Das Exil (lat. exilium), die Verbannung oder Vertreibung gehören seit jeher zur Geschichte der Menschheit. Aber erst die Beschäftigung mit der Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach 1933 hat die Exilforschung in den 1960er-Jahren als eigenes Arbeitsfeld entstehen lassen. Waren es zu früheren Zeiten meist einzelne Personen – man denke nur an Ovid zu Beginn der Zeitrechnung, Dante Alighieri um 1300 oder Karl Marx und Heinrich Heine im 19. Jahrhundert – oder kleine Gruppen, die aus dem Exil immer wieder wortmächtig die herrschende Macht in ihren Herkunftsländern herausforderten, so ist die gewaltsame Ausgrenzung und Vertreibung ganzer Bevölkerungsteile aus ideologischen, rassistischen und politischen Gründen im 20. Jahrhundert zu einer neuartigen Massenerscheinung geworden. Hierbei war die Vertreibung aus dem nationalsozialistischen Deutschland einzigartig, denn keine der anderen zu der Zeit erzwungenen Fluchtbewegungen beruhte auf so einseitig begründeter Gewalt, Brutalität, Ausschließung und schließlich physischer Vernichtung.
Ihre Zentren hat die Exilforschung in Deutschland sowie in den Ländern, die einst zur wichtigen Zuflucht der Vertriebenen wurden, also vor allem den USA. Insgesamt ist von etwa 500.000 Flüchtlingen aus Deutschland, dem 1938 „angeschlossenen” Österreich und den durch Annektierung besetzten Gebieten des Sudentenlandes auszugehen[1] – vor dem Hintergrund der millionenfachen Armuts- und Arbeitsmigrationen seit dem 19. Jahrhundert eine relativ kleine Zahl. Sie repräsentierten jedoch die Mitte der Gesellschaft, ja weitgehend eine intellektuelle und kulturelle Elite. Geschätzt wird, dass die literarische und künstlerische Emigration rund 10.000 Personen umfasste. An den Universitäten verloren ungefähr 3000 Personen, etwa ein Drittel des Lehrkörpers, ihre Beschäftigung, von denen rund 2000 emigrierten. Ebenso viele Repräsentanten der noch jungen Filmbranche sowie 1500 Verleger und Buchhändler wurden ins Exil gezwungen. Diese Eliten standen für das, was heute vor allem in den USA als „Weimarer Kultur” bezeichnet wird.
Neben den Umständen der Vertreibungen widmet sich die Exilforschung insbesondere der Frage, welchen Gewinn diese Menschen auf lange Sicht für ihre Zufluchtsländer brachten bzw. welchen Verlust sie umgekehrt für die Vertreibungsländer darstellten.[2]
Der folgende Überblick bietet eine Genealogie der Exilforschung, die sich zunächst mit den auf eine Rückkehr hoffenden Exilanten, insbesondere Schriftstellern und Vertretern politischer Parteien beschäftigte. Diese sahen sich gleichermaßen als das „Andere Deutschland” im antifaschistischen Widerstand gegen die NS-Herrschaft. Im klassischen Einwanderungsland USA richtete man den Blick darüber hinaus auch auf diejenigen, die sich als Emigranten in ihrem Zufluchtsland integrieren wollten. Dazu zählten jüdische Flüchtlinge, Wissenschaftler/innen, Vertreter unterschiedlicher akademischer Professionen, Intellektuelle und Künstler. Im Mittelpunkt ihrer Erforschung stand der Prozess transnationaler Ideentransfers und der Akkulturation anstelle der rückwärtsgewandten nationalen Orientierung, wie sie für die Untersuchungen zum „Anderen Deutschland” typisch gewesen sind. Insofern ist die Exilforschung nicht nur für die Migrationsforschung, sondern auch für sozial-, kultur- und geschichtswissenschaftliche Analysen von Transfer und Verflechtungen, Globalisierungsprozessen und postnationalen bzw. posttraditionalen Identitäten interessant.
