrisO, 4. September 2009, Quelle: [https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marienborn_interview_room.jpg Wikimedia Commons], Lizenz [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en CC-BY-SA 3.0]
Ehemaliges Verhörzimmer an der DDR-Grenzübergangsstelle Marienborn, heute Teil der Ausstellung der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Fotograf:in: ChrisO, 4. September 2009, Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz CC-BY-SA 3.0


 

Anregung zur Diskussion

Obwohl sicherlich kein einziges begriffliches Etikett die gesamte Komplexität der DDR-Entwicklung einfangen kann, hat sich „Fürsorgediktatur“ als Beschreibung des Widerspruchs zwischen Intention und Praxis unter Honecker zumindest teilweise durchgesetzt. Besonders bei der Darstellung der Sozialpolitik der SED taucht der Begriff meist unwidersprochen auf, aber auch bei Diskussionen über den Gestus der Stasi-Überwachung würde er hilfreich sein, da diese aus einer eigenartigen Kombination von Einschüchterung und Hinwendung bestand.

Ebenso könnte er zur Lösung des Rätsels der erstaunlichen Stabilität und des ebenso überraschenden Untergangs der DDR beitragen, da die SED-Diktatur zunächst durch Fürsorgemaßnahmen gestärkt, aber schließlich durch die Erosion ihres materiellen Fundaments geschwächt wurde.[27] Auch vermag der Begriff auf ambivalente Erinnerungen der Nachwendezeit hinzuweisen, in denen zwar die Befreiung von Repression begrüßt, aber gleichzeitig der Verlust von DDR-Nestwärme bedauert wurde und wird. Schließlich sollte diese Perspektive auch vergleichende Überlegungen für andere Ostblockländer inspirieren, die ähnlich paradoxe Strukturen aufweisen.[28]

Sogar dort, wo diese Neuschöpfung teilweise zurückgewiesen wird, hat sie ein Nachdenken über alternative Begriffsbildungen ausgelöst, welche die Paradoxien des „Sozialismus in den Farben der DDR“ präziser ausdrücken können, als es politische Kampfformeln vermögen. Bei der Suchmaschine Google hat es der Begriff bereits auf 3240 Nennungen gebracht (und welfare dictatorship auf 6270), und Google Scholar weist 113 verschiedene Anwendungen auf. Auch bei H-Soz-Kult findet er sich in einer Reihe von Rezensionen. Statt als konzeptioneller Catch-All-Begriff eingesetzt, sollte der Neologismus „Fürsorgediktatur“ daher eher als Anregung verstanden werden, sich mit der Widersprüchlichkeit des SED-Systems auch interpretatorisch auseinanderzusetzen.[29]

 

Anmerkungen

  1. Für Anregungen zur Überarbeitung möchte ich Jens Gieseke danken.
  2. Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), 9 Bände in 18 Teilbänden, Baden-Baden 1995.
  3. Dazu: Andrew H. Beattie, Playing Politics with History: The Bundestag Inquiries into East Germany, New York 2008. Vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, München 1998; Dietmar Keller/Hans Modrow/Herbert Wolf (Hrsg.), Ansichten zur Geschichte der DDR, Bonn 1993.
  4. Konrad H. Jarausch, Jenseits von Verdammung und Verklärung: Plädoyer für eine differenzierte DDR-Geschichte, in: Agnès Bensussan/Dorota Dakowska/Nicolas Beaupré (Hrsg.), Die Überlieferung der Diktaturen. Beiträge zum Umgang mit Archiven der Geheimpolizeien in Polen und Deutschland nach 1989, Essen 2004, S. 229-240. Vgl. Corey Ross, The East German Dictatorship: Problems and Perspectives in the Interpretation of the GDR, London 2002.
  5. Vgl. Jens Gieseke, After the Battles: The History of East German Society and its Sources, in: German History 36 (2018), S. 598-620.
  6. Vgl. Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1996; Alfons Söllner (Hrsg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997.
  7. Dazu: Ralph Hartmann, DDR-Legenden. Der Unrechtsstaat, der Schießbefehl und die marode Wirtschaft, Berlin 2009. Vgl. Rainer Eckert/Bernd Faulenbach (Hrsg.), Halbherziger Revisionismus. Zum postkommunistischen Geschichtsbild, München 1996.
  8. Vgl. Jürgen Kocka (Hrsg.), Ein deutscher Sonderweg. Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B40/1994, S. 34-45, online unter https://www.econstor.eu/bitstream/10419/112558/1/208282.pdf [23.01.2023]; ders., Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547-553, online unter https://www.econstor.eu/bitstream/10419/112527/1/208124.pdf [23.01.2023].
  9. Konrad H. Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B20 (1998), S. 33-46; zitiert nach: ders., Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur: zur begrifflichen Einordnung der DDR, in: Historical Social Research, Supplement 24 (2012), S. 249-272, hier S. 265, online unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-379121 [23.01.2023]. Vgl. Detlef Pollack, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDR-Gesellschaft homogen?, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 110-131.
  10. Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur: zur begrifflichen Einordnung der DDR, S. 265f.
  11. Ebd., S. 268.
  12. Dazu: Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009. Vgl. Martin Sabrow u.a. (Hrsg.), Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007.
  13. Sylvia Sasse, Kann man eine #Diktatur sehen?, in: Geschichte der Gegenwart, 26.02.2016, https://geschichtedergegenwart.ch/kann-man-eine-diktatur-sehen/ [23.01.2023].
  14. Marcel Boldorf, Zeitreihen DDR, Bundeszentrale für politische Bildung, 28.01.2016, https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/deutschland-in-daten/220199/zeitreihen-ddr/ [23.01.2023].
  15. Siegfried Prokop, Eine Diktatur, die doch keine war?, in: nd, 06.06.2019, Rezension von Gerd Dietrich, Kulturgeschichte der DDR, Göttingen 2018, 3 Bde.
  16. Philipp Heldmann, Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks: Konsumpolitik in der DDR der Sechzigerjahre, Göttingen 2004; Jeannette Z. Madarász, Conflict and Compromise in East Germany, 1971-1989: A Precarious Stability, Houndmills 2003.
  17. So z.B. Eric D. Weitz in einer Rezension von Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Dictatorship as Experience. Towards a Socio-Cultural History of the GDR, in: Central European History 36 (2003), S. 490-494.
  18. Siehe Martin Sabrow (Hrsg.), Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR, Köln 2000. Vgl. Torsten Diedrich/Hans Ehlert, „Moderne Diktatur“ – „Erziehungsdiktatur“ – „Fürsorgediktatur “oder was sonst? Das Herrschaftssystem der DDR und der Versuch seiner Definition, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 12 (1998), S. 17-25.
  19. Sonja Häder, Pädagogische Wissenschaft in einer (modernen) Fürsorgediktatur. Das Beispiel DDR, in: Historia scholastica 2 (2016), H. 1, S. 55-76, online unter http://historiascholastica.com/sites/www.historiascholastica.com/files/HS/1-2016/Historia-scholastica-1-2016-Hader.pdf [23.01.2023]; Ursula Plog/Achim Leschinsky, Verrat. Unterwerfung unter die Fürsorge-Diktatur, Zeitschrift für Pädagogik 45 (1999), S. 591-607, online unter https://www.pedocs.de/volltexte/2012/5966/pdf/ZFPaed_1999_4_Plog_Leschinsky_Verrat.pdf [23.01.2023]; vgl. auch Heldmann, Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks; Christiane Reinecke, Fragen an die sozialistische Lebensweise. Empirische Sozialforschung und soziales Wissen in der SED-„Fürsorgediktatur“, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 311-334, online unter https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2013-2/Reinecke_2010.pdf [23.01.2023].
  20. Christian Rau, Grenzen und Spielräume in der „Fürsorgediktatur“. Staatliche Wohnungspolitik und städtische Wohnraumlenkung in Leipzig in den 1970er und 1980er Jahren, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2/2012, S. 132-162.
  21. Forschungsverbund „Seelenarbeit im Sozialismus – SiSaP“, siehe die Website des Projekts http://seelenarbeit-sozialismus.de/de/start.html; zitiert nach der Projektvorstellung „Psychiatrie in der DDR“, in: Eppendorfer Zeitung für Psychiatrie und Soziales, 03.05.2021, https://eppendorfer.de/psychiatrie-in-der-ddr/ [beide 23.01.2023].
  22. Felix Mühlberg, Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR, Berlin 2004; Hans Günter Hockerts, Caritas in der „Fürsorgediktatur“. Über Rahmenbedingungen caritativen Handelns im SED-Staat, in: Christoph Kösters (Hrsg.), Caritas in der SBZ/DDR, 1945-1989, Paderborn 2001, S. 27-36; Alexander Burdumy, Sozialpolitik und Repression in der DDR. Ost-Berlin 1971-1989, Essen 2013.
  23. Vgl. Konrad H. Jarausch, Care and Coercion: The GDR as Welfare Dictatorship, in: ders. (Hrsg.), Dictatorship as Experience: Towards a Socio-Cultural History of the GDR, New York 1999, S. 47-69.
  24. Eszter Bartha, Welfare Dictatorship, the Working Class and the Change of Regimes in East Germany and Hungary, in: Europe-Asia Studies 63 (2011), S. 1591-1610; Corey Ross, The East German Dictatorship: Problems and Perspectives in the Interpretation of the GDR, London 2002; Thomas Lindenberger, „Asociality“ and Modernity. The GDR as a Welfare Dictatorship, in Katherine Pence/Paul Betts (Hrsg.), Socialist Modern. East German Everyday Culture and Politics, Ann Arbor 2008, S. 211-233.
  25. Mary Fulbrook, The People’s State: East German Society from Hitler to Honecker, New York 2008.
  26. Gary Bruce. Review of Port, Andrew, Conflict and Stability in the German Democratic Republic, in: H-German, H-Net Reviews, October, 2007, http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=13766 [23.01.2023]; siehe u.a. Mallory Wooldridge, The Contradiction of the Welfare Dictatorship: The Stasi’s Role in Preserving and Undermining East German Human Rights (2022), Honors College Theses. 131, https://digitalcommons.murraystate.edu/honorstheses/131 [23.01.2023].
  27. So Maria Mitchell: Review of Koesters, Christoph, ed. Caritas in der SBZ/GDR 1945-1989: Erinnerungen, Berichte, Forschungen, in: H-German, H-Net Reviews. August, 2002, https://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=6573 [23.01.2023], und andere teils kritische, teils zustimmende Erwähnungen bei Google. Für ein Forschungsbeispiel siehe Eli Rubin, Synthetic Socialism: Plastics and Dictatorship in the German Democratic Republic, Chapel Hill 2008, S. 5ff.
  28. Vgl. z.B. Kerstin Brückweh, Das vereinte Deutschland als zeithistorischer Forschungsgegenstand, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28-29/2020, 02.07.2020, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/312261/das-vereinte-deutschland-als-zeithistorischer-forschungsgegenstand/ [23.01.2023]; Igor J. Polianski, Das Schweigen der Ärzte. Eine Kulturgeschichte der sowjetischen Medizin und ihrer Ethik, Stuttgart 2015; und Konrad H. Jarausch, Systemtransformation als Vereinigung. Der deutsche Sonderfall, Chapel Hill 2021.
  29. Vgl. Fulbrook, The People's State; Charles Maier, What Have we Learned since 1989? In Revisiting 1989: Causes, Course and Consequences, Sonderheft, Contemporary European History 18 (2009), H. 3, S. 253-269, online unter https://dash.harvard.edu/bitstream/handle/1/3119241/Maier_1989.pdf?sequence=2&isAllowed=y [23.01.2023].
Empfohlene Literatur zum Thema

Andrew Beattie, Playing Politics with History: The Bundestag Inquiries into East Germany, New York 2008

Rainer Eckert, Bernd Faulenbach (Hrsg.), Halbherziger Revisionismus. Zum postkommunistischen Geschichtsbild, München 1996

Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2008

Jens Gieseke, After the Battles: The History of East German Society and its Sources, in: German History 36 (2018), S. 598-620

Konrad H. Jarausch, (Hrsg.), Dictatorship as Experience. Towards a Socio-cultural History of the GDR, New York 1999

Konrad H. Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur: zur begrifflichen Einordnung der DDR, in: Historical Social Research, Supplement, 24 (2012), S. 249-272, hier S. 268, online unter https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/37912/ssoar-hsrsupp-2012-24-jarausch-Realer_Sozialismus_als_Fursorgediktatur_zur.pdf?sequence=1&isAllowed=y&lnkname=ssoar-hsrsupp-2012-24-jarausch-Realer_Sozialismus_als_Fursorgediktatur_zur.pdf [03.01.2023]

Padraic Kenney, Carnival of Revolution. Central Europe 1989, Princeton 2002

Pavel Kolar, Der Poststalinismus, Göttingen 2016

Corey Ross, The East German Dictatorship: Problems and Perspectives in the Interpretation of the GDR, London 2002

Martin Sabrow/Rainer Eckert/Monika Flacke (Hrsg.), Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Kontroverse, Göttingen 2007

Klaus Schroeder, Der SED- Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, München 1998

Alexey Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2007

Balazs Trencsényi u.a., A History of Modern Political Thought in East Central Europe. Volume II: Negotiating Modernity in the „Short Twentieth Century“ and Beyond, Part II: 1968–1989, Oxford 2018

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