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Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.

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Martina Winkler

Kindheitsgeschichte

Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 17.10.2016
https://docupedia.de//zg/Winkler_kindheitsgeschichte_v1_de_2016

DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.707.v1

Artikelbild: Kindheitsgeschichte

Spuren einer bürgerlichen Kindheit im Mitteleuropa der 1920er-Jahre. Foto: privat M. Winkler © mit freundlicher Genehmigung

Martina Winkler führt in die Fragen und Debatten der Kindheitsgeschichte ein. Die historische Auseinandersetzung mit Kindheit lässt sich analytisch in drei einander überlappende Bereiche bzw. Ansätze unterteilen: die Erforschung der Umstände, unter denen Kinder in der Vergangenheit lebten; die Analyse der Vorstellungen von „Kindheit” im historischen Wandel; sowie die Nutzung des Konzepts als historische Kategorie von fundamentaler Bedeutung für die Strukturierung von Gesellschaften. Im Vordergrund stehen konzeptionelle und theoretische Fragen nach der kategorischen Bedeutung von Kindheit und nach den Möglichkeiten und Chancen einer Kindheitsgeschichte: Wie werden „Kinder” und „Kindheit” definiert, und mit welchen Konzepten, Werten und Vorstellungen werden die Begriffe gefüllt?
Kindheitsgeschichte

von Martina Winkler

Kindheitsgeschichte – Motive und Beteiligte

Große Kulleraugen, traumhafte Saltkrokan-Ferien oder skrupellose Ausbeutung – Historikerinnen und Historiker, die sich mit Kindheit beschäftigen, treffen nicht selten auf zahlreiche Klischees. Nicht wenige davon haben wir liebgewonnen, und sie bestimmen unser Welt- und Wertebild entscheidend mit. Umso überraschender ist es für Studierende und Forscher/innen oft, wie komplex, differenziert und herausfordernd die historische Kindheitsforschung sich gestaltet.

Die historische Auseinandersetzung mit Kindheit lässt sich analytisch in drei – einander überlappende und nur selten streng voneinander zu trennende – Bereiche bzw. Ansätze unterteilen: die Erforschung der Umstände, unter denen Kinder in der Vergangenheit lebten; die Analyse der Vorstellungen von „Kindheit” im historischen Wandel; sowie die Nutzung des Konzepts als historische Kategorie von fundamentaler Bedeutung für die Strukturierung von Gesellschaften. Dabei treffen zahlreiche Fachrichtungen und Subdisziplinen aufeinander, zu denen die Geschichte, Soziologie, Literaturwissenschaften und Erziehungswissenschaften gehören, aber auch Bildungshistorie, Demografie, Kunstwissenschaften und zunehmend Cultural sowie Postcolonial Studies. Eine solche Ubiquität des Themas ist nicht weiter verwunderlich, bedenkt man einerseits den – banalen – Umstand, dass es Kinder in der Geschichte immer und überall gab, dass es andererseits in der Moderne aber ein komplexes Gewebe gesellschaftlicher Ausgrenzungs- und Integrationsprozesse zu beobachten gibt. Hinzu kommt eine große aktuelle Relevanz des Themas, die nicht zuletzt durch eine in den letzten Jahren für die westliche Welt, insbesondere die USA, oft bemerkte große Fixierung auf Kindheit deutlich wird. Die akademische Reflexion schafft somit auch für gegenwärtige Debatten und Aufreger wie „Helikoptereltern”, Noten in der Grundschule oder „Tiger Moms” verschiedenster Art einen wichtigen Hintergrund und verleiht ihnen historische Tiefenschärfe. Abgesehen von solchen populären Strömungen hat sich seit den 1990er-Jahren, beeinflusst nicht zuletzt durch Debatten über die UN-Kinderrechtskonvention von 1989,[1] die Forschungsrichtung der Childhood Studies, zu deutsch „Kindheitswissenschaften”, etabliert. Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen wie Psychologie, Sozialwissenschaften, Pädagogik u.a. fragen nach den Gegebenheiten von kindlicher Entwicklung und Förderung, wobei die Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe ein wichtiges Zielkonzept bildet. Theoretische ebenso wie anwendungsorientierte Forschung wird inzwischen in zahlreichen Studiengängen zur „Kindheitswissenschaft” umgesetzt. Die Kindheitsgeschichte zeigt sich von diesen kultur-, sozial- und naturwissenschaftlichen Entwicklungen inspiriert, unterscheidet sich in ihren Fragestellungen doch notwendig von den oft eher zukunfts- und praxisorientierten Kindheitswissenschaften.