1. Anfänge der Forschung in Deutschland
Die Exilforschung ist ein Kind der Aufbruchsjahre nach 1960, die zur Liberalisierung der im Kalten Krieg verkrusteten Nachkriegsgesellschaften geführt hatten. Im Land der Täter hätte eigentlich die Aufarbeitung der Vergangenheit am dringlichsten sein müssen; die Verdrängungsmentalität der Deutschen verhinderte jedoch lange eine ernsthafte Beschäftigung mit diesem Thema. Ehemalige Exilanten und Emigranten stießen weitgehend auf Ablehnung in der deutschen Bevölkerung, besonders wenn sie als Vertreter der Besatzungsbehörden nach Deutschland zurückgekommen waren, wie die bekannte „Thomas Mann-Kontroverse” 1945/46 oder Hannah Arendts viel zitierter Bericht über ihren ersten „Besuch in Deutschland” 1950 dokumentieren.[3]
In der DDR gab es aufgrund der zahlreich zurückgekehrten Kommunisten zunächst eine breite Wahrnehmung des Exils. Jedoch konnte die Frage des „richtigen” Exillands schnell zum taktischen politischen Kampfmittel in machtpolitischen und ideologischen Auseinandersetzungen werden und sogar die Existenzvernichtung zur Folge haben. Zu den Opfern des Kampfs gegen den „Kosmopolitismus” und „Imperialismus” in den frühen 1950er-Jahren gehörten zum Beispiel alle sogenannten kommunistischen West-Emigranten, die den Machtanspruch der aus der Sowjetunion zurückgekehrten Kader („Gruppe Ulbricht”) bei der Stalinisierung des Partei- und Staatsapparats hätten in Frage stellen können. Juden, Sozialisten sozialdemokratischer Prägung und andere Opfer der Nationalsozialisten gehörten ohnehin bald zu den gesellschaftlich Ausgegrenzten, wie die erzwungene Selbstauflösung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) im Februar 1953 auffällig demonstrierte. Ein kollektives Identitätsmuster wurde mit dem aus den 1920er-Jahren stammenden kommunistischen Kampfbegriff des „Antifaschismus” gefunden, der von seinem ursprünglich historischen Bezug gelöst die Legitimationsgrundlage des Arbeiter- und Bauernstaats lieferte.[4]
Nicht viel anders sah es in der Bundesrepublik aus, in der das „kommunikative Beschweigen”[5] der Vergangenheit eine wichtige Voraussetzung des ungestörten wirtschaftlichen Wiederaufbaus wurde. Die unmittelbar nach dem Krieg erschienenen, noch gesamtdeutschen Schriften wie die 1947 von Richard Drews und Alfred Kantorowicz herausgegebene Anthologie Verboten und Verbrannt. Deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt oder F. C. Weiskopfs erster „Abriß” der deutschen Exilliteratur Unter fremden Himmeln waren schnell in Vergessenheit geraten.[6] Auch die Anregungen des bereits 1946 in Zürich publizierten ersten umfassenderen Überblicks zur „Emigranten-Literatur” von dem selbst emigrierten Hamburger Germanisten Walter A. Berendsohn in Stockholm unter dem Titel Die humanistische Front blieben ohne Echo. Offenbar bestand kein Interesse, das ursprünglich auf einen Auftrag des Royal Institute of International Affairs in London zurückgehende Werk zur Kenntnis zu nehmen. Es war Teil eines großen Forschungsprojekts über das „Refugee Problem” gewesen, das die vom Völkerbund organisierte einmalige internationale Flüchtlingskonferenz in Evian 1938 mit den nötigen Unterlagen versorgte.[7]
Die wenigen während der ersten beiden Dekaden in der Bundesrepublik zum Thema herausgekommenen Werke blieben marginal oder erschienen in anderen wissenschaftlichen Kontexten. Das gilt etwa für die schmale Studie Die deutsche akademische Emigration nach den Vereinigten Staaten 1933-1941 von der jungen Soziologin Helge Pross[8] – Vertreterin eines Fachs, das ebenso wie die Politikwissenschaft als Import aus der Emigration zurückgekehrter Wissenschaftler/innen beziehungsweise als Oktroy der Besatzungsmächte mit Misstrauen und Vorbehalten an den deutschen Universitäten angesehen wurde. Ähnlich sah es bei den ersten Studien über das politische Exil aus, wie zum Beispiel die des Politikwissenschaftlers Erich Matthias und seines amerikanischen Kollegen, des ehemaligen Emigranten Lewis (Ludwig) Edinger, über den exilierten sozialdemokratischen Parteivorstand.[9] In diesen Zusammenhang gehören auch die seit Ende der 1950er-Jahre bei Wolfgang Abendroth in Marburg entstandenen Dissertationen zu den linkssozialistischen Parteien im Zwischenfeld von KPD und SPD, die auch deren Exil-Aktivitäten ansprachen.[10] In diesem Klima war es für die wenigen Rückkehrer oft existenziell, über ihre Vergangenheit in der Emigration zu schweigen.[11]
Ein Wandel begann Mitte der 1960er-Jahre, unterstützt von Ereignissen wie dem Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961, dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt seit 1963 sowie den spektakulären Inszenierungen von Rolf Hochhuths Schauspiel Der Stellvertreter und von Peter Weiss´ Theaterstück Die Ermittlung. Nicht zu vergessen ist, dass mit Willy Brandt ein ehemaliger Emigrant ab 1966 zunächst Außenminister und 1969 Bundeskanzler der Bundesrepublik wurde. Die zu dieser Zeit entstandenen Darstellungen zur Wissenschaftsemigration nach 1933 in die USA wurden allerdings noch nicht als Aufgabe der deutschen Historiografie gesehen, sondern als Spezialproblem der Amerikanistik; sie erschienen im Jahrbuch für Amerikastudien 1965 und stammten aus der Feder von ehemaligen Emigranten wie Louise Holborn, Herbert Marcuse und Albert Wellek. Wenig später verwies die 1968 erschienene Dissertation Werner Röders über Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien 1940-1945 aber auf einen bevorstehenden Perspektivwechsel.[12]
Noch deutlicher war die Entwicklung im Bereich der Literaturforschung. Nachdem schon 1962 Wilhelm Sternfeld und Eva Tiedemann eine erste Bibliografie über die Deutsche Exil-Literatur 1933-1945 herausgebracht hatten, gab 1965 eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek in Frankfurt über Exil-Literatur – die später als Wanderausstellung im In- und Ausland, sogar in Israel, auf breites Interesse stieß und deren Katalog ebenso wie die Exil-Bibliografie in wenigen Jahren in mehreren Auflagen erschienen – den Impuls für die beginnende Forschung.[13] Hier erst gewahrte man, dass nahezu alle Schriftsteller von Rang nach 1933 aus dem deutschsprachigen Raum hatten fliehen müssen und somit ihre Werke schnell zum Kernbereich der Exilforschung wurden.[14] Zeithistorische Untersuchungen blieben aber weiterhin die Ausnahme.
2. Das „Antifaschismus”-Paradigma
Die paradigmatische Funktion der Exilliteraturforschung leitete sich nicht allein vom Gegenstand her, sondern auch von ihrer Forderung nach neuen interdisziplinären Methoden und dem moralischen Anspruch ab, einen nachhaltigen Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zu leisten. Damit war die Exilforschung zu einem Politikum geworden und konnte von der konservativen Wissenschaft wie in der Öffentlichkeit leicht denunziert werden. Denn mit ihrem implizit „antifaschistischen” Ansatz pflegte sie eben auch Deutungsmuster, die in der DDR zur staatlichen Herrschaftslegitimation gehörten. Traditionelle hermeneutische Interpretationen wurden zwar weiter praktiziert und blieben in der Germanistik der USA sogar beherrschend, jedoch traten diese gegenüber den neuen, oft politisch unterlegten und sozialwissenschaftlich fundierten Analyseansätzen in den Hintergrund.
Der von der Exilliteraturforschung des Westens verwendete Begriff des Antifaschismus war dabei in der Tat angreifbar, weil lange übersehen wurde, dass er einst im Selbstverständnis der Exilanten eine Vielzahl von politischen und ästhetischen Positionen ohne definitorische Vorentscheidungen zugelassen hatte.[15] Allzu eng wurde er nun auf eine kapitalismuskritische Interpretation des Nationalsozialismus bezogen und unterschied sich damit vom Antifaschismus-Begriff in der DDR nur insoweit, als ihm dort noch die These von den sich verschärfenden Klassengegensätzen und der Notwendigkeit des Klassenkampfes unter Führung der KPD unterlegt war. Dies diente zugleich der Unterfütterung der in den 1960er-Jahren entwickelten revolutionären „Erbetheorie” auf dem Weg hin zu einer sozialistischen Nation, die dann zum Leitbild der 1968 verabschiedeten neuen DDR-Verfassung gehörte.[16] Auffallend ist, dass diese Ansätze aber in der essenzialistischen Setzung der Nation mit den Bezugspunkten der Exilanten übereinstimmten.
So inflationär das Antifaschismus-Theorem auch in der westlichen Exilforschung genutzt wurde, gewahrte kaum einer der jüngeren Wissenschaftler/innen den damit verbundenen national-identifikatorischen Pferdefuß. Dass ein solches Verständnis bestimmend werden konnte – und weite Teile der westdeutschen „Neuen Linken” bei ihrer Aufarbeitung der Vergangenheit ebenfalls beherrschte –, ist Indiz für die beschränkte Perspektive historisch-materialistischer Denktraditionen, die die durchaus vorhandene einstige „konstitutive Heterogenität”[17] des Antifaschismus ihrer Gewährsleute aus dem Exil und der Emigration nicht zu erkennen vermochte. Gelegentlich wurde „Exilliteratur” gar identisch mit „Krisenliteratur” gesetzt, wobei man sich auf die seinerzeit inflationär herangezogenen Worte des einstigen Emigranten Max Horkheimer berief: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen”,[18] die den Gedanken einfingen, dass der Faschismus die staatlich-autoritäre Lösung zur Rettung des kapitalistischen Systems in seiner zugespitzten Krisensituation gewesen sei.
3. Die Phase der Grundlagenforschung
Vor dem Hintergrund der doppelten Ausgrenzung – der Vertreibung durch die Nationalsozialisten und der Verdrängung von Exil und Exilanten im Nachkriegsdeutschland – schlossen sich verschiedene bundesrepublikanische Institutionen Anfang der 1970er-Jahre zusammen, um ihre Bestände zu sichten und daraus in jeweils zu erarbeitenden „Dokumentationen” die Grundlagen für die künftige Exilforschung zu schaffen. Zu diesem Netzwerk gehörten federführend das Institut für Zeitgeschichte in München, die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main, die neu eingerichtete und bis heute einzigartig gebliebene Forschungsstelle für Exilliteratur der Universität Hamburg sowie schließlich Hans-Albert Walter, der als enorm produktiver Einzelgänger bereits mit einem großen Projekt zur Erforschung der Exilliteratur begonnen hatte. Eingebunden waren weiterhin das Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, das Archiv des Deutschen Gewerkschaftsbundes[19] sowie die Akademie der Künste in Berlin. Gebündelt wurden die Aktivitäten in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingerichteten ersten Schwerpunktprogramm „Exilforschung”.[20]
Zu den prominentesten und bekanntesten Ergebnissen dieses Forschungsnetzwerks zählt das gemeinsame Projekt einer Personaldaten-Erhebung des Münchner Instituts für Zeitgeschichte in Kooperation mit der American Federation of Jews from Central Europe, aus dem das von Werner Röder und Herbert A. Strauss herausgegebene Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 hervorgegangen ist.[21] In den seit 1973 vorbereiteten, von 1980 bis 1983 erschienenen drei Bänden sind die Biografien von rund 9000 Personen aus einer Gesamtheit von 25.000 gesammelten Namen verzeichnet, vor allem aber ist hier die Gesamtsicht auf die Vertreibung aus NS-Deutschland, also von Exil und Emigration in den unterschiedlichen sozialen Gruppen, erstmalig verwirklicht worden. Nicht weniger bedeutend ist das parallel dazu von Lieselotte Maas erarbeitete und ebenfalls in mehreren Bänden zwischen 1976 und 1981 erschienene Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945.[22] Bemerkenswert ist, dass zur gleichen Zeit in der DDR nahezu komplementäre Forschungen betrieben wurden, die für diesen Kontext wichtige Ergänzungen lieferten.[23]
In einem Anfang der 1970er-Jahre in den USA von amerikanischen Germanisten gegründeten „Research Seminar on German Literature in Exile”, aus dem Ende des Jahrzehnts die Society for Exile Studies mit ihrem Ableger, die Gesellschaft für Exilforschung in der Bundesrepublik mit zahlreichen Mitgliedern auch aus anderen europäischen Ländern, hervorging, gehörte die Aufbereitung von Materialien für die Grundlagenforschung ebenfalls zu den großen Leistungen. Insbesondere sind hier die in einem Team um John Spalek über einen längeren Zeitraum entstandenen „Guides”, Nachlass- und Materialverzeichnisse von mehr als 1000 Emigranten in amerikanischen Archiven, sowie die von ihm an der State University of New York at Albany gegründete „Émigré Collection” zu nennen. Dem folgten ähnlich konzipierte Verzeichnisse für Deutschland.[24]
Die biografisch ausgerichtete Grundlagenforschung der Anfangsjahre war nicht allein methodisch begründet, sie resultierte auch aus dem intellektuellen Profil der aus Deutschland Vertriebenen. Während ein einzelbiografischer Fokus insbesondere die Werkanalysen von Schriftstellern dominierte, basierten Studien über Wissenschaftler, aber zum Teil auch Künstler, oft auf gruppenbiografischen und institutionengeschichtlichen Ansätzen. Dies hing damit zusammen, dass diese Gruppen oft bestimmten Schulen bzw. Stilrichtungen verbunden waren, die gleichzeitig eine Absicherung im Exil durch organisierte Selbsthilfen, speziell eingerichtete Hilfskomitees und institutionelle sowie soziale Netzwerke möglich machten. In den USA hat zum Beispiel die Rockefeller Foundation mehr als 300 Wissenschaftler/innen allein an amerikanischen Universitäten untergebracht, und andere Gelehrte konnten in weitere Länder vermittelt werden.[25]
4. Exilforschung in den USA
Erklärlicherweise gehört die Immigration als Konstitutionsmerkmal der modernen amerikanischen Gesellschaft zum traditionellen Forschungsfeld der amerikanischen Soziologie und Historiografie. Von den Vertriebenen aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsbereich fanden dort mit etwa 130.000 Personen mehr als ein Viertel eine Zuflucht. Auffallend ist aber, dass die besonderen Aspekte dieser Einwanderung, die Spezifik der zu einem erheblichen Teil hochgebildeten, oft jüdischen Emigranten, von der amerikanischen Sozialforschung lange übersehen wurden. In der wissenschaftlichen Wahrnehmung gab es keinen Unterschied zwischen ihnen und den „namenlosen”[26] Arbeits- und Armutsimmigranten aus den rückständigen Regionen Ost- und Südeuropas oder Asiens seit dem 19. Jahrhundert, bei denen lediglich interessierte, wie sie sich in den melting pot der amerikanischen Gesellschaft oder, nach dem Selbstverständnis der amerikanischen Ostküste, in die angelsächsisch geprägte „Anglo-Conformity” integrierten. Die Einführung von festen, länderabhängigen Einwanderungsquoten nach dem Ersten Weltkrieg, die den beginnenden Isolationismus der USA widerspiegelte, differenzierte zwar quantitativ, doch weiter unterschied die Einwanderungsstatistik nicht. Damit waren auch die Fluchtgründe nicht mehr identifizierbar. Nur einwandernde Wissenschaftler und Pfarrer fielen nicht unter diese Regelungen: Sie erhielten sogenannte non-quota visas.[27]
Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen die ersten Studien, die die „middle- and upper-class”-Schichtung der jüngsten Einwanderung von Flüchtlingen konstatierten, jedoch mit den damals üblichen Methoden messbarer quantitativer Erhebungen allein der Frage ihrer ökonomischen und sozialen Integration („adjustment”) nachgingen. Sogar diejenigen Untersuchungen, die sich speziell mit der signifikanten Gruppe der „refugee intellectuals” beschäftigten, interessierte allein deren „Americanization”, Aspekte des geistigen Transfers oder gar Austausches kamen nicht vor.[28] Dennoch gab es jenseits dieses Mainstreams in der Forschung einzelne Stimmen, die auf die Besonderheit der jüngsten Einwanderung hingewiesen haben.
Sie waren von den Immigranten selbst oder von einigen mit ihnen sympathisierenden Amerikanern gekommen, die schon in den 1930er-Jahren wiederholt auf die intellektuelle Qualität und kulturelle Bedeutung der neuen Einwanderungswelle aufmerksam gemacht hatten. Das gilt, um nur einige Werke zu nennen, für Erika und Klaus Manns Escape to Life (1939), Gerhart Saengers Today's Refugees, Tomorrow's Citizen (1941) oder die Sammlung The Torch of Freedom (1943) mit Biografien von „Twenty Exiles of History” aus der Feder geflohener europäischer Schriftsteller. Die im gleichen Jahr erschienene Anthologie The Ten Commandments verriet in ihrem Untertitel Ten Short Novels of Hitler's War against the Moral Code eine direkte Mobilisierungsabsicht zum Kampf gegen den Nationalsozialismus aus der Feder exilierter und amerikanischer Schriftsteller.[29] Bereits 1938 hatte die vier Jahre zuvor aus Deutschland ausgewiesene amerikanische Journalistin Dorothy Thompson in der flammenden Botschaft Refugees: Anarchy or Organization ihren Landsleuten vor Augen geführt, dass „practically everybody who in world opinion had stood for what was currently called German culture prior to 1933 is already a refugee”.[30] Forschungen waren das zwar nicht, doch umrissen die Darstellungen das spezifische Profil dieser Immigranten, aus deren Reihen ebenso lebhafte Erfahrungsberichte über ihre Integrationsprozesse vorgelegt wurden.[31]
Der Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 zeigte schlagartig die negativen Folgen des amerikanischen Isolationismus nach 1918, denn es fehlte plötzlich an Experten für den „war effort” gegen die Deutschen und Japaner. In den zahlreichen neu entstandenen Kriegsbehörden konnten deshalb ehemalige Flüchtlinge aus Deutschland ein nahezu unbeschränktes Arbeitsfeld finden. Die hier tätigen neuen amerikanischen Staatsbürger wurden alsbald zu erfolgreich integrierten intellektuellen Vermittlern mit nachgefragten Kenntnissen und Fähigkeiten.[32] Für die Exilforschung wie die weitere zeitgeschichtliche Forschung haben diese Milieus insofern eine eminente Bedeutung, als hier mit Wirkungsmacht ausgestattete Analytiker versammelt waren, die neben ihren administrativen Tätigkeiten zahlreiche bis heute bahnbrechende Studien zum Nationalsozialismus vorgelegt haben: etwa Emil Lederer State of the Masses (1940), Ernst Fraenkel Dual State (1941), Franz Neumann Behemoth (1942), Sigmund Neumann Permanent Revolution (1942) und später Hannah Arendt Origins of Totalitarianism (1951). Die entwickelte Totalitarismusforschung ist überhaupt eine erfahrungswissenschaftliche Erfindung der Emigranten.[33]
Die Gesinnungsschnüffelei in der McCarthy-Ära nach Ende des Kriegs sowie die erneut starken Strömungen in den USA, trotz ihrer neuen Rolle als Weltmacht zum alten Isolationismus zurückzukehren, trugen dazu bei, dass das Thema Exil auch hier erst in den 1960er-Jahren auf breiteres Interesse stieß, als das amerikanische Selbstverständnis und Wertesystem mit der Eskalation des Vietnam-Kriegs, der wachsenden Sensibilität für den „ethnic pluralism” angesichts des neuen Selbstbewusstseins amerikanischer Minderheiten und der Studentenbewegung zunehmend auf den Prüfstand gerieten. Die nun entstehenden Arbeiten setzten sich kritisch mit der Einwanderungspolitik auseinander und fragten danach, wie sich die USA stärker für den Schutz der jüdischen Bevölkerung in Europa während des Zweiten Weltkriegs hätten einsetzen können.[34] 1968 erschien das Buch Illustrious Immigrants von Laura Fermi, die das breite Spektrum von Gelehrten unter den Flüchtlingen aus Deutschland, Italien, Ungarn und Frankreich in den unterschiedlichen Professionen vorstellte.[35] Der Sammelband The Intellectual Migration. Europe and America 1930-1960, der bereits die akkulturationstheoretische Methodik der künftigen Forschungen zur Wissenschaftsemigration antizipierte, verknüpfte die einzel- und autobiografischen Darstellungen mit einer disziplin- und institutionengeschichtlichen Analyse.[36] In dem Band präsentierten prominente Emigranten wie Theodor W. Adorno, Paul F. Lazarsfeld oder Marie Jahoda ihre Erinnerungen an die Integrationsprozesse in der neuen Lebenswelt, indem sie deutlich ihre schrittweise Gewinnung einer neuen „strukturellen Identität”, so Lazarsfeld, herausstellten.[37]
Die von Peter Gay zu diesem Grundlagenwerk verfasste umfangreiche Einleitung „Weimar Culture: The Outsider as Insider” sollte später – zum Buch erweitert und in verschiedene Sprachen übersetzt – kanonische Bedeutung bekommen. Einmal, weil Gay auf den Begriff brachte, womit sich viele amerikanische Intellektuelle identifizierten: die „Weimar Culture”, die in ihren Kreisen eine fast mythische Verklärung genoss. Zum anderen bereicherte Gays Beitrag die Exilforschung mit der Idee, dass die aus Deutschland nach 1933 vertriebenen Künstler und Künstlerinnen tatsächlich schon lange vorher in Deutschland marginalisiert gewesen seien und ihre außergewöhnlichen Leistungen in auffallendem Gegensatz zu dem krisengeschüttelten und kläglich gescheiterten politischen System der Weimarer Republik gestanden hätten. In diesen Zusammenhang gehört auch H. Stuart Hughes' Studie The Sea Change. The Migration of Social Thought, die die „political scholars” unter den deutschen Emigranten mit ihren Analysen zum Faschismus, zur modernen Massengesellschaft oder zur freudianisch geprägten Sozialpsychologie vorstellt.[38] Schließlich sei als letztes Schlüsselwerk dieser frühen Jahre die bereits 1965 vorgelegte, aber erst 1970 publizierte bibliothekswissenschaftliche Dissertation von Robert E. Cazden German Exile Literature in America 1933-1950 genannt, die eine detaillierte Übersicht über die deutsche Exilliteratur publizierenden Verlage und Buchhändler in den USA, die dort erschienenen Exil-Zeitschriften sowie die wichtigsten Werke vorlegte. Netzwerke, Kommunikationswege und partiell auch der errungene mediale Einfluss standen im Mittelpunkt der Analyse, weniger die einzelnen Personen.[39]
5. Das Akkulturationstheorem
In anderen Ländern sind seit den 1970er-Jahren ebenfalls Studien entstanden, in denen die Situation der dort nach 1933 aufgenommenen Flüchtlinge und der öffentliche Umgang mit ihnen untersucht worden sind. Das gilt insbesondere für Frankreich, dem nach 1933 zunächst wichtigsten Zufluchtsland, sodann für die skandinavischen Länder, die Niederlande und die Schweiz. Die dort begonnenen Forschungen folgten jedoch keinen eigenen spezifischen methodischen und theoretischen Überlegungen. In Frankreich prägte der konsensuale gaullistische Mythos der Résistance, der lange eine kritische Aufarbeitung der französischen Kollaboration verhinderte, ebenfalls die Exilforschung. Sie interessierte sich primär in jakobinischer Tradition für den „Antifaschismus” der geflohenen Schriftsteller und Politiker, der sich in den nach 1935 in Paris geführten Diskussionen über die „Volksfront” manifestierte. Erst in den 1990er-Jahren sollte sich der Blick auf die Verfolgungen durch das Vichy-Regime sowie dessen Internierungs- und Lagersystem richten.[40]
In Skandinavien wurde Ende der 1960er-Jahre der Versuch gemacht, über die politischen Systemgrenzen des Kalten Kriegs hinweg die in den verschiedenen Ländern begonnenen Forschungen zusammenzuführen.[41] Dabei wurden die beiden unterschiedlichen Forschungsrichtungen – zum einen die Exilforschung, für die sich vor allem die Germanisten interessierten, zum anderen die in den USA dominierende Emigrationsforschung – trennscharf markiert. Ein gemeinsamer Diskurs über die komplementären Chancen dieser Zugriffe – national und transnational – fand jedoch nicht statt; charakteristisch für die 1970er- und 1980er-Jahre wurden vielmehr die separaten Entwicklungen der beiden Richtungen. Die Exilforscher schienen damit an die Selbststilisierungen des politischen und literarischen Exils anschließen zu wollen, das, „mit dem Gesicht nach Deutschland” gerichtet (eine Formulierung des SPD-Parteivorsitzenden Otto Wels), die Traditionen der Moral, des Anstands und der Humanität angesichts der Barbarei im NS-Staat zu bewahren beanspruchte. Die Beibehaltung der deutschen Sprache und die Pflege des „kostbare[n] Gut[s] der Muttersprache” wurden als Pflicht gesehen, wie der remigrierte Schriftsteller Alfred Kantorowicz nach dem Krieg berichtete, um sie den Gewalthabern in „unserem Lande” nicht zu überlassen.[42]
Dagegen standen die Vorschläge von Herbert A. Strauss, der die Geschichte der jüdischen Emigration in die USA, ihr „resettlement” und ihre „acculturation” erforschte.[43] Zum Begriff der Akkulturation konnte er auf eine lange wissenschaftstheoretische Diskussion in den USA zurückgreifen, die nicht zuletzt von deutschen Emigranten mitgeprägt worden war. An der New School for Social Research in New York, an der bereits im Sommer 1933 eine „University in Exile” gegründet worden war, hatte beispielsweise 1937 ein hochkarätig besetztes Symposium stattgefunden, das über die „Interrelation of Cultures” diskutierte und dabei vor allem der Selbstverständigung der dort versammelten Sozialwissenschaftler aus Deutschland in ihrer Rolle als „refugee scholars” diente.[44]
Mit Bezug auf Georg Simmels bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts definierten Typus des „Fremden”[45] hatte man dort den Prototyp des „Akkulturierten” definiert, der als „new type of personality” und „cultural hybrid” eine Figur „on the margin of two cultures and two societies” sei. Wenig später hat in diesem Kreis der nach 1938 aus Österreich geflohene Sozialwissenschaftler Alfred Schütz jene Überlegungen in seiner heute viel beachteten Studie „The Stranger” ergänzt, die – lange vor den heutigen Hybriditätstheorien mit ähnlichen Zugriffen – zusätzlich auch den „Grenzraum” als Dekonstruktionsarena der alten vertrauten Gewissheiten im Aushandlungsprozess mit den neuen Erfahrungen thematisiert.[46] Damit begann die Akkulturationsforschung ihr bisheriges Feld der Kulturanthropologie zu verlassen. Kurz zuvor war sie auf Initiative des amerikanischen Social Science Research Council zu einem breiteren, alle Sozialwissenschaften einbeziehenden Forschungsprogramm erweitert worden, um vor dem Hintergrund der dynamischen Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft, nicht zuletzt durch die jüngsten Einwanderungen, alle jene Phänomene zu untersuchen, „which result when groups of individuals having different cultures come into continuous first-hand contact with subsequent changes in the original cultural patterns of either or both groups”.[47] An diese Traditionen knüpfte Herbert A. Strauss an, als er die Akkulturationstheorie für die Exilforschung rezipierte.[48]
In der Rückschau ist das von Strauss reaktivierte Akkulturationstheorem zur wichtigsten erkenntnisleitenden Grundlage für die Exilforschung geworden, wie schon das Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration sowie die von ihm herausgegebene sechsbändige Dokumentation Jewish Immigrants of the Nazi Period in the U.S.A zeigt.[49] In Deutschland etablierte sich die Akkulturationsforschung erst ab Ende der 1970er-Jahre, als die Deutsche Forschungsgemeinschaft nach den exilierten Schriftstellern und Politikern nun die Emigration von Wissenschaftlern in einem zweiten Schwerpunktprogramm zum Untersuchungsgegenstand machte. Herbert A. Strauss konnte hier direkte Anregungen geben, nachdem er 1981 aus New York zum Gründungsdirektor des in Berlin eingerichteten Instituts für Antisemitismusforschung berufen worden war.[50] Später wurden mit dem Akkulturationsansatz auch das „Exil der Künste” und das der „kleinen Leute” analysiert.[51]
Zu dieser Zeit war die Exilliteraturforschung mehr und mehr ins Abseits geraten. Vor dem Hintergrund des in den 1980er-Jahren gewachsenen öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses an der in Deutschland zerstörten jüdischen Kultur, angestoßen unter anderem von Marvin Chomskys Fernsehfilm „Holocaust” (1978), erklärte man nun das Ende der bisher emphatisch betriebenen Antifaschismus-Analysen, die zu „Mythen der Exilforschung” erklärt wurden. In den USA stießen die dort vorherrschenden, ästhetisch oder individualpsychologisch geleiteten Interpretationen ebenfalls auf zunehmendes Unbehagen, sodass insgesamt von einer „Krise” der Exilliteraturforschung gesprochen werden kann.[52] Immerhin emanzipierte sich in diesen Jahren der Stagnation die Frauenforschung, die zunächst danach fragte, warum in den literarischen Zeugnissen reale Frauen kaum vorkamen, ehe sie mit eigenen Forschungen zu speziell weiblichen Wahrnehmungs- und Sozialisationsmustern im Exil und in der Emigration begann.[53]
6. Fazit
Im Unterschied zu den USA, wo die Flüchtlinge aus Deutschland nach 1933 integrierter Bestandteil der Einwanderungsforschung gewesen sind, hat sich die Exilforschung in Deutschland in ihrer Anfangsphase als eine Art eigene Disziplin entwickelt. Das war nicht intendiert, und so wurde auch immer wieder betont, dass ihr Gegenstand Teil der europäischen und globalen Geschichte sei. Geschuldet war diese Entwicklung einerseits der systematischen, in kooperativen Netzwerken organisierten Forschung und andererseits dem majorisierenden Einfluss der Literaturwissenschaftler/innen, die in der euphorischen Aufbruchsphase mit ihren soziologisch geleiteten Methoden und bestätigt durch immer neue Funde das Forschungsprofil vorzugeben beanspruchten. Die Forschungen zur Wissenschaftsemigration wie auch zu den Flüchtlingen aus den Bereichen der bildenden Künste, etwa der Musik und der Malerei, waren ohnehin eher auf ihre Bezugswissenschaften orientiert als auf die von Literaturwissenschaftlern dominierte Exilforschung.
Je mehr sich das Forschungsfeld ausdifferenzierte, desto enger erschien das Selbstbild der Exilforschung. Die weiteren Untersuchungen zur wissenschaftlichen, intellektuellen und künstlerischen Emigration zeigten mit ihrem Fokus auf den hinterlassenen Lücken im Herkunftsland, den geistigen Transfers und den Wirkungen in den Zufluchtsländern, also mit Fragen nach der Interferenz von Herkunfts- und Fremdkulturen und den damit verbundenen Akkulturationsprozessen alsbald den begrenzten Horizont der literaturwissenschaftlichen und historischen Analysen zum sogenannten Anderen Deutschland. In jüngster Zeit begann auch hier ein Wandel, der über den Umweg der neueren Kulturwissenschaften und die dort rezipierten Ansätze der postcolonial studies eingeleitet wurde. Damit gerieten auch hier permanente Prozesse des „Aushandelns” gegensätzlicher Anschauungen und Interessen in den Forschungsmittelpunkt, die nicht nur für Migrationsprozesse, sondern auch für die komparativen Analysen heutiger Exile adaptiert wurden. Solche Einsichten hätte man aber durchaus bereits dreißig Jahre zuvor durch die Rezeption der Akkulturationstheorie gewinnen können, die in vielem das methodische Instrumentarium und die Erkenntnisinteressen der postkolonialen Ansätze mit ihren Hybriditätskonzeptionen vorformuliert hat.[54] Ein Blick in das eigene Forschungsfeld hätte zudem zeigen können, dass es sogar direkte Verbindungen zwischen den Wortführern des Postkolonialismus und ehemaligen Emigranten gegeben hat.[55] Immerhin bleibt festzuhalten, dass neben den Werken heutiger Exilschriftsteller auch die deutschsprachige Literatur von Migranten inzwischen zu einem zentralen Feld der interkulturellen komparativen Exilforschung wurde und damit das ältere nationale Paradigma inzwischen obsolet geworden ist.[56]
Ähnliche Tendenzen sind bei den Forschungen zum politischen Exil auszumachen. Nachdem erkannt worden war, dass die mehrheitlich dem linken politischen Spektrum zuzuordnenden Gruppen – über die wenigen Angehörigen des konservativen Lagers gibt es bisher jenseits einzelbiografischer Beiträge keine nennenswerten Befunde – im Exil ihre Lagermentalitäten aus den Jahren der Weimarer Republik nicht hatten überwinden können und Bündnisdiskussionen etwa um eine antifaschistische „Volksfront” schon in den Anfängen steckengeblieben waren, ebbte das Interesse schnell ab.[57] Im Übrigen hat es eine deutsche Exilregierung wie in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Ländern nie gegeben, und nicht von ungefähr sind deutsche Exilpolitiker von den Krieg führenden Regierungen der Anti-Hitler-Koalition niemals zu Rate gezogen worden.
Auch hier begann der Wandel mit der Rezeption des Akkulturations-Paradigmas. Gefragt wurde jetzt, welche Lern- und Sozialisationsprozesse etwa die exilierten Sozialdemokraten und ihre Mitstreiter aus den Gewerkschaften in ihren Zufluchtsländern, vor allem in Großbritannien und Skandinavien, im Kontakt mit ihren Partnerorganisationen gemacht hatten. Dies ließ sich anhand der von ihnen nach 1945 aus dem Exil nach Deutschland für den demokratischen Aufbau mitgebrachten neuen Erfahrungen und Konzepte zeigen: so die Abkehr von alten Klassenkampftraditionen, das aktive Eintreten für die pluralistische Gesellschaftsordnung und vor allem die Ideen für eine europäische Ordnung zur Überwindung des Nationalstaats. Diese Leistungen der Remigranten werden heute als elementare Beiträge zur Westernisierung Nachkriegsdeutschlands gesehen.[58]
Das Ziel des zweiten DFG-Schwerpunktprogramms in den 1980er-Jahren, nämlich die systematische Erforschung der einzelnen Disziplinen unter dem Aspekt der Wirkung ihrer emigrierten Repräsentanten auf die Wissenschaftsentwicklung der Zufluchtsländer wie auch des Verlustes für Deutschland, wurde bis heute nicht erreicht. Nur für wenige Fachgebiete konnten erschöpfende Studien über die jeweiligen Personen mit summarischen Aussagen ihrer Positionierung in der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft vorgelegt worden.[59] Gesamtstudien sind hier also noch ein Desiderat der Forschung. Dennoch konnte das Bild in einer Vielzahl von Forschungen jenseits dieser Projekte inzwischen recht gut konturiert werden, insbesondere für die USA, wohin die meisten Wissenschaftler/innen geflohen sind, in geringerem Umfang für Großbritannien. Gleiches gilt auch für die Studien zum Exil aus den Bereichen der bildenden Künste, Musik, Malerei und Filmindustrie.[60] In den meisten Fällen kann auch hier von einer Erfolgsgeschichte der Akkulturation gesprochen werden, da aus diesen Professionen ebenfalls nur wenige, jeweils nicht mehr als 10 bis 15 Prozent, nach 1945 remigriert sind. Bestätigt wird der Erfolg etwa für die USA von den wiederholten Klagen amerikanischer Nativisten über den großen intellektuellen Einfluss, den die einstigen Emigranten auf das öffentliche Leben dort gewonnen hätten. Typisch dafür ist etwa der während der Reagan-Ära veröffentlichte Bestseller des Philosophen Allan Bloom The Closing of the American Mind, in dem mit der „German Connection” ehemaliger Emigranten abgerechnet wird. Aus Blooms Perspektive – der ein Schüler des emigrierten Philosophen Leo Strauss war, der sich in dieser Zeit als Stichwortgeber der gerade formierenden „Neokonservativen” profilierte – haben die Emigranten mit ihren ideologie- und gesellschaftskritischen Methoden die großen liberalen und christlichen Werte Amerikas zerstört und die amerikanische Kultur zu einer Art „Disneyland version of the Weimar Republic” gemacht.[61]
Arthur Kaufmann (1888–1971), Die geistige Emigration, Identifizierung der Personen und Namen; Bildquelle: Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, © VG Bild-Kunst, Bonn 2011.
Peter Burschel (Hrsg.), Intellektuelle im Exil, Wallstein, Göttingen 2011, ISBN 978-3-8353-0781-0.
Claus-Dieter Krohn, Emigration 1933-1945/50, in: Europäische Geschichte Online (EGO). Mainz 31.5.2011 (online).
Lutz Winckler, Claus-Dieter Krohn (Hrsg.), Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, München 1983 ff.
Lutz Winckler, Gerhard Paul, Patrik von zur Mühlen, Claus-Dieter Krohn (Hrsg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, ISBN 9783534219995.
Lieselotte Maas, Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945, 3 Bde., Carl Hanser Verlag, München 1976-1981, ISBN 3446120599.
Herbert A. Strauss, Werner Röder (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. 3 Bde., 1980-83, ISBN 3-598-10087-6.
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