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Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.

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Christian Mentel

Die Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit" und ihre Folgen

Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 06.01.2018
https://docupedia.de//zg/Mentel_debatte_amt_v1_de_2018

DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.1109.v1

Artikelbild: Die Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit" und ihre Folgen

Buchcover: Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Unter Mitarbeit von Annette Weinke und Andrea Wiegeshoff, Blessing Verlag © München 2010

Im Jahr 2010 entzündete sich am Abschlussbericht einer vom Auswärtigen Amt eingesetzten Historikerkommission zur Geschichte des Ministeriums vor und nach 1945 eine außergewöhnlich heftige fachliche und öffentliche Debatte. Indem die Vorgeschichte der Einsetzung der Kommission, die grundlegende Struktur sowie Ablauf und Themen der Debatte skizziert werden, wird zunächst ein Überblick der Auseinandersetzung ermöglicht. Es entsteht das Bild einer von unterschiedlichen Faktoren bestimmten vielschichtigen Debatte, in der sich wissenschaftliche und (geschichts)politische Argumente in unterschiedlichen Anteilen mischten.

Die Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit" und ihre Folgen

von Christian Mentel

Als im Oktober 2010 der Abschlussbericht einer vom Auswärtigen Amt (AA) eingesetzten Historikerkommission vorgestellt wurde, bedeutete dies den Startschuss für eine zeithistorische Debatte, wie man sie in Deutschland seit mehr als einer Dekade nicht mehr erlebt hatte.[1] In außergewöhnlicher Heftigkeit wurde monatelang sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch in der Fachwelt über das von Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann verantwortete Werk „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik” gestritten.[2]

Dabei waren die zentralen Aussagen im Grunde altbekannt. Denn die vier Kommissionsmitglieder waren gemeinsam mit ihren zwölf wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen[3] zu dem Ergebnis gekommen, dass sich das Auswärtige Amt aktiv an NS-Verbrechen beteiligt habe – deutsche Diplomaten seien nicht nur zu Mitwissern, sondern auch zu Mittätern geworden. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Personalkontinuität zwischen dem Außenministerium des NS-Staats und der Bundesrepublik habe sich zudem seit den 1950er-Jahren ein Geschichtsbild innerhalb des AA durchgesetzt, das diese Vergangenheit ausgeblendet, umgedeutet und historische Belastungen relativiert habe. Nichtsdestoweniger habe das AA mit diesem Personal aber erfolgreich dazu beigetragen, die Bundesrepublik in der Gemeinschaft westlicher Demokratien zu etablieren. Bereits am Veröffentlichungstag war die Erstauflage ausverkauft, fünf weitere wurden gedruckt. Insgesamt 80.000 Exemplare des 880 Seiten umfassenden und auch von der Bundeszentrale für politische Bildung aufgelegten Bands gingen über den Ladentisch, 2014 erschien eine polnische Ausgabe,[4] und auch nach Japan wurden die Übersetzungsrechte vergeben.

Bevor im Folgenden die grundsätzliche Struktur und wesentlichen Streitpunkte der Debatte skizziert werden, wird zunächst ihre Vorgeschichte und damit der Hintergrund umrissen, der die Auseinandersetzung bereits maßgeblich vorprägte. Danach werden ihre wichtigsten Auswirkungen auf Politik und Geschichtswissenschaft dargestellt, gefolgt von einem Überblick der hauptsächlichen Konfliktlinien sowie der medialen und sonstigen Rahmenbedingungen. Abschließend wird die Debatte eingeordnet und bewertet.


Die Vorgeschichte

Die Wurzeln der Debatte, die sich ab Oktober 2010 entwickelte, reichen bis in den Mai 2003 zurück, als in der Hauszeitschrift des Ministeriums, „internAA”, ein ehrender Nachruf auf den verstorbenen ehemaligen Generalkonsul Franz Nüßlein erschien. Ungeprüft flossen hier lückenhafte, geschönte und verfälschende Angaben aus dessen Personalakte ein, die vor allem die Tätigkeit des über Tod oder Leben befindenden Juristen und NSDAP-Mitglieds im besetzten Prag betrafen. Bei Marga Henseler, einer ehemaligen Mitarbeiterin des AA, die Nüßlein noch aus dieser Zeit persönlich kannte, stieß das auf entschiedenen Widerspruch. Nachdem ein erster erboster Protestbrief gegen diese ihrer Meinung nach geschichtsverfälschende Ehrung eines „gnadenlosen Juristen” an Außenminister Joschka Fischer diesen nicht erreichte und sie nur eine abwiegelnde Antwort erhielt, stellte sich der Weg über Bundeskanzler Gerhard Schröder als erfolgsträchtiger heraus. Fischer, dem der Brief nun vorgelegt wurde, pflichtete Henseler bei und verfügte im September 2003, für frühere Mitglieder der NSDAP und ihrer Unterorganisationen fortan keine Ehrbezeugungen mehr vorzunehmen.

Diese über ein Jahr ohne Aufsehen praktizierte Regelung machte der pensionierte Botschafter Heinz Schneppen im Januar 2005 mit einem Leserbrief in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” (FAZ) publik, nachdem die von ihm erwartete Todesanzeige für den verstorbenen prominenten Botschafter a. D. Franz Krapf, früher Mitglied der NSDAP und SS, ausgeblieben war und er sich über den Grund hierfür erkundigt hatte. Dies löste eine Welle des Protests von ehemaligen Angehörigen des AA aus. Diese Ehemaligen – intern ironisch „Mumien” genannt – trugen ihren Widerspruch vornehmlich durch Leserbriefe, gleichfalls in der „FAZ”, in die öffentliche Arena und schalteten hier auch eine großformatige Todesanzeige für Krapf, die von deutlich über hundert ehemaligen Botschafter/innen und Staatssekretären unterzeichnet wurde. Der „Aufstand der Mumien”, wie die Affäre um die Nachruf-Praxis in der Presse umgehend tituliert wurde, zog rasch weitere Kreise. Selbst eine wenig später veranlasste abermalige Änderung – Würdigungen entfielen nun gänzlich, stattdessen wurde über sämtliche Todesfälle lediglich noch knapp informiert – konnte nicht verhindern, dass sich nunmehr auch aktive Amtsangehörige öffentlich gegen ihren Minister stellten. In einem Offenen Brief warfen sie Fischer mit Verweis auf seine „68er”-Vergangenheit vor, sich in beschämender Weise als „Richter” über andere „aufzuspielen”. In dieser Situation ging der Außenminister in die Offensive und berief – nach ersten Ankündigungen im April 2005 – im Juli desselben Jahres eine Historikerkommission.

Als Mitglieder der aus renommierten Forschern zusammengesetzten Kommission wurden mit Eckart Conze von der Universität Marburg, Norbert Frei von der Universität Jena und dem 2008 krankheitsbedingt ausgeschiedenen Klaus Hildebrand von der Universität Bonn drei deutsche Geschichtsprofessoren berufen; dazu stießen Moshe Zimmermann von der Hebrew University Jerusalem und Peter Hayes von der Northwestern University Evanston/Illinois. Hayes folgte auf den bereits kurz nach seiner Berufung aus gesundheitlichen Gründen ausgeschiedenen und bald darauf verstorbenen Henry A. Turner von der Yale University in New Haven/Connecticut. Ihr vom AA übertragener Auftrag lautete, „die Rolle des Auswärtigen Dienstes in der Zeit des Nationalsozialismus, den Umgang mit dieser Vergangenheit nach der Wiedergründung des Auswärtigen Amts 1951 und die Frage personeller Kontinuität bzw. Diskontinuität nach 1945” zu erforschen. Die „Unabhängige Historikerkommission” arbeitete dabei in eigener Verantwortlichkeit; von den bereitgestellten Finanzmitteln in Höhe von 1,5 Millionen Euro verausgabte sie 1,1 Millionen. Die eigentliche Arbeit wurde im August 2006 aufgenommen, da sich die Unterzeichnung des Vertrags aufgrund des Regierungswechsels 2005 verzögert hatte. Gut vier Jahre später, im Oktober 2010, übergaben die vier Historiker die Studie an Außenminister Guido Westerwelle, der knapp ein Jahr zuvor Frank-Walter Steinmeier an der Ministeriumsspitze abgelöst hatte.[5]

Gebäude des Auswärtigen Amtes, Wilhelmstraße 75/76, Berlin ca. 1935. Fotograf unbekannt, Quelle: Bundesarchiv Bild-Nr. 146-1983-028-08 © mit freundlicher Genehmigung
Gebäude des Auswärtigen Amtes, Wilhelmstraße 75/76, Berlin ca. 1935. Fotograf unbekannt, Quelle: Bundesarchiv Bild-Nr. 146-1983-028-08 © mit freundlicher Genehmigung


Rahmen und Struktur der Debatte

Die Debatte vollzog sich zwischen Herbst 2010 und Sommer 2012 in mehreren Schüben mit wechselnden thematischen Schwerpunkten, auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedensten Formaten. Kurze Live-Interviews im Radio standen neben umfangreichen Fachrezensionen, Leserbriefe neben Gastbeiträgen, redaktionellen Berichten und Kommentaren sowie Besprechungen in der regionalen und überregionalen Tages- und Wochenpresse sowie auf privaten Websites. Unter (ehemaligen) Mitarbeitern des AA kursierten Stellungnahmen; ein pensionierter Diplomat versuchte gar – wenn auch erfolglos – eine Verbotsverfügung gegen die Studie zu erwirken, weil er sich in Bezug auf seine ehemalige SS-Mitgliedschaft falsch dargestellt sah.[6] Neben (Fach-)Redakteur/innen, Publizist/innen, akademisch tätigen Historiker/innen und Vertreter/innen ihrer Nachbardisziplinen beteiligten sich auch Politiker/innen, zahlreiche ehemalige Diplomat/innen und weitere Interessierte.

Entsprechend ist das Spektrum der (mit wenigen Ausnahmen) praktisch ausschließlich aus Deutschland stammenden und in deutschen Medien publizierten Wortmeldungen breit gefächert. Es umfasst überschwängliches Lob ebenso wie kollegial-wohlwollende Ergänzungen und Korrekturen einzelner Aussagen und Details, aber auch schroffe Bewertungen von Abschnitten der Studie ebenso wie Belehrungen, politische Unterstellungen und Bewertungen sowie grundsätzliche Ent- und Abwertungen der Studie und der Kommissionsmitglieder. Im Gegenzug war es vor allem die Historikerkommission, die die vorgebrachte Kritik nicht nur inhaltlich zurückwies, sondern die Kritiker ebenso hart anging. Die polarisierenden und überspitzten Aussagen teilten für viele Beobachter das Debattenfeld schon früh in die zwei Lager von Pro und Contra. Gleichwohl hörte man von ebenso namhaften wie politisch und methodisch unterschiedlich ausgerichteten Historikern stets weit mehr ausgewogene Einschätzungen und differenzierte Zwischentöne, als in der Hitze des Gefechts mitunter wahrgenommen wurde.

Während die Verteidiger der Studie vornehmlich mit den Mitgliedern und Mitarbeiter/innen der Historikerkommission identifiziert wurden, profilierte sich der ehemalige Bundesbeamte, Bonner Honorarprofessor für Geschichte und „FAZ”-Journalist Rainer Blasius als lautstärkster Kritiker. Promoviert mit einer Arbeit zu AA-Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, hatte er bis 2000 zehn Jahre lang die im Auswärtigen Amt angesiedelte Außenstelle des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) sowie die dort erarbeitete Edition „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland” (AAPD) geleitet. Mit einer langen Reihe kritischer Artikel und der Öffnung der Leserbriefspalten der „FAZ” für eine außergewöhnlich große Anzahl kritischer Leserbriefe insbesondere pensionierter Diplomaten wurde das von Blasius geleitete Ressort „Politische Bücher” zum Gravitationszentrum der Kritik an „Das Amt und die Vergangenheit”. Überraschend war dies nicht: Bereits während der Nachruf-Affäre hatte Blasius den protestierenden Diplomaten publizistische Schützenhilfe geleistet und die Einsetzung und Arbeit der Kommission kritisch kommentiert.[7]

Die Debatte lässt sich grob in drei Phasen gliedern: Die erste und intensivste Phase, als die Studie in den Publikumsmedien breit rezipiert wurde, kann von Oktober 2010 bis Februar 2011 angesetzt werden. Mit dem Erscheinen umfangreicher Rezensionen in Fachzeitschriften ab Februar 2011 lässt sich der Beginn eines zweiten Abschnitts ausmachen, und als eine dritte und letzte Phase kann man schließlich den Zeitraum ab Oktober 2011 bis Juli 2012 fassen, in dem die weitestgehend verstummte Auseinandersetzung an einzelnen Streitpunkten wieder aufflammte. Entscheidende Schritte, die Debatte zu historisieren, wurden seitdem mit einer Fachtagung getan, die erstmals die wichtigsten Kontrahenten zusammenführte, mit dem Erscheinen eines Dokumentationsbands und ersten Deutungen der Auseinandersetzung von Fachleuten.


Die Streitpunkte

Die Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit” hatte schon begonnen, noch bevor das Buch am Tag seiner Veröffentlichung, dem 28. Oktober 2010, an Außenminister Guido Westerwelle übergeben und im Rahmen der Verlagspräsentation in Anwesenheit von Westerwelles Amtsvorgängern Steinmeier und Fischer unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit vorgestellt wurde. Denn trotz einer bestehenden Sperrfrist des Verlags hatte sich die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” (FAS) der Studie bereits am 24. Oktober mit einer Rezension und mehreren Interviews in ihrem Feuilleton gewidmet; für den darauf folgenden Montag stand „Der Spiegel” in den Startlöchern. So positiv und anerkennend der Grundtenor sowohl in der „FAS” als auch in den meisten anderen redaktionellen und nun vorgezogenen Beiträgen weiterer Zeitungen war, die ersten kritischen und Versäumnisse ausmachenden Stellungnahmen folgten auf dem Fuße.

Fünf thematische Komplexe lassen sich benennen, mittels derer sich die Kritik bündeln lässt, die gegenüber der Studie und ihren Autor/innen in den diversen Medien und auf verschiedenen Plattformen in den knapp zwei Jahren ihrer Dauer geäußert wurde. Als erster zentraler Kritikpunkt lässt sich die Schwerpunktsetzung der Forschungsarbeit identifizieren. Dass die Studie auf die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik fokussiere, blende „andere[r] Dimensionen der NS-Gewaltpolitik” aus, so etwa der Doyen der NS-Forschung Hans Mommsen.[8] Ähnlich kritisierte auch der am Institut für Zeitgeschichte tätige Privatdozent Johannes Hürter, dass mit der Diplomatiegeschichte die „traditionelle Aufgabe des Auswärtigen Dienstes fast ganz unter den Tisch” falle.[9] Der Geschichtsprofessor Richard J. Evans aus Cambridge machte eine „omnipräsente Tendenz” aus, „die aktive Beteiligung des Auswärtigen Amtes an etlichen der verbrecherischen Aktivitäten der Nationalsozialisten zu übertreiben”.[10] Für andere, etwa den Berliner Honorarprofessor Daniel Koerfer, kam der Widerstand im Auswärtigen Amt zu kurz, und nicht nur „FAZ”-Redakteur Rainer Blasius beklagte, dass „die großen Verdienste” mancher Diplomaten in der Nachkriegszeit „ignoriert oder marginalisiert” würden.[11]

Zweitens wurde angeprangert, die Studie beinhalte fragwürdige Aussagen und Argumentationen, die Autor/innen hätten also Quellen fehlerhaft interpretiert und unzulässig generalisierende beziehungsweise unzutreffende und nicht hinreichend belegte Schlussfolgerungen gezogen. Nicht nur für Koerfer war es „schlichtweg Unsinn”, dass dem AA angesichts einer Unterredung von Hitler mit Außenminister von Ribbentrop „die ‚Initiative zur Lösung der Judenfrage auf europäischer Ebene' untergeschoben wird”.[12] Neben zahlreichen anderen kritisierten die „Spiegel”-Redakteure Jan Friedmann und Klaus Wiegrefe pauschale „Aussagen über ‚die' Diplomaten, obwohl keineswegs alle Verbrechen begingen, wie der Bericht selbst an anderer Stelle” betone.[13] Für Hürter war der Kommissionsbericht eine „Mischung aus Überzeichnungen, Vereinfachungen, Widersprüchen und richtigen Beobachtungen”.[14]

Zum Dritten wurden der Kommission und ihren Mitarbeitern eigene (geschichts)politische Motive beziehungsweise Opportunismus gegenüber ihrem Auftraggeber unterstellt. Die Kommission habe, anstatt ein „Buch der Versöhnung” vorzulegen, ein „Buch der Rache” (Koerfer) verfasst und sich dabei, wie Blasius vorwarf, an DDR-Propagandapamphleten orientiert.[15] Eine „moralische Selbstgewissheit”, die „mehr der Geschichtspolitik als der Geschichtswissenschaft” zuzuordnen sei, beklagte der pensionierte Diplomat und promovierte Historiker Heinz Schneppen, der 2005 den „Aufstand der Mumien” ausgelöst hatte.[16] Der Politikwissenschaftler Christian Hacke befand, dass „die Verfasser kritiklos das Lied ihres Aufraggebers singen”,[17] und der AAPD-Hauptherausgeber und scheidende IfZ-Direktor Horst Möller warf der Kommission vor, sie habe durch „Ignorierung von Fakten” und „Falschdarstellung” ihren von Joschka Fischer erhaltenen Auftrag erfüllt.[18]

In einem vierten Kritik-Komplex lassen sich Zweifel an der wissenschaftlichen Kompetenz und Redlichkeit der Kommission und ihrer Mitarbeiter/innen zusammenfassen. Prägend war die Aufforderung an die vier Kommissionsmitglieder, erneut ein „historisches Proseminar” (Mommsen) zu besuchen, ebenso wie der Vorwurf, sich als Autoren ausgewiesen zu haben, obwohl sie selbst nur einen einzigen Tag im Archiv zugebracht hätten und somit doch bloße Herausgeber seien. Für Hürter kam dies einem „Etikettenschwindel” gleich, aber auch Evans warf den Kommissionsmitgliedern ihre offenbar „recht klein[e]” Rolle vor.[19] Dass die Kommission angab, sie könne sich nicht sicher sein, im Archiv des Auswärtigen Amts „wirklich alle für ihre Arbeit wesentlichen Unterlagen zu Gesicht bekommen zu haben”,[20] wollte der Berliner NS-Forscher Götz Aly jedoch nur für den Zeitraum bis in die 1990er-Jahre gelten lassen.[21] In umfassenderer Weise kritisierte Gregor Schöllgen, Mitherausgeber der AAPD-Edition, dass die Studie fälschlicherweise den Eindruck erwecke, das AA habe „seine Geschichte jahrzehntelang konsequent vorenthalten”.[22]

Schließlich wurde fünftens die Öffentlichkeitsarbeit des Verlags und der Kommission angegangen. Kritisiert wurde etwa, dass die Kommission lang bekannte Forschungsergebnisse zum AA der NS-Zeit als neue Erkenntnisse dargestellt, in sensationalistischer Art und Weise präsentiert und verkaufsfördernd in Szene gesetzt habe. So beklagte Blasius den Gestus, die Legende vom AA als einem „Hort des Widerstandes” nun endlich zerstört zu haben, obwohl sie schon längst nicht mehr bestanden habe.[23] Den größten Wirbel verursachte jedoch der in der Studie selbst nicht enthaltene, sondern zuerst von Conze in einem Interview gebrauchte Begriff, das Auswärtige Amt könne – wie die SS im Urteil des Nürnberger Prozesses 1946 – als „verbrecherische Organisation” gelten.[24] Dieser Einschätzung vermochte sich jedoch nicht einmal Kommissionsmitglied Norbert Frei anzuschließen, dem Militärgeschichtsexperten Sönke Neitzel kam er gar einer „Geschichtspornografie” gleich.[25]

Die Kommissionsmitglieder antworteten in insgesamt drei gemeinsamen Stellungnahmen[26] auf die vorgebrachte Kritik und die mitunter heftigen Angriffe. Sie erläuterten und verteidigten ihre Begriffsverwendungen, Quelleninterpretationen und Deutungen, die inhaltliche und methodische Anlage der Studie und wiesen auf forschungspraktische und handwerkliche Entscheidungen und Zwänge hin. Zugleich beklagten sie aber auch, wie etwa Moshe Zimmermann in einem Interview, das Buch sei „sehr selektiv” gelesen, Kontexte „ignoriert oder marginalisiert” worden. Es würde „auf sehr unfaire Art und Weise” versucht, „das Ansehen des Auswärtigen Amtes von damals zu retten” und die damals Handelnden „zu exkulpieren”. Vorwürfe wie die von Hans Mommsen seien nicht im Inhalt oder der Methodik der Studie begründet, vielmehr seien diese Kritiker offenbar „beleidigt”, selbst nicht in die Kommission berufen worden zu sein und strebten nun an, „das Werk zu ruinieren” und die Kommission zu „diskreditieren”.[27] Insbesondere die Angriffe auf die eigene fachliche Kompetenz und Vorwürfe mangelnder Redlichkeit wiesen die Kommissionsmitglieder nicht nur zurück, sondern antworteten mit nicht minder heftigen Gegenangriffen. Für sie war Blasius „Sprachrohr und Feder” der „Mumien”, der durch „raunende Fragen, beleidigende Unterstellungen und Falschbehauptungen” seit Jahren eine „Kampagne” betreibe. Ein Kritiker wie Koerfer habe offenbar „sämtliche Maßstäbe verloren”.[28] Auch sei Hürters Ton „zuletzt im Historikerstreit vor 25 Jahren gebräuchlich” gewesen, und er sehe offenbar – ganz wie sein Vorgesetzter Horst Möller – das Institut für Zeitgeschichte „in der Rolle einer geschichtspolitischen Revisions- und Kontrollinstanz”.[29] Ähnlich, wenn auch seltener und meist weniger scharf, äußerten sich die der Studie und Kommission wohlgesonnenen Debattenteilnehmer. Der Historiker Ulrich Herbert wies beispielsweise einzelne Wortmeldungen als „ungehörig” zurück oder qualifizierte sie als „Zumutungen”, die „wir in Deutschland lange nicht mehr gehört” hätten.[30] Für andere mutete die Kritik teils „bizarr” an, sogar „schäbig”. Vieles habe offenbar auch mit „akademischem Dünkel und kollegialer Rivalität” zu tun, Blasius wurde das zweifelhafte Prädikat eines „virtuosen Propagandisten” angeheftet.[31]


Politische Konsequenzen

Bereits im Vorfeld der Veröffentlichung von „Das Amt und die Vergangenheit” hatte Außenminister Guido Westerwelle eine staatssekretärsgeleitete Arbeitsgruppe eingesetzt, die die Erinnerungskultur des Auswärtigen Amts überprüfen sollte. Teil ihres Auftrags war auch die Nachrufpraxis, deren letzte Änderung nur wenige Monate zurücklag. Denn nach dem Regierungswechsel 2009 hatte Westerwelle wieder eingehendere Nachrufe – nach Einzelfallprüfung auch von Diplomaten mit NS-Vergangenheit – ermöglicht und damit die von Joschka Fischer eingeführte Regelung abgeschafft. Des Weiteren wurden sämtliche Selbstdarstellungen des AA und einzelner Botschaften unter die Lupe genommen, die in deutschen Auslandsvertretungen hängenden sogenannten Ahnengalerien, also Fotos ihrer jeweiligen früheren Leiter, grundsätzlich auf die Zeit nach der Wiedergründung 1951 beschränkt, die verbleibenden auf NS-Belastungen überprüft und teils mit einer Kommentierung versehen. Zudem wurde „Das Amt und die Vergangenheit” zur Pflichtlektüre in der Attaché-Ausbildung erklärt.[32] An dieser Stelle schaltete sich jedoch der frühere Bundesaußenminister Walter Scheel ein, der dem Band vorwarf, ehemalige Mitarbeiter „zu verleumden”, und verkündete, dass diese „Streitschrift” nur dann Pflichtlektüre bleiben könne, wenn ihr „ein kritischer Kommentar der Fachwissenschaft zur Seite gestellt wird”.[33]

Als eine solche Gegenschrift empfahl sich das im November 2013 erschienene, über 500 Seiten starke Buch „Diplomatenjagd. Joschka Fischer, seine Unabhängige Kommission und ‚Das Amt'” von Daniel Koerfer.[34] Die Hauptthese des nicht zuletzt aufgrund seiner Polemik ohne nachhaltige Wirkung gebliebenen Buchs lautet: „Das Amt und die Vergangenheit” sei eine von willfährigen Historikern ausgeführte „Strafaktion” Joschka Fischers gewesen, deren Ergebnis von vornherein festgestanden habe und bei der es darum gegangen sei, das AA und vor allem diejenigen Diplomaten zu diskreditieren, die Fischer Paroli geboten hätten. Die Erwin-Wickert-Stiftung, benannt nach dem dieser Gruppe zurechenbaren, 2008 verstorbenen Diplomaten und Literaten, hatte Koerfer daraufhin mit einem mit 10.000 Euro dotierten Preis ausgezeichnet und dem Auswärtigen Amt 1000 Exemplare des Buchs als Schenkung angeboten. Das AA lehnte die Annahme der Lieferung jedoch ab. Stattdessen orderte es in großer Zahl ein anderes Buch: „Zuspitzungen. Anmerkungen zu ‚Das Amt und die Vergangenheit‘“ des pensionierten Diplomaten Wolfgang Schultheiß. Darin gibt der Jurist die in der Debatte ausgetauschten Argumente wieder, wiegt sie gegeneinander ab und gelangt trotz klarer Kritik zu einem versöhnlichen Urteil über die Studie. Da das AA den schmalen Band all jenen Stellen zukommen ließ, die zuvor bereits den Kommissionsbericht erhalten hatten – insbesondere die weit über 200 Auslandsvertretungen –, macht ihn das, wenn schon nicht zur Gegenschrift, so doch zumindest zu einem semi-offiziellen Kommentar.[35]

Außenminister Westerwelle hatte sich bereits zuvor von „Das Amt und die Vergangenheit” distanziert, als er kundtat, dass mit der andauernden Debatte um die Studie, die „ein kontroverses Echo ausgelöst hat”, sich auch „unser Urteil weiter differenzieren” werde. In seiner Rede anlässlich der Übergabe hatte er sie noch ein „gewichtiges, […] wichtiges Werk” und ein „notwendiges Buch” genannt, das „aus den Diskussionen über das Selbstverständnis des Auswärtigen Amtes und der deutschen Diplomaten künftig nicht mehr wegzudenken sein” würde.[36] Diesen Stellenwert besitzt die Studie insbesondere im Rahmen der Diplomatenausbildung: Seit 2014 diskutieren Eckart Conze und Wolfgang Schultheiß in der Akademie Auswärtiger Dienst mit den Attachés der jeweils neuen Jahrgänge über den Kommissionsbericht.

In besonderer Weise wurde – nicht zuletzt von Joschka Fischer – der Sonderstatus des Auswärtigen Amts in Frage gestellt, als einziges Bundesministerium seine Alt-Akten nicht an das von Ressortinteressen freie Bundesarchiv abzugeben, sondern im hauseigenen Politischen Archiv selbst zu verwahren.[37] Dies war zum einen auf Aussagen der Historikerkommission zurückzuführen, das Archiv leide unter „strukturellen Sonderbedingungen”, die einem „demokratisch transparenten Archivzugang […] zuwiderlaufen” würden.[38] Zum anderen bezog sich dies auf einen Artikel von Rainer Blasius, in dem Tage vor Veröffentlichung der Studie Vorgänge zur Sprache gekommen waren, die die Auslöserin der Nachruf-Affäre Marga Henseler in ein zweifelhaftes Licht rückten. Die zugrunde liegenden Informationen stammten aus ihrer im Politischen Archiv verwahrten Personalakte, die für Archivnutzer aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes gesperrt ist.[39] Im Zuge der Überprüfung durch die Arbeitsgruppe des AA wurde daraufhin eine externe Evaluation des Hausarchivs in Auftrag aufgegeben, deren im März 2012 nach fast einjähriger Arbeit übergebener Bericht zu dem Schluss kam, es gebe „keinerlei Hinweise oder Vermutungen, dass der transparente und demokratische Zugang zu Archivalien durch interne Weisungen beschränkt” oder das Archiv durch Weisungen in seiner Arbeit behindert werde.[40] Während Rainer Blasius den Bericht in einem Leitartikel als „Rehabilitierung” des Archivs interpretierte, galt er der Historikerkommission als „Persilschein” mit zweifelhafter Methodik und Aussagekraft.[41]

Gegenstand (tages)politischer Diskussionen war die Studie besonders in den ersten Wochen nach der Veröffentlichung. So wurde etwa ins Gespräch gebracht, das für einige unzeitgemäß noch als „Auswärtiges Amt” bezeichnete Haus, das schon seit der Weimarer Republik kein abhängiges Amt mehr, sondern ein eigenständiges Ministerium war, umzubenennen.[42] Innerhalb des Bundestags zielte eine steigende Zahl parlamentarischer Anfragen und Initiativen auf den Umgang der Bundesregierung mit der NS-Vergangenheit und Fragen des Aktenzugangs ab, und es wurde gefordert, ähnliche Forschungsprojekte auch in anderen Behörden durchzuführen.[43]


Folgewirkungen für die Zeitgeschichtsforschung

In der Debatte äußerten sich Historiker/innen nicht nur in Interviews oder Beiträgen in der Presse oder veröffentlichten Rezensionen in Fachzeitschriften. Im Herbst 2011 und Winter 2012 fanden erste größere Konferenzen zum Thema statt;[44] es folgten einerseits neue Forschungen zu umstrittenen inhaltlichen Aussagen der Studie, andererseits weitergehende Reflexionen über die konzeptionelle Anlage der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, denen „Das Amt und die Vergangenheit” und die Debatte als Ausgangs- und Referenzpunkt dienten.[45] Mit diesem fortlaufenden Forschungsprozess und ersten Ansätzen zur Historisierung begann sich die Debatte zunehmend produktiv zu wandeln, um schließlich im allgemeinen Forschungsdiskurs aufzugehen. Daneben intensivierte sich der fachinterne Austausch über Grundsatzfragen, etwa hinsichtlich der Chancen und Risiken der von Behörden finanzierten historischen Forschung sowie über die praktischen Herausforderungen solcher Projekte.[46] Dies war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass nun in großer Zahl und dichter Abfolge Ministerien und nachgeordnete Behörden Historikerkommissionen beriefen und Forschungsprojekte zu ihrer NS-Vergangenheit initiierten. Das Vorgehen und die Erfahrungen der Historikerkommission des AA, ihre Studie und die Debatte stellten dabei für viele Forscher/innen die unausgesprochene positive wie negative Vergleichsinstanz dar.

Ein zentrales Ereignis führte im Juni 2013 die entscheidenden Debattenteilnehmer – darunter Conze und Zimmermann, Mommsen, Hürter, Blasius, Koerfer und Schneppen – für drei Tage an einem Ort zusammen: die Fachkonferenz „Das Auswärtige Amt in der NS-Diktatur” in der Akademie für Politische Bildung Tutzing.[47] Die dort stattgefundene, von den bisherigen kaum miteinander versöhnbaren Frontstellungen weitgehend befreite Diskussion über realgeschichtliche Fragen öffnete den Blick insbesondere auf zukünftige Forschungsperspektiven. Sie führte darüber hinaus zu einer Art Konsens über die umstrittene Rolle des Auswärtigen Amts in der NS-Zeit. Der ehemalige Mitarbeiter der AAPD-Edition und Co-Organisator der Konferenz Michael Mayer, der sich in der Debatte kritisch zu Wort gemeldet hatte, formulierte unwidersprochen aus seiner Sicht die Ergebnisse der Konferenz: Weder sei das Auswärtige Amt zentral an der Entscheidungsbildung zum Holocaust beteiligt gewesen oder habe ein Verhältnis auf Augenhöhe zum in Sachen Holocaust federführenden Reichssicherheitshauptamt bestanden, noch sei der Holocaust durch Initiativen des AA entscheidend vorangetrieben worden.

Vom 21.-23. Juni 2013 fand die Fachkonferenz „Das Auswärtige Amt in der NS-Diktatur
Vom 21.-23. Juni 2013 fand die Fachkonferenz „Das Auswärtige Amt in der NS-Diktatur" in der Akademie für Politische Bildung Tutzing statt. Das Foto zeigt die Abschlussdiskussion: v.l.n.r.: Eckart Conze, Johannes Hürter, Michael Mayer (Moderator), Hans Mommsen und Moshe Zimmermann. Quelle: APB Tutzing/Zerbel © mit freundlicher Genehmigung


Während die Konferenz als inhaltlicher Schlusspunkt der Debatte gelten kann, lässt sich das Erscheinen eines Dokumentationsbands ein halbes Jahr später als diskursiver Schlusspunkt lesen, nicht zuletzt weil die Historikerkommission und Rainer Blasius hier resümierend ihre Einschätzungen der Debatte formulierten.[48] Für die Kommission handelte sich bei der Debatte um einen „politischen Meinungsstreit – und nicht um eine wissenschaftliche Kontroverse”, es habe sich um eine „geschichtspolitische Entlastungsoffensive” von „Publizisten, ehemaligen Diplomaten und Fachkollegen” gehandelt. Nichtsdestoweniger habe die Studie aber sowohl „die vergangenheitsbezogene politische Kultur” als auch die zeithistorische Forschung positiv beeinflusst.[49] Gegenspieler Blasius hob zwar die positive Wirkung der Debatte für die NS-Aufarbeitung von Behörden hervor, sah in den „unangemessenen Attacken” der Kommission gegen das Politische Archiv jedoch die Strategie, „vorsorglich und vorsichtshalber” eigene „Mängel und Unzulänglichkeiten” auf das Archivpersonal abzuschieben. Sein Fazit über die Kommission und ihre Mitarbeiter/innen: „Opportunisten von heute schreiben über Opportunisten von gestern und sind fest davon überzeugt, dass sie keine Opportunisten gewesen wären, wenn sie gestern gelebt hätten.”[50]

Jenseits dessen ging die wissenschaftliche Forschungs-, Vortrags- und Publikationstätigkeit weiter. Neben Tagungsbänden wurden mehrere Aufsätze und Monografien – meist Doktorarbeiten – veröffentlicht, und zwar sowohl aus dem Forschungskontext der Historikerkommission als auch von außenstehenden Autor/innen.[51] Produktiv zeigte sich vor allem der Sprecher der Historikerkommission Eckart Conze, mindestens ebenso der pensionierte Botschafter Heinz Schneppen.[52] Auch das Auswärtige Amt trug zur weiteren Vertiefung des Wissens bei, indem es Gutachten zu dem Diplomaten Gerhart Feine, der im Jahr 1944 Juden vor der Deportation bewahrt hatte, und zur ehemaligen AA-Mitarbeiterin Ilse Stöbe, die 1942 als Spionin für die Sowjetunion hingerichtet worden war, in Auftrag gab.[53] Letztere wird seit 2014 auf der Gedenktafel des AA für Widerstandskämpfer geehrt.[54]

Dass die Debatte – wie von vielen Kritikern angestrebt – vor allem hinsichtlich der Arbeitsweise der Historikerkommission nochmals aufgerollt wird, ist eher nicht zu erwarten. Diese hatten nämlich erhofft, dass sich in den Unterlagen der Historikerkommission, die sie entsprechend der vertraglichen Vereinbarungen an das Politische Archiv abgegeben hatte, auch Manuskriptentwürfe und interne Korrespondenz fänden, sodass sich der Forschungsprozess und vor allem die Textgenese nachvollziehen lassen würden. Dies ist jedoch nicht der Fall.[55] Derweil hat sich das konfliktreiche Verhältnis zwischen dem Politischen Archiv und den Mitgliedern der Historikerkommission längst normalisiert.


Konfliktlinien in der Debatte

Bei der Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit” handelt es sich um eine ausgesprochen komplexe Auseinandersetzung. Teilnehmer/innen und Beobachter/innen strukturierten sie vor allem mit einem politischen Raster – Wortmeldungen wurden zumeist einem der beiden großen politischen Lager zugeschlagen: entweder dem konservativen und rechten, das dem Auswärtigen Amt und seinen Vertretern grundsätzlich positiv und der Studie eher ablehnend gegenübersteht, oder dem linksliberalen und linken Lager, das den Kommissionsbericht eher akklamiert und den Anteil der deutschen Außenpolitik und ihrer Vertreter an NS-Verbrechen akzentuiert. Fast allen Kritikern galt die Studie als Abbild des Geschichtsbilds des „68er” Joschka Fischer. Diesen Vorwurf, Politik statt Wissenschaft zu betreiben, gaben die Verteidiger der Studie jedoch postwendend zurück und bescheinigten der Gegenseite apologetische Motive.

Anders, als es zunächst erscheinen mag, verliefen die Linien jedoch keineswegs nur entlang derart holzschnittartig abgesteckter politischer Grenzen und/oder korrespondierender geschichtspolitischer Positionen. Vielmehr lagen mehrere Hintergründe und Kontexte, die den Verlauf und die Struktur der Debatte wesentlich mitbestimmten, quer dazu – darunter der institutionelle Faktor, also die aktuellen oder früheren dienstlichen Loyalitäten und sonstigen Näheverhältnisse von Debattenteilnehmer/innen zu den einschlägigen Institutionen: dem Auswärtigen Amt, seinem Politischen Archiv und/oder dem Institut für Zeitgeschichte. Über derlei Verbindungen verfügen die meisten der Fachkritiker, allen voran Rainer Blasius, Horst Möller und Johannes Hürter, mit Ausnahme des 1997 unter Direktor Möller aus dem IfZ ausgeschiedenen Mitarbeiters Norbert Frei aber kaum ein Mitglied der Historikerkommission, ihrer Mitarbeiter/innen und der beigesprungenen Fachkollegen. Während die Historikerkommission nicht dem Kreis ausgewiesener Diplomatie-Historiker mit guten Verbindungen zu den einschlägigen Institutionen entstammt, handelt es sich bei vielen der Kritiker um genau jene, die sich 2005 berechtigte Hoffnungen hatten machen können, in die Kommission berufen zu werden.

Daneben spielte offenbar auch persönliche Involvierung in den Untersuchungsgegenstand eine Rolle; so wird man es schwerlich als zufällig bewerten können, dass so gut wie alle Zeitzeugen, insbesondere ehemalige Diplomaten, sich mit Verweis auf ihre eigene Sicht negativ zur Studie äußerten – prominent etwa Heinz Schneppen, auf dessen Leserbrief 2005 der „Aufstand der Mumien” und daraufhin wiederum die Einsetzung der Historikerkommission folgte. Aber auch der scharf urteilende Daniel Koerfer trat nicht bloß als Zeithistoriker in Erscheinung, sondern explizit auch als Enkel des in der Studie seiner Meinung nach unzureichend thematisierten Diplomaten Gerhart Feine sowie als Patenkind des Weizsäcker-Anwalts Hellmut Becker. Daneben ist auch auf wissenschaftlich-methodische Aspekte hinzuweisen. So lebte etwa in der Auseinandersetzung um die Position der Kommission, dass das AA den Holocaust schon früh ins Auge gefasst und maßgeblich vorangetrieben habe, eine ältere Diskussion wieder auf. Bereits seit den 1970er-Jahren war im Fach polarisierend über die Entschlussbildung zum Holocaust und insbesondere ihren Zeitpunkt debattiert worden.

Nicht zu vernachlässigen ist zudem die mediale Ebene, schon weil Zeitungen, Verlags- und Medienhäuser längst nicht mehr nur Austragungsforen, sondern eigenständige Akteure sind, die den Prinzipien der Aufmerksamkeitsökonomie ebenso folgen, wie sie miteinander um die Meinungsführerschaft ringen. Entsprechend führen traditionelle Rechts-Links-Zuschreibungen auch hier nicht viel weiter. Denn während sich das Feuilleton der liberalkonservativen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” angesichts der Studie zunächst geradezu euphorisch zeigte, stand ihr nicht nur der linksliberale „Spiegel” mit seiner harschen Kritik gegenüber, sondern sogar das eigene Ressort „Politische Bücher”. Als deren Leiter Rainer Blasius die Integrität Marga Henselers in Zweifel zog, war dies für einen Kollegen aus dem Feuilleton der „Gipfel der Infamie”.[56] Und während ein Historiker mit konservativem Profil wie Michael Stürmer, Doktorvater Eckart Conzes, die Studie im als linksliberal geltenden Deutschlandradio Kultur lobte, kritisierte sie der in einer sozialdemokratischen Tradition stehende Hans Mommsen in der linksliberalen „Frankfurter Rundschau” scharf.


Einordnung und Bewertung

Angesichts dieser Vielschichtigkeit greift es zu kurz, die Debatte mit dem Politikwissenschaftler Manuel Becker lediglich als bloße „Konfrontation zwischen geschichtspolitischen Deutungsmustern”[57] zu verstehen. Auch die Analyse des stellvertretenden IfZ-Direktors Magnus Brechtken, die suggeriert, dass die Kritikerseite stets wissenschaftlich argumentiert habe, die Historikerkommission dem jedoch nur moralisierend und geschichtspolitisch begegnet sei, befriedigt nicht.[58] Denn beide Seiten (wenn man denn von Seiten sprechen will) argumentierten – in unterschiedlichem Maß und schwankendem Mischungsverhältnis – sowohl wissenschaftlich als auch (geschichts)politisch. Dieser Umstand macht es außerordentlich schwierig, die Debatte auf einen Nenner zu bringen. Denn sie war vieles zugleich: politischer Meinungs- und Deutungskampf, wissenschaftlicher Methoden- und Perspektivenstreit, ritualisierter Wettbewerb von Konkurrenten, geschichtspolitische Konfrontation und Reflexion über Tradition, über Schuld und Verantwortung. Sie war aber auch ein wissenschaftsethischer Disput, Ausdruck von Animositäten und verletzten Eitelkeiten sowie Gelegenheit zur Begleichung alter Rechnungen und bedeutete einen nicht unwesentlichen erfolgreichen Transfer von (nicht immer neuen) Forschungserkenntnissen. Zugleich hatte die Debatte auch die Gestalt eines Generationenkonflikts und des altbekannten Zwists zwischen Historikern und Zeitzeugen, war Plattform zur persönlichen Profilierung und Ort gesellschaftlicher Selbstverständigung über den Nationalsozialismus sowie der Neujustierung wissenschaftlicher Fragestellungen und Erkenntnisinteressen.

Die in starkem Maße (geschichts)politisch eingefasste Debatte griff an wesentlichen Stellen in die Bewertung der deutschen Nachkriegsgeschichte und nicht zuletzt in die mit der Chiffre „1968” verbundenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik ein. Diese Bedeutungsebene, die über das Auswärtige Amt und die Ministerialverwaltung als Ganze hinausführt und das Selbstverständnis der heutigen Bundespolitik berührt, trug den Disput in die Sphäre der politischen Kultur und bestimmte maßgeblich Stil und Ton der Auseinandersetzung. Nicht zuletzt diese Eigenschaft rückt sie in eine Reihe mit anderen großen zeithistorischen Selbstverständigungs- und Aushandlungsdebatten: von der nicht enden wollenden Kontroverse um den Reichstagsbrand, der Fischer-Kontroverse der 1960er-Jahre über den Historikerstreit 1986/87 hin zu den Auseinandersetzungen um die sogenannten Wehrmachtsausstellungen und das Buch „Hitlers willige Vollstrecker” von Daniel Jonah Goldhagen in den 1990er-Jahren. Die Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit” lässt sich als ein solcher Meilenstein der gesellschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus verstehen. Denn jenseits angestoßener oder beförderter Anschlussforschungen hat sie eine fachliche und öffentliche Neufokussierung in Gang gesetzt. Fragen nach der Rolle von Behörden, nach dem Handeln und der Verantwortung von Verwaltungsangehörigen, nach ihren Handlungsspielräumen, ihrer Anpassungs- und Lernbereitschaft vom Kaiserreich und der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik und DDR werden seitdem in neuer Intensität zäsurübergreifend gestellt, wissenschaftlich erforscht und öffentlich diskutiert.

Sichtbarste Folge der durch die Debatte mitbewirkten Aufmerksamkeitsverschiebung sind die seitdem auf den Weg gebrachten Forschungen zur Geschichte von Ministerien und Behörden, in deren Zentrum neben der NS-Zeit meist Fragen nach institutionellen, vor allem aber personellen und inhaltlichen Kontinuitäten und ihren Auswirkungen nach 1945 stehen. Im Jahr 2005 war das Auswärtige Amt das erste Ministerium, das eine Historikerkommission berief. Zu Beginn der Debatte Ende 2010 waren diesem Beispiel fünf weitere Bundesministerien und nachgeordnete Behörden gefolgt. Anfang 2018 hat die Gesamtzahl der einschlägigen und mittlerweile auch ressortübergreifenden größeren und kleineren Forschungsunterfangen die Marke von dreißig überschritten, während weitere in Planung sind. Darüber hinaus folgten ähnliche Projekte in den Ländern und Kommunen.[59]

Welcher Wandel sich hier vollzogen hat, lässt sich daran ersehen, dass es heute keiner Skandale mehr bedarf, damit Fördergelder in Millionenhöhe zur Verfügung gestellt werden, sondern sich Ministerien mittlerweile eher rechtfertigen müssen, wenn sie keine Historiker/innen mit Forschungen zu ihrer NS-Vergangenheit betrauen. Längst nutzen die Behörden aktiv die Möglichkeiten, die solche Forschungsarbeiten für die Schulung des Nachwuchses, für die Traditionsbildung und Imagepflege bieten. Dabei fungiert die in der Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit” vorgebrachte Kritik aber nur bedingt als Negativfolie. Auch wenn sich die inner- und außerfachliche Reflexion über die Problematiken dieser Art von Forschung intensiviert hat – mittlerweile lässt sich sogar von einem eigenen Segment „Behördenforschung” sprechen –, hielt sie mit der Zahl immer neuer Forschungsprojekte letztlich nicht Schritt.[60]

Dass nachfolgende Forschungsarbeiten zu anderen Ministerien bislang keine Debatten ausgelöst haben, dürfte in nicht geringem Maße an dem zwischenzeitlich eingetretenen Sättigungseffekt liegen. „Das Amt und die Vergangenheit” hatte auch deswegen bereits im Vorfeld ein außergewöhnlich hohes Maß an Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil sie die erste Untersuchung ihrer Art war. Dies suggerierte offensichtlich vielen – darunter nicht wenigen Journalisten – einen Neuigkeitswert, der so gar nicht vorlag, waren die Kernaussagen doch weder neu, noch ausschließlich Fachleuten bekannt. Schon bevor die Studie veröffentlicht worden war, hatte „Die Welt” diese Fehlleistung benannt: „Je weniger man weiß, desto leichter wird man überrascht.” Auf die Spitze getrieben wurde die Kritik an der „kollektive[n] Überraschung” von der „Frankfurter Rundschau”, als sie spöttisch fragte: „War Hitler am Ende gar Antisemit?”[61] Mit der Debatte um das Auswärtige Amt ist es ein Stück schwerer geworden, künftig erneut überrascht zu werden.



Empfohlene Literatur zum Thema

Conze, Eckart / Frei, Norbert / Hayes, Peter et al., Das Amt und die Vergangenheit: deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010: Karl Blessing Verlag 
Conze, Eckart, Die Historikerkommission des Auswärtigen Amtes. Zeitgeschichte zwischen Auftragsforschung, öffentlicher Debatte und wissenschaftlichem Fortschritt, in: Cornelißen, Christoph / Pezzino, Paolo (Hrsg.), Historikerkommissionen und historische Konfliktbewältigung, Berlin Boston 2018: De Gruyter Oldenbourg 
Hürter, Johannes / Mayer, Michael (Hrsg.), Das Auswärtige Amt in der NS-Diktatur, Berlin 2014: De Gruyter Oldenbourg 
Mentel, Christian, Das Amt und die Vergangenheit, in: Fischer, Torben / Lorenz, Matthias N. (Hrsg.), Lexikon der "Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland: Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2015: Transcript 
Sabrow, Martin / Mentel, Christian (Hrsg.), Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit: eine deutsche Debatte, Frankfurt am Main 2014: Fischer Taschenbuch 
Zitation
Christian Mentel, Die Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit" und ihre Folgen, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 6.1.2018, URL: http://docupedia.de/zg/Mentel_debatte_amt_v1_de_2018

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