Die Dekonstruktion und Historisierung von Kindheit ist dabei akademisch durchaus mit ähnlichen Prozessen zu Themen wie Geschlecht, race, Raum und disability zu vergleichen. Intellektuell und zuweilen auch emotional bildet sie eine möglicherweise noch größere Herausforderung, zieht sie doch ein im breiten öffentlichen Diskurs bisher noch kaum problematisiertes Ordnungs- und Wissensprinzip fundamental in Zweifel und berührt dabei sehr grundsätzliche Vorstellungen von Identität und Glück. Die Anthropologin Sharon Stephens schrieb 1997: „The tendency to naturalize identity is still strong in relation to childhood, even if this tendency is increasingly criticized in relation to ethnicity, race, gender and nation. It is as though the child represented the last stable, grounded point in the constantly shifting field of relations and ephemeral identities that characterizes postmodernity.”[2] Die Kindheitsgeschichte ist gemeinsam mit den Childhood Studies auf dem besten Wege, diese Stabilität nachhaltig zu untergraben.

Dieser Beitrag bietet eine kurze Einführung in die Fragen und Debatten der Kindheitsgeschichte. Im Zentrum stehen nordamerikanische sowie westeuropäische Forschungskontexte und entsprechend auch die Empirie „westlicher” Kindheiten seit dem Mittelalter, mit einem Fokus auf dem 19. und 20. Jahrhundert. Dabei werden verschiedene Probleme diskutiert, die sich aus den Grundfragen der aktuellen Forschung ergeben: Wie werden „Kinder” und „Kindheit” definiert, und mit welchen Konzepten, Werten und Vorstellungen werden die Begriffe gefüllt? Das Unterkapitel „Wem gehören die Kinder?” nimmt historische und historiografische Fragen nach der Verantwortung, dem Sorgerecht bzw. der Sorgepflicht sowie allgemein dem Problem der agency in der Kindheitsgeschichte in den Blick. Die ungeheure empirische Vielfalt, mit der Kindheitshistoriker/innen konfrontiert sind, wird – teilweise unter globalgeschichtlichen Gesichtspunkten – im Kapitel „Kindheit oder Kindheiten” problematisiert. Der Beitrag mündet in eine Diskussion über den Akteursstatus von Kindern anhand konkreter Beispiele aus der Forschung (u.a. Kinderrechte und Kinderarbeit). Der Text folgt dabei nur bedingt einer chronologischen Struktur: Im Vordergrund stehen konzeptionelle und theoretische Fragen nach der kategorischen Bedeutung von Kindheit und nach den Möglichkeiten und Chancen einer Kindheitsgeschichte.


 

Definitionen und Definitionsprobleme

Welche Gruppe von Menschen fällt denn überhaupt unter die Kategorie „Kind”? Gern zitiert wird die in der UN-Kinderrechtskonvention[3] formulierte Definition, ein Kind sei, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet habe. Dennoch gibt es national und international zahlreiche zusätzliche Definitionen und Unterkategorien; so in Deutschland beispielsweise die strafrechtliche Zuordnung eines 14- bis 18-Jährigen als „Jugendlicher”, zugleich aber die familienrechtliche Kategorisierung aller Menschen unter 18 Jahren als „Kind” sowie die ausländerrechtlich relevante Festlegung der Grenze von 16 Jahren.

Hinzu kommen kritische Ansätze, welche den Sinn einer Knüpfung von Rechten, Ansprüchen und Beschränkungen an ein fixes Datum (den Geburtstag) ganz grundsätzlich anzweifeln. Insbesondere in Fragen der Bestimmungsrechte über den eigenen Körper (sexuell ebenso wie medizinisch) gibt es Diskurse von rechtlicher, medizinischer und pädagogischer Seite.[4] Solche Diskussionen über Selbstbestimmung und Teilhabe, die beispielsweise auch das Wahlrecht betreffen können, richten sich keinesfalls immer auf eine „Verkürzung” der Kindheit; neuere Forschungen argumentieren vielmehr dafür, dass die Entwicklung keineswegs mit 18 Jahren, sondern erst mit 21 oder gar 25 Jahren abgeschlossen sei, und die rechtliche Kategorie „Kindheit” ausgeweitet werden müsse. Dabei werden soziale Aspekte (Stichwort „verlängerte Adoleszenz”[5]) ebenso wie Erkenntnisse der Neurologie in die – oft auch populär geführte – Debatte eingebracht.[6]

Die historische Perspektive kompliziert die Frage nach der Begriffsbestimmung zusätzlich. Zunächst zwar bringt der Blick auf die Definition des „Kindes” in der europäischen Vormoderne formal meist ähnliche Abgrenzungen und Kategorisierungen hervor, wie wir sie heute kennen: eine Unterscheidung von Säuglings- und Kindesalter, einen Ausbildungs- bzw. Schulbeginn um den 6. Geburtstag herum, Strafmündigkeit ungefähr mit 12 oder 14 Jahren, Volljährigkeit mit 18 oder 21 Jahren.[7] Doch gehört die Frage danach, wie und mit welchen Wertungen diese Lebensabschnitte konkret gefüllt und aufgeladen sind, zu den meistdiskutierten der Kindheitsgeschichte. Zeithistorische Forschungen haben mit einer komplexeren Quellenlage die Möglichkeit, über scheinbar klare rechtliche und konventionelle Festlegungen hinauszugehen; sie untersuchen Situationen, in denen die Definition „Kind” auf ihre Grenzen trifft.

So hat Tara Zahra die Lage von Kindern als displaced persons nach 1945 untersucht und gezeigt, wie sehr die Kriegs- und Nachkriegssituation die hergebrachten Altersgrenzen infrage stellte.[8] Die Bürokratie von Flüchtlingshilfswerken und staatlicher Bevölkerungspolitik scheiterte in dieser Situation häufig nicht nur an der Frage, welcher Nationalität ein Kind zuzuordnen sei, sondern auch daran, ob ein Mensch überhaupt als „Kind” zu kategorisieren und entsprechend zu behandeln sei. Nur zu häufig waren Dokumente verloren und das Geburtsdatum vergessen; und während oft jahrelange Mangelernährung die körperliche Entwicklung verlangsamt hatte, war vor allem die Psyche vieler Kinder, die Lager und Vertreibung erlebt hatten, „zu weit entwickelt” und für Experten nicht mehr einem bestimmten Alter zuzuordnen. In dieser Ausnahmesituation, die sich den seit dem 18. Jahrhundert entwickelten Prozessen eines childhood-engineering auf so dramatische Art entzogen hatte, passten viele Menschen nicht mehr in das grundlegend dualistische Muster Kind-Erwachsener. Als Reaktion identifiziert Zahra eine Neuformierung und Neubetonung des Kindheitskonzepts. Ähnlich wie nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, ähnlich auch wie in den zahlreichen Kinderschutz-Kampagnen bereits des 19. Jahrhunderts wurde „Kindheit” auch nach 1945 wieder dezidiert psychologisiert und definiert als eine Lebensphase, die außerordentlich anfällig für Traumata und deshalb besonders fürsorgebedürftig sei. Kinderheime – und dies gilt für die Zeit nach beiden Weltkriegen – machten es sich ausdrücklich zur Aufgabe, „Kindheit” wiederherzustellen, „verlorene Kindheiten” zu sichern. Diese Situation, die sich ganz ähnlich aktuell bei der oft bürokratisch schwierigen Zuordnung von Flüchtlingen aus Bürgerkriegsländern wiederholt,[9] macht den Konstruktionscharakter nicht nur der Definition „Kind” deutlich, sondern ebenso sehr auch die Normativität und kulturelle Gebundenheit dessen, was wir unter „Kindheit” verstehen.

Genau dies – Konstruktionscharakter und normative Aufladung – ist es letztlich, was Kindheit als Thema für eine immer größer werdende Zahl von Historikerinnen und Historikern attraktiv macht. Kindheit wird neben Geschlecht und race als Gesellschaften formende Identität und Zuschreibung betrachtet, zunehmend auch mit einem intersektionalen Ansatz. Die Tatsache, dass Kindheit als universal gilt – jeder war schließlich einmal ein Kind – und zugleich per definitionem zeitlich begrenzt ist, verleiht dieser Kategorie zusätzliche Facetten und unterscheidet sie von anderen historischen Kategorien.


 

Kindheit als Konzept

Dass Kindheit ein dringend zu historisierendes Konzept ist, hat bereits Philippe Ariès in seiner vielzitierten und intensiv diskutierten Studie aus dem Jahr 1960 festgestellt.[10] „Ein Verständnis von Kindheit”, so Ariès, sei erst seit dem späten Mittelalter langsam zu beobachten. Wirklich erkennen wollte Ariès das, was er als Kindheit verstand – eine symbolische Kennzeichnung von Kindern beispielsweise durch besondere Kleidung, das Fernhalten vom Bereich des Sexuellen, eine öffentlich darstellbare besondere Emotionalität gegenüber den eigenen Nachkommen –, erst ab dem 17. oder gar 18. Jahrhundert. Obwohl die gern kolportierte Behauptung vom Mittelalter ohne Kindheit eine regelrechte – und weitgehend sehr überzeugende – „Mini-Industrie”[11] von mediävistischer Kindheitsforschung nach sich zog,[12] gibt es doch wenig Zweifel daran (und kaum Überraschung darüber), dass Kindheit in der Moderne stärker reflektiert, systematisiert und geregelt wurde. Die Konzentration Ariès´ auf Prozesse der Modernisierung hat die historische Kindheitsforschung auch insofern beeinflusst, als bis heute – abgesehen von den erwähnten mediävistischen Debatten – ein deutlicher Schwerpunkt auf dem 16.-19. Jahrhundert liegt.

Ariès wurde und wird nicht nur ausgesprochen häufig, sondern oft auch sehr oberflächlich und missverständlich zitiert, was insbesondere im breiten populärwissenschaftlichen Diskurs sicherlich der starken emotionalen und moralischen Aufladung des Themas zuzurechnen ist. Ariès´ Grundaussage, das Mittelalter habe „kein Verständnis von Kindheit” gehabt, wird gern interpretiert als Darstellung einer kinderfeindlichen Vormoderne. Ariès selbst hatte einer solchen wertenden Interpretation ausdrücklich widersprochen.[13] Seine eigene Darstellung etabliert vielmehr eine Parallele von der Entwicklung des Kindheitskonzepts in der Frühen Neuzeit einerseits und der Disziplinierung und Standardisierung von Körper und Geist andererseits. Dieses durchaus in Foucaultsche Richtungen neigende Narrativ wurde jedoch gern ignoriert, als in Reaktion auf Ariès die Tradition der sogenannten dark legend entstand. Ganz im Sinne einer normativen Modernisierungstheorie argumentierten Historiker, die ein „dunkles” Mittelalter voller unglücklicher, missbrauchter und geschlagener Kinder vermuteten und komplementär formulierten: „Good mothering is an invention of modernization.”[14] Methodologisch und empirisch unterschiedlich gut begründete Argumente gegen ein solches Bild erschienen schnell als „white legend”, welche ausdrücklich für die Existenz liebender Eltern und glücklicher Kinder auch in der Vormoderne argumentierte und zuweilen der Naivität oder des Relativismus beschuldigt wurde.[15]

Dieser Kontrast prägte vor allem die Debatten der 1970er- und 1980er-Jahre, klingt aber in Darstellungen vor allem zur mediävistischen Kindheitsforschung noch immer nach. Dennoch hat sich die normativ evolutionäre Herangehensweise in den Kindheitswissenschaften verschoben hin zu einem eher modernisierungskritischen, oft postkolonial inspirierten Ansatz. Zentral ist nun die Frage nach der Kategorisierung und Konstruktion von Kindheit, nicht so sehr die moralische Bewertung der Kindererziehung. Damit wird einmal der entsprechende Argumentationsstrang bei Ariès aufgegriffen, der die Disziplinierungsstrategien moderner Bildung und Erziehung analysierte und kritisch betrachtete. Hinzu kommt das von den Childhood Studies betonte Interesse an sozialer Teilhabe von Kindern und eine kritische Haltung gegenüber modernen – als schützend, aber zugleich beschränkend verstandenen – Kindheitskonzepten. Ganz ähnlich den Modellen, die in Forschungen zu anderen sozialen Gruppen (Gender, Ethnien etc.) angewandt werden, sind auch die Ansätze der Childhood Studies daran orientiert, wie die Kategorie „Kind” soziale Strukturen schafft, Autoritäten ausbildet und Herrschaft absichert.

Was für die verschiedensten Ordnungskategorien unseres Denkens bereits beschrieben wurde – die Weiblichkeit, Osteuropa, der Orient, Behinderung, das Mittelalter –, findet also auch Anwendung in der Kindheitsforschung. Soziolog/innen und Kulturwissenschaftler/innen hinterfragen dabei aktuelle, tief verwurzelte und in höchstem Maße normative Vorstellungen von „Kindheit”. Im Zentrum dieser Vorstellungen stehen dabei Zuschreibungen wie Unschuld, Schutzbedürftigkeit und Formbarkeit sowie das für moderne Kindheits- und Erziehungsvorstellungen fundamentale Konzept der Entwicklung. Diese Dekonstruktionen finden in zahlreichen geschichtswissenschaftlichen Studien eine wichtige historische Unterfütterung.

Einige dieser Konzepte gehen auf Strömungen der Frühen Neuzeit zurück: Die Vorstellung vom „unschuldigen” Kind wird allgemein dem späteren 18. Jahrhundert zugeschrieben und mit den Anfängen der Romantik verknüpft.[16] Bereits die religiösen Konflikte des 16. und 17. Jahrhunderts hatten eine starke Betonung der Form- bzw. Erziehbarkeit des Kindes mit sich gebracht, die Aufklärung dann betonte Disziplinierung und Bildungsbedarf. Das neue Bild von Fortschritt und Entwicklung fokussierte sich in besonderer Weise auf das Kind, das nachgerade definiert und bestimmt wurde als unfertig, als in Entwicklung begriffen.

Die Vorstellung vom „unschuldigen“ Kind wird allgemein dem späteren 18. Jahrhundert zugeschrieben. Kinderporträt von Joshua Reynolds: The Age of Innocence, Ölgemälde von 1785 oder 1788. Quelle: [https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Age_of_Innocence_-_Reynolds.jpg Wikimedia Commons] / [http://www.tate.org.uk/art/artworks/reynolds-the-age-of-innocence-n00307 Tate], gemeinfrei
Die Vorstellung vom „unschuldigen“ Kind wird allgemein dem späteren 18. Jahrhundert zugeschrieben. Kinderporträt von Joshua Reynolds: The Age of Innocence, Ölgemälde von 1785 oder 1788. Quelle: Wikimedia Commons / Tate, gemeinfrei


 

Diese Prägungen blieben im 19. Jahrhundert und bis in die Gegenwart erhalten, sie wurden jedoch um ein weiteres, typisch romantisches Moment ergänzt: „Das Kind” galt nun – anders als das mit der Erbsünde belastete Kind der Frühneuzeit – als rein und naturnah und damit nicht mehr nur als tabula rasa für aufklärerische, erwachsene Bildungsambitionen, sondern als wissend und weise in seiner eigenen Art. „Child is the Father of Man”, formulierte William Wordsworth eine bis heute weit verbreitete Vorstellung vom Kind als Lehrmeister des Erwachsenen. In der Kunst gilt ein Kinderportrait von Joshua Reynolds aus dem Jahre 1785 als wegweisend, in der Philosophie der Émile des Jean-Jacques Rousseau.

Für das 19. Jahrhundert haben viele Studien den Wegen nachgespürt, auf denen solche Ideen vom unschuldig-reinen Kind die Ebene des Elitendiskurses verließen und zu einem in der westlichen Welt allgemein akzeptierten „Wissen” wurden.[17] Diese Wege verliefen weitgehend parallel zur Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Wie Gunilla Budde deutlich gemacht hat, gehörte die Vorstellung von einer „glücklichen” Kindheit zum Selbstdarstellungsprojekt des aufstrebenden Bürgertums: Anders als der seine Kinder in ihrer Entwicklung beschränkende Adel, anders auch als das bildungsferne Proletariat, schien nur der Bürger mit seinem Verständnis von Bildung, Arbeit und Moral eine für seine eigenen Kinder und die Kinder einer ganzen Nation richtige Erziehung gewährleisten zu können.[18]

Die moderne Kindheit ist somit zu einem großen Teil eine bürgerliche Kindheit, sowohl in ihrem Anspruch als auch in den sie bestimmenden Strukturen und Charakteristika. Dieser Umstand bildet die Grundlage für verschiedene Prozesse und Dynamiken, welche die Kindheit – letztlich auch für nichtbürgerliche soziale Gruppen[19] – in zunehmendem Maße definierten: Sakralisierung bzw. Emotionalisierung, zunehmende Einbeziehung in moderne Konzepte von Wohlfahrtsstaat und governance, zugleich eine starke Privatisierung, außerdem Nationalisierung und schließlich Pathologisierung. Ein Großteil dieser Prozesse hat seine Wurzeln bereits in der Reformation, erfährt eine Verstärkung im 18. Jahrhundert und nimmt im 19. Jahrhundert nochmals deutlich Fahrt auf. Einen wichtigen Kulminationspunkt kann man tatsächlich im Jahre 1900 ausmachen, als die schwedische Autorin Ellen Key das „Jahrhundert des Kindes” ausrief.[20] Einige Schlagworte ihres Textes haben dazu geführt, dass Key bis heute gefeiert wird als Vorreiterin der Kinderrechte und als Maßstab, an dem das 20. Jahrhundert sich messen lassen müsse.[21] Ihr Plädoyer für eugenische Maßnahmen und ihre Aussagen zur „Minderwertigkeit” der Frau dagegen werden gern überlesen. Key legte die Vision einer vermeintlich besseren – völkisch konzipierten – Gesellschaft vor, in der sich Moral, Wissen und Stärke vor allem am Umgang mit „dem Kinde” messen ließe. Sie läutete damit ein Jahrhundert ein, in dem „das Kind” als Konstrukt zu einem Schlüsselkonzept gesellschaftlicher Gestaltung und zu einem überragenden ethischen Maßstab werden sollte. Obwohl sie sich selbst als Pionierin sah, muss sie wohl eher als typische Vertreterin ihrer Zeit begriffen werden. Denn wenngleich die Emotionalisierung und Idealisierung des Kindes bereits mit Aufklärung und Spätromantik ihren Anfang nahmen, ist für die Wende zum 20. Jahrhundert ein weiterer, diesmal breite Schichten einbeziehender Mentalitätswandel zu erkennen.

Eine wichtige Rolle spielten auch demografische Veränderungen. Bereits Philippe Ariès hatte in der sinkenden Mortalität im Kleinkindalter einen Grund für eine stärkere emotionale Bindung an Säuglinge und Kleinkