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Zeithistorische Forschung Potsdam
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Kalter Krieg und „Cold War Studies”
Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010 https://docupedia.de//zg/Cold_War_Studies
DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.601.v1
Wollte man die im vergangenen Jahrzehnt entstandenen „Cold War Studies” auf einen Nenner bringen, so ließe sich sagen: Zu beobachten ist die Emanzipation historischer Forschung aus dem normativen und intellektuellen Korsett ihres Gegenstandes. Zeitgeschichtliche Forschung im Kalten Krieg war bekanntlich über weite Strecken die Fortsetzung desselben mit anderen Mitteln. Man konzentrierte sich auf die beiden Supermächte und begleitete deren Winkelzüge aus akademischen Höhen: Wer trägt die größere Schuld am Ausbruch des Kalten Krieges? Welche Seite heizt den Rüstungswettlauf an? Wie finden die Staaten der „Dritten Welt” auf den „richtigen” Weg? Die Aufgeregtheiten dieser Debatten gehören längst der Vergangenheit an; und die ehemaligen Kombattanten – „Orthodoxe”, „Revisionisten” und „Post-Revisionisten” – haben sich entweder beruhigt oder das Feld geräumt. Auf- und anregend ist mittlerweile nur noch der Streit um Methoden und Perspektiven.[1] Im Grunde betritt man bei den Cold War Studies eine riesige Werkstatt, in der die neuesten Instrumente der Zeitgeschichte auf ihre Belastbarkeit geprüft und ständig neue Versuchsanordnungen getestet werden.
Die Rede ist von einer Auffächerung des historischen Blicks. Erstens sehen sich heutige Cold War Studies einer multipolaren und transnationalen Historiografie verpflichtet. Selbstverständlich gebührt den Epizentren, den USA und der Sowjetunion, weiterhin besondere Beachtung. Aber mehr denn je richtet sich das Interesse auf die vermeintliche Peripherie, auf die Beziehungen zwischen „schwachen” Entwicklungsländern und „starken” Führungsmächten und nicht zuletzt auf die Verflechtungen der „Schwachen” untereinander. Zweitens werden Rolle und Bedeutung historischer Akteure neu gewichtet. Repräsentanten kleiner oder minder mächtiger Staaten, die lange Zeit nur als Anhängsel der Großen oder Bauern auf dem Schachbrett der Weltpolitik betrachtet wurden, treten nunmehr in ungewohnter Weise in Erscheinung. Davon abgesehen, sind auch die Entscheidungsprozesse in den Zentren Gegenstand einer kritischen Überprüfung. Drittens schließlich geht es den Cold War Studies um eine Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges. Obwohl Diplomatie- und Militärgeschichte weiterhin feste Größen bleiben, geben sie der Forschung längst nicht mehr den Takt vor. Vielmehr wird die Politik des Kalten Krieges als „totale Politik” verstanden, die tief in die Poren der beteiligten Gesellschaften eindrang und überall bleibende Spuren hinterließ – im sozialen und kulturellen Leben, in der Wirtschaft wie in der Wissenschaft, in Bildung, Erziehung und Medien, in den Beziehungen zwischen Geschlechtern, Klassen und ethnischen Gruppen. Insgesamt zielen die Cold War Studies also auf ein renoviertes Verständnis von historischen Räumen, politischen Handelns und gesellschaftlicher Nachhaltigkeit.[2]
Zur multipolaren Perspektive
Die lange Zeit populäre Charakterisierung des Kalten Krieges als „Long Peace” hat sich verbraucht.[3] Störend ist nicht allein ihre Fixierung auf die nördliche Halbkugel, sondern auch die Verbeugung vor dem Historismus – die Unterstellung, dass Geschichte allein im Handeln der Hegemonialen zu sich selbst findet. Gewiss gehört die Verhinderung eines Atomkrieges zu den prominenten Kapiteln des Kalten Krieges; aber der regionale Frieden war nur um den Preis eines globalisierten heißen Krieges zu haben. Mehr als 150 größere bewaffnete Konflikte wurden zwischen 1947 und 1991 ausgefochten, vielfach mit einer Strategie vorsätzlichen Terrors gegen Zivilisten, mit Vertreibungen und verbrannter Erde, bezahlt mit – wie bisweilen geschätzt wird – bis zu 20 Millionen Opfern.
Ironischerweise beförderte die Atombombe einen großen Teil dieser Kriege – ausgerechnet die Waffe also, die den Krieg in den Zentren als Mittel der Politik entwertete, weil die Vernichtung des Anderen nur um den Preis der eigenen Auslöschung zu haben war. Bei aller Zurückhaltung, die den Großmächten wegen dieser Unkalkulierbarkeit aufgegeben war, bleibt festzuhalten: Die Präsenz von Massenvernichtungswaffen wurde nicht allein als Einschränkung der Macht, sondern im gleichen Maße als Gelegenheit zur Ausweitung und Projektion von Macht begriffen. Beide Seiten hatten es auf eine Schärfung der stumpfen Waffe angelegt und trachteten danach, aus dem militärisch Wertlosen politischen Mehrwert zu schlagen.
Dementsprechend meldeten die USA und die UdSSR geopolitische Ansprüche an und gingen Verpflichtungen ein, die sie sich als konventionell gerüstete Mächte schwerlich hätten leisten können. Zu beobachten ist der selbst verordnete Aufstieg in eine politisch „höhere Gewichtsklasse”, ablesbar an der propagandistischen Karriere des Adjektivs „vital”. Selten kam die Rede über vermeintlich „lebenswichtige Regionen” jenseits der eigenen Grenzen derart häufig und penetrant zum Zuge wie im Kalten Krieg. Auf diese Weise wurden nicht nur zusätzliche Reibungspunkte geschaffen. Beide Seiten hatten sich überdies den Zwang zur kontinuierlichen Beglaubigung ihres Status auferlegt und neigten zur übermäßigen Investition symbolischen Kapitals, mit dem Ergebnis, dass ein aus allen historischen Epochen bekanntes Problem über die Maßen aufgebläht wurde: Glaubwürdigkeit. Als unzuverlässig, bei der Verfolgung seiner Interessen unentschieden oder gar schwach wahrgenommen zu werden, galt mehr denn je als inakzeptabel. Wort zu halten, das Gesicht nicht zu verlieren, gegenüber Freunden stets verlässlich und gegenüber Feinden gleichermaßen unmissverständlich aufzutreten – im Kalten Krieg geriet der Kampf um die wichtigste psychologische Ressource der Macht zu einem psychologischen Abnutzungskrieg.
Atomwaffen, so die hintergründige Logik von Großmachtpolitik in der „Dritten Welt”, konnten nur dann politischen Gewinn abwerfen, wenn die Angst vor der Bombe nicht als Verängstigung in Erscheinung trat, wenn man den Gegner herausforderte und über die eigenen Absichten im Unklaren ließ. Was damit gemeint war, bekam die Bevölkerung in den beiden Koreas als eine der Ersten zu spüren. Im Grunde hätte der Krieg nach der Wiederherstellung des territorialen Status quo ante im Frühjahr 1951 beendet werden können. Warum dennoch zwei Jahre weiter gekämpft wurde, ist mit dem aberwitzigen Konflikt über die Repatriierung von Kriegsgefangenen nicht hinreichend zu erklären. Plausibler scheint, dass der VR China und Stalin an einem Exempel für künftige Konflikte in der „Dritten Welt” gelegen war. Und dass die Regierung Truman im Vertrauen auf die einschüchternde Kraft ihres Atomwaffenpotenzials glaubte, den Preis der Abschreckung vor weiteren Aggressionen in die Höhe treiben zu müssen.
Die sogenannte Peripherie wurde also zwangsläufig zum Schauplatz des Streits zwischen den Zentren. 1964 waren – um ein wenig bekanntes Beispiel zu nennen – mehr britische Truppen östlich von Suez stationiert als an der NATO-Zentralfront in Europa, 54.000 davon allein in Südostasien. Beide Blöcke suchten sich ihre Verbündeten in der „Dritten Welt”, brachten sie gegeneinander in Stellung, belieferten sie mit Waffen und hetzten sie in Kriege, in denen die Blockkonfrontation stellvertretend nachvollzogen wurde, in denen der Erfolg oder Misserfolg des lokalen Akteurs als Erfolg der westlichen oder östlichen Hegemonialmacht gedeutet wurde. Noch im hintersten Winkel der Welt erschien ein permanenter Konflikt allemal vorteilhafter als eine Konfliktlösung, die dem ideologischen Gegner hätte zugutekommen können. Dass zahlreiche Kriege, die sich andernfalls schnell erschöpft hätten, in der Folge intensiviert oder gar auf Dauer gestellt wurden, ist kaum zu bestreiten.
Andererseits wurde in der „Dritten Welt” keineswegs nur um Fragen des Kalten Krieges gestritten. Ungezählte „kleine Kriege” waren dem zählebigen Erbe der Kolonialzeit geschuldet – entweder dem Bestreben europäischer Mächte, ihre traditionelle Vorherrschaft zu verlängern, oder eben dem Unabhängigkeitsbestreben der lokalen Bevölkerung. Folglich blieb die kommunistische oder sozialistische Ausrichtung vieler antikolonialer Widerstandsbewegungen oft recht oberflächlich; selbst auf den ersten Blick unverhüllte Parteinahmen für Moskau lassen keineswegs auf eine „Fernsteuerung” durch den Kreml schließen. Bisweilen sahen lokale Eliten darin nichts weiter als opportune Zweckbündnisse zur besseren Regelung ihrer lokalen Probleme – von der Wirtschaftsentwicklung bis hin zur ethnischen oder religiösen Kräftebalance in ihrem neuen Staat.[4]
Indem sie sich von der bipolaren, auf die beiden Supermächte fixierten Perspektive lösen, fragen die Cold War Studies auch und gerade nach der Rolle und dem Stellenwert dieser „kleinen Akteure”. Es geht also um eine nuancierte Betrachtung multilateraler Konfliktkonstellationen. Wie sich immer deutlicher zeigt, ist die Vorstellung einseitiger Abhängigkeit nicht haltbar. Auch von einem disziplinierenden Einfluss der Hegemonialmächte sollte nur mit großen Einschränkungen die Rede sein. Gerade Verbündete oder Umworbene in der „Dritten Welt” verstanden sich auf ein virtuoses Nutzen von Handlungsspielräumen. In vielen Fällen reichte die bloße Drohung der vermeintlich „Schwachen”, ein ideologisches Lager zu verlassen oder die Schutzmacht als unzuverlässig bloßzustellen, zur erfolgreichen Erpressung der „starken Seite” – und zwar umso mehr, als die Hegemonialmächte großen Wert darauf legten, ihre politische und militärische Position an keinem Ort der Welt in Frage stellen zu lassen. Eben weil die „Starken” in einer „Glaubwürdigkeitsfalle” saßen, ist vielfach eine „Tyrannei der Schwachen” zu beobachten. In einem wenig schmeichelhaften, aber zutreffenden Bild gesprochen: Überraschend oft wedelte der Schwanz mit dem Hund.[5]
Zur Neugewichtung politischer Akteure
Dass Chiang Kai-shek, Kim Il Sung, Ngo Dinh Diem, Ho Chi Minh oder Hafizullah Amin wiederholt zum Greifen nahe Friedensregelungen sabotierten; dass Mao nach dem Erfolg der chinesischen Winteroffensive 1950 nicht den Sieg über die USA erklärte, sondern ungeachtet aller menschlichen Verluste und volkswirtschaftlichen Belastungen den Krieg in Korea weiterführte; dass er während der Kulturrevolution eine antisowjetische Hysterie anfachte und am Ussuri 1969 einen Grenzkrieg mit der UdSSR anzettelte; dass Nordkorea – nicht Stalin oder Mao – die treibende Kraft beim Überfall auf den Süden des Landes war und Ende der 1960er-Jahre mit Hunderten von Überfällen auf südkoreanische und amerikanische Posten erneut einen Vereinigungskrieg lostreten wollte; dass Fidel Castro während der Kuba-Krise keine Gelegenheit ausließ, auf eigene Rechnung zu provozieren und eine diplomatische Beilegung des Konflikts zu sabotieren, dass er für den Fall einer amerikanischen Invasion der Insel Chruschtschow gar zu einem nuklearen Erstschlag gegen die USA riet und dass er 25 Jahre später erneut und zum Entsetzen Moskaus die Konfrontation mit den USA, nämlich in Angola, suchte – all dies zeigt auf unterschiedliche Weise die Grenzen der Großmachtpolitik auf. In der Erwartung formuliert, es stets mit einer nach Belieben steuerbaren Klientel zu tun zu haben, sah man sich ein um das andere Mal Akteuren gegenüber, die sich nicht einschüchtern und schon gar nicht demütigen lassen wollten.
Wie ist vor diesem Hintergrund die Politik der Blockfreien zu verorten, jener Akteure also, die sich keinem ideologischen Lager anschlossen und ihre Anliegen bisweilen mit einer Pendeldiplomatie zwischen Ost und West zu nutzen verstanden? Wann und in welcher Absicht beobachteten sie den Kalten Krieg im Windschatten der Geschichte, bei welcher Gelegenheit versuchten sie Einfluss zu nehmen, in welcher Weise und mit welchem Ergebnis? Diesen Fragen werden sich die Cold War Studies – Sprachbarrieren und unzugängliche Archive hin oder her – künftig intensiver als bisher annehmen müssen.[6]
Welche Rolle „kleine” oder minder mächtige Akteure innerhalb des westlichen und östlichen Bündnissystems spielten, also die „Hintersassen” in der NATO und im Warschauer Pakt, gehörte lange Zeit ebenfalls zu den vernachlässigten Fragen zeithistorischer Forschung. Die „Archivrevolution” im Osten – von Wladimir Putin und seinen bürokratischen Satrapen mittlerweile beendet – eröffnete aber zumindest punktuelle Einblicke in die konfliktträchtigen Beziehungen zwischen Moskau, Ostberlin, Budapest, Warschau, Prag und Bukarest. Wenn auch noch längst nicht tiefenscharf, ist das Bild der seit 1953 periodisch wiederkehrenden Krisen im Ostblock in jüngster Zeit deutlich differenzierter geworden.[7] Selbst mit Blick auf die NATO ist Bemerkenswertes zu berichten. Bekanntlich sahen die USA im Ost-West-Konflikt ein nützliches Instrument, um das westliche Bündnis zu festigen und ihre Partner zu disziplinieren. Bisweilen hatte es gar den Anschein, als würden zu diesem Zweck die Spannungen des Kalten Krieges geradezu konserviert, wenn nicht verschärft – etwa anlässlich der Debatten über eine deutsche Blockneutralität. So erfolgreich diese Politik in vielerlei Hinsicht war, so wenig konnte sich Washington der Disziplin seiner Gefolgschaft gewiss sein. Churchills im Frühjahr 1953 gestartete Initiative für eine deutsche Wiedervereinigung passte ebenso wenig ins Konzept wie die französischen Einreden gegen eine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, ganz zu schweigen vom britisch-französischen Abenteuer in Suez 1956. Und im Konflikt über die Zukunft Indochinas mussten sich Eisenhower und Dulles am Ende nolens volens fügen: Erst der Druck aus Westeuropa machte es möglich, dass 1954 das Indochina-Abkommen in Genf unterzeichnet und im Jahr darauf am gleichen Ort ein west-östliches Gipfeltreffen abgehalten wurde.[8]
Am Beispiel der sich von 1958 bis 1961 hinziehenden Berlinkrise ist zu erkennen, dass Großbritannien, Kanada und die skandinavischen NATO-Mitglieder auch bei anderer Gelegenheit ihren Spielraum zu nutzen wussten. Unwillig, der von den USA, Frankreich und der Bundesrepublik verfochtenen harten Linie zu folgen, drängten sie in internen Konsultationen auf eine „selektive Entspannung” und auf Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen mit Moskau. Nicht auszuschließen ist, dass diese Initiativen Chruschtschow dazu bewogen, Anfang 1960 eine ungewöhnlich große Reduktion sowjetischer Truppen anzukündigen. In jedem Fall wurden die westlichen Antworten auf das Berlin-Ultimatum entschärft und Denkpausen genutzt – eine wichtige Hilfestellung für Chruschtschow, die ohnehin nur als Bluff gedachte Ankündigung eines separaten Friedensvertrags mit der DDR am Ende ohne Gesichtsverlust fallenzulassen. Die Lösung der Krise hauptsächlich auf die Demonstration amerikanischer Stärke zurückzuführen, erscheint vor diesem Hintergrund endgültig als obsoletes Argument. Mehr noch: Gerade die Berlinkrise wurde von etlichen NATO-Partnern zum Anlass genommen, über Alternativen zur „Politik der Stärke” nachzudenken; Konrad Adenauer eingeschlossen, der nach dem Hinweis von John Foster Dulles, dass der „Ernstfall” in Berlin auf den Einsatz von Atomwaffen hinauslaufen könnte, erstmals eine Anerkennung der DDR in Erwägung zog. So gesehen, steht die zweite Berlinkrise für die Geburtsstunde der neuen Ost- und Entspannungspolitik aus den 1960er- und 70er-Jahren.[9]
„Große” wie „kleine” Akteure aus der Nähe zu beobachten hat nicht zuletzt zu erheblichen Zweifeln an der landläufigen, über Jahrzehnte gepflegten Vorstellung „rationalen Handelns” geführt. Je weiter man ins Detail geht, desto deutlicher tritt die Störanfälligkeit politischen Kommunizierens und Entscheidens hervor. Gerade die zahlreichen Krisen im Kalten Krieg sind diesbezüglich aufschlussreich. Dass in unvorhergesehenen Situationen und unter großem Zeitdruck Entscheidungen in kleiner Runde getroffen werden, liegt im Wesen jeder Krisenpolitik; in dieser Hinsicht unterscheidet sich der Kalte Krieg kaum von anderen Epochen. Aber unter den besonderen Bedingungen der Zeit – im Zeichen einer über die Maßen aufgeheizten ideologischen Grundstimmung, der übermäßigen Sorge um Prestige und Glaubwürdigkeit und nicht zuletzt angesichts der Furcht aller Akteure, als persönlich schwach und unentschlossen wahrgenommen zu werden – kamen die negativen Seiten der „Kleingruppenpolitik” ganz besonders zum Tragen.
Warum exklusive Zirkel zu Gefangenen ihrer selbst gewählten Prämissen werden und stets Gefahr laufen, eine sorgsam orchestrierte Krisenpolitik zu ruinieren, lässt sich beispielhaft am Koreakrieg, der Suez- und Kuba-Krise sowie des Yom Kippur-Krieges beobachten – Fallbeispiele, die erst in jüngster Zeit auf ihre Gemeinsamkeiten hin befragt werden. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Erstens wurde eine als defizitär erkannte Militärplanung nicht korrigiert, weil aus Angst vor „Informationslecks” relevante Informationen entweder nicht kommuniziert oder fachkundige Dritte erst gar nicht hinzugezogen wurden. Zweitens zeigte sich, dass erhöhter Zeitdruck gerade in Kleingruppen dazu führt, um eines raschen Konsenses willen auch Beschlüsse wider besseres Wissen abzunicken oder eine Debatte über das Für und Wider erst gar nicht zu führen. Drittens gaben phasenweise Dezisionisten den Ton an, die jenseits der Beförderung ihrer bürokratischen Eigeninteressen wenig im Sinn hatten, sich aber mit entschlossenem Auftreten und schierem Behauptungswillen dennoch durchsetzen konnten. Dass aus derlei Gründen entscheidungsrelevante Ressourcen verknappt und alternative Optionen unzureichend gewürdigt wurden, war kein Einzelfall. Es handelt sich um eine Konstante der Krisenpolitik jener Zeit – und um einen weiteren guten Grund zu dem Resümee, dass vielfach eher Glück den Ausschlag gab als der Verstand und die Kalkulierbarkeit der Akteure.[10]
Zur Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges
So wenig sich die Cold War Studies vom Terrain der Politik- und Ereignisgeschichte lösen können, so sehr haben sie deren klassische Paradigmen hinter sich gelassen. Weil die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik im Kalten Krieg nichts mehr galten, weil der äußere Feind gleichsam als steinerner Gast auch im Inneren stets präsent war, weil die Übergänge zwischen Zivilem und Militärischem ins Rutschen gerieten, weil mitten im Frieden der Krieg, ob in der privaten Imagination oder im öffentlichen Diskurs, allgegenwärtig blieb – eben darum verlangt die Geschichte dieser Zeit danach, als Gesellschaftsgeschichte verstanden und geschrieben zu werden. Im Grunde geht es dabei um eine doppelte Fragestellung: Welche Folgen hatten politische, ideologische und militärische Weichenstellungen für die beteiligten Gesellschaften? Und umgekehrt: Wie beeinflussten gesellschaftliche Vektoren – Kultur, Mentalitäten, Selbst- und Fremdbilder – die „große Politik”?
Diese wechselseitige Einflussnahme lässt sich auf dem Feld der Rüstungsökonomie eindrucksvoll illustrieren. Einerseits huldigten Regierungen in Ost und West einer Politik der „Permanent Preparedness” oder jederzeitigen Bereitschaft zum Krieg. Man könnte auch von „totaler Mobilisierung” oder dem Versuch sprechen, möglichst viele wirtschaftliche, wissenschaftliche und technologische Ressourcen in den Dienst des Militärs zu stellen. Dessen Wert wurde nicht mehr in Infanteriedivisionen angegeben, sondern mit der Stückzahl und Sprengkraft von Atom- und Wasserstoffbomben samt ihrer Trägersysteme bemessen – mit der Folge, dass militärische Auftraggeber ein nie gekanntes Interesse an Forschung und Technologie entwickelten und eine dauerhafte Allianz mit industriellen Anbietern auf den Weg brachten.
Andererseits war die „Mobilisierung von oben” mit einer „Selbstmobilisierung von unten” verkoppelt. In anderen Worten: Die Pointe der „Permanent Preparedness” liegt in der Verschränkung politischer und sozialer Interessen an Rüstung. Die Rede ist von der Genese, dem Aufstieg und dem Behauptungswillen professioneller Eliten wie sozialer Milieus, die sich für den Erhalt, wenn nicht den Ausbau rüstungsgeleiteter Investitionen eigenständig, mithin jenseits staatlicher Vorgaben engagieren. In den USA ist seit den 1960er-Jahren eine stetige Dynamisierung dieses Engagements zu beobachten – parallel zu der Umschichtung von Investitionen für militärische Forschung und Entwicklung. Kamen bis zu diesem Zeitpunkt noch gut 60 Prozent der zur Verfügung gestellten Gelder aus der Staatskasse, so kehrten sich die Verhältnisse in den 70er-Jahren um. Seither bestimmen die von Privatunternehmen und Universitäten akquirierten Mittel das Entwicklungstempo militärisch relevanter Hochtechnologie. Damit ist der Staat nicht aus dem Spiel. Aber die von oben verordnete Mobilisierung kriegstauglicher Ressourcen wird durch die Selbstmobilisierung der Privaten zu einem Mischsystem, einem „system of disorderly diversity”, ausgebaut. Ein vergleichbarer Prozess spielte sich in der UdSSR ab. Zweifellos hielt dort die staatliche Bürokratie das Heft bis zum Ende in der Hand. Doch im Laufe des Kalten Krieges ist eine deutliche Statusaufwertung von Wissenschaftlern und Technikern zu beobachten. Aus ihrer Mitte, der sogenannten Breschnew-Generation, machten viele in Verwaltung und Politik Karriere. Wie ihre amerikanischen Kollegen mussten sie zur Kooperation nicht angehalten oder gar zwangsverpflichtet werden. Im Gegenteil: Von sozialen Aufstiegserwartungen und politischen Machtinteressen motiviert, effektivierten sie die Produktion und Reproduktion einer Ökonomie der Gewalt.[11]
Hier wie dort kann also von einem neuen Typ der Rüstungs- und Kriegswirtschaft gesprochen werden. Er zeichnet sich durch zähe Nachhaltigkeit aus und relativiert den Spielraum einer auf Korrekturen bedachten Politik. Während des Kalten Krieges schossen die Rüstungsinvestitionen immer dann drastisch in die Höhe, wenn die politischen Spannungen am geringsten und die Aussichten auf eine Mäßigung der Blockkonkurrenz am günstigsten waren. Und noch nicht einmal der Zusammenbruch der UdSSR vermochte eine Trendwende einzuleiten. Im Gegenteil. Seit dem Jahr 2000 schlagen in den USA wie in der UdSSR wieder drastische Erhöhungen des Verteidigungsetats zu Buche, Investitionen, die mit neuen Bedrohungslagen kaum etwas zu tun haben, sondern verlässlich den im Kalten Krieg planierten Pfaden folgen: Innovation um der Überlegenheit willen, Überlegenheit zum Zwecke einer vermeintlichen Unverwundbarkeit – und eben auch zum Nutzen des sozialen Status und Prestiges der Betreiber.
Demgegenüber sind die Herausforderungen an eine Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges in der „Dritten Welt” ungleich komplexer. Viele Staaten und Regionen der „Peripherie” zahlten im Ringen um den „richtigen” Weg bekanntlich den höchsten Preis, manche blieben buchstäblich verwüstet auf der Strecke. Offenkundig ist auch in diesem Fall die Rolle lokaler Eliten neu zu bewerten: Von Guatemala über Vietnam und Angola bis nach Äthiopien trifft man immer wieder auf Potentaten, die im Kalten Krieg eine willkommene Gelegenheit zur Realisierung ihrer eigenen Visionen sahen. Auf eine ebenso schnelle wie radikale Modernisierung von Staat und Gesellschaft fixiert, wählten sie sich ihre hegemonialen Sponsoren in Ost oder West, einige wechselten gar nach Belieben die Seiten. Die Geschichte dieser Irrwege ist im Großen und Ganzen bekannt; sie handelt von fehlgeschlagenen Kollektivierungen der Landwirtschaft, massenhaften Umsiedlungen von Bauern, ethnischen Säuberungen und kaum vorstellbarem Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen – allein in Äthiopien verhungerten deshalb zwischen 1984 und 1986 weit über eine Million Menschen. Wie indes die lokalen Anteile zu gewichten sind und in welchem Umfang Interessen und Politik von Großmächten den Ausschlag gaben, wird erst vor dem Hintergrund noch zu leistender Einzelstudien zu beurteilen sein.[12]
Die materiellen Schäden – großflächige Umweltvernichtungen eingeschlossen – zu beseitigen, dürfte vergleichsweise das geringste Problem sein. Ganz anders ist es um den menschlichen Preis des Kalten Krieges in der „Dritten Welt” bestellt. Beispiel Nicaragua: Mit 30.000 Kriegstoten zahlte dieses Land in den 1980er-Jahren gemessen an der Zahl seiner Einwohner einen höheren Blutzoll als die USA in allen ihren Kriegen zwischen 1861 und 1975. Gesellschaften aber, die über Generationen hinweg Kriege und Bürgerkriege führen, schlagen auch den Überlebenden bleibende Narben. Dort eine tragfähige soziale Ordnung aufzubauen, scheitert oft an dem Umstand, dass die im Krieg sozialisierten Eliten sich an die Gewalt als Lebensform, mitunter auch als Quelle materieller Reproduktion, gewöhnt haben. Überdies gibt es kaum Beispiele für eine gelungene Integration nicht-staatlicher Kampfverbände – Milizen, Guerillas oder tribalistische Formationen – in demokratische Strukturen.[13]
Gewiss stößt die Annäherung an dieses Kapitel des Kalten Krieges noch immer auf gravierende Hindernisse. Wer indes den Anspruch auf eine raumgreifende transnationale Geschichte ernst nimmt, wird auch Mittel und Wege zur Überwindung der allfälligen Probleme finden. Die Sammlungen und Publikationen des „Cold War International History Project” (Washington, D.C.), des National Security Archive (Washington, D.C.) und des „Parallel History Project on Cooperative Security” (ETH Zürich) jedenfalls weisen in die richtige Richtung.[14]
Trotz aller Desiderata, trotz der auf absehbare Zeit unhintergehbaren Asymmetrie des Wissens über den Westen auf der einen Seite, den Ostblock und die „Dritte Welt” auf der anderen Seite, Forschungen zur Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges werfen nach wie vor den größten Gewinn der Cold War Studies ab. Von der Neuvermessung der politischen Ökonomie bis zur Kunst werden mittlerweile alle möglichen Terrains ausgeleuchtet: Sport, politisches Denken, Philosophie, intellektuelle Diskurse, nicht zu vergessen die Geschichte von Emotionen wie Angst, Unsicherheit und Verunsicherung. Vielversprechend bleibt diese Annäherung, weil sie von dem Bemühen um eine radikale Historisierung getragen ist. Ironischerweise ist es gerade diese Historisierung, nämlich die analytische Distanz jenseits normativer Begehren und politischer Selbstverortung, die unseren diagnostischen Blick auf die eigene Zeit schärft – macht sie doch deutlich, an welchen Stellen und in welcher Weise das Vergangene mit dem Gegenwärtigen noch immer verkoppelt ist. In anderen Worten: wie und warum das Erbe des Kalten Krieges nachwirkt.
Empfohlene Literatur zum Thema
Bernd Greiner, Christian Th. Müller, Walter Dierk, Claudia Weber (Hrsg.), Studien zum Kalten Krieg, 3 Bde., Hamburger Editionen, Hamburg 2006, ISBN 3-936096-61-9.
Melvyn Leffler, Odd Arne Westad (Hrsg.), History of the Cold War, Cambridge University Press, Cambridge 2001, ISBN 978-0-521-83938-9.
Norbert F. Pötzl, Rainer Traub (Hrsg.), Der Kalte Krieg. Wie die Welt den Wahnsinn des Wettrüstens überlebte, DVA, München 2009, ISBN 978-3-421-04398-6.
Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters, 1947-1991, Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-55633-3.
Martin Walker, The Cold War. A History, Holt, New York 1994, ISBN 0-8050-3190-1.
Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge University Press, Cambridge 2007, ISBN 978-0-521-70314-7.
Ruud van Dijk (Hrsg.), Encyclopedia of the Cold War, 2 Bde., Routledge, New York 2008, ISBN 0-415-97515-8.
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Anmerkungen
- ↑ Vgl. Odd Arne Westad (Hrsg.), Reviewing the Cold War. Approaches, Interpretations, Theory, London 2000.
- ↑ Diese Akzentverschiebung ist sehr gut am Beispiel der Zeitschrift „Journal of Cold War Studies“ zu beobachten. Siehe auch Ruud van Dijk u.a. (Hrsg.), Encyclopedia of the Cold War, 2 Bde., New York 2008.
- ↑ Insbesondere John Lewis Gaddis hat den Begriff des „Long Peace“ popularisiert. Vgl. ders., The Long Peace. Inquiries into the History of the Cold War, New York 1987.
- ↑ Vgl. Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hrsg), Heiße Kriege im Kalten Krieg. Studien zum Kalten Krieg, Bd. 1, Hamburg 2006.
- ↑ Vgl. Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of our Times, Cambridge 2007; Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters, 1947-1991, München 2007.
- ↑ Laufende Forschungsprojekte sind u.a. dokumentiert auf der Website des Parallel History Project on Cooperative Security (ehemals: Parallel History Project on NATO and the Warsaw Pact) der ETH Zürich, vgl. http://www.php.isn.ethz.ch/index.cfm (25.01.2010).
- ↑ Vgl. Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hrsg), Krisen im Kalten Krieg. Studien zum Kalten Krieg, Bd. 2, Hamburg 2008.
- ↑ Klaus Larres/Kenneth Osgood (Hrsg.), The Cold War after Stalin’s Death. A Missed Opportunity for Peace?, Lanham 2006.
- ↑ Vgl. Michael Lemke, Die Berlinkrisen von 1948/49 und 1958 bis 1963, in: Greiner/Müller/Walter (Hrsg.), Krisen im Kalten Krieg, Bd. 2, S. 204-244.
- ↑ Vgl. Bernd Greiner, Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg, München 2010.
- ↑ Vgl. James Carroll, House of War: The Pentagon and the Disastrous Rise of American Power, New York 2006; Aaron L. Friedberg, In the Shadow of the Garrison State: America’s Anti-Statism and its Cold War Grand Strategy, Princeton 2000.
- ↑ Vgl. David C. Engerman u.a. (Hrsg.), Staging Growth: Modernization, Development, and the Global Cold War, Amherst 2003.
- ↑ Vgl. Lynn Horton, Peasants in Arms: War and Peace in the Mountains of Nicaragua, 1979-1994, Athens 1998.
- ↑ Zum Cold War International History Project vgl. http://www.wilsoncenter.org/index.cfm?fuseaction=topics.home&topic_id=1409 (25.01.2010), zum National Security Archive vgl. http://www.gwu.edu/~nsarchiv/ (25.01.2010), zum Parallel History Project on Cooperative Security vgl. Fußnote 6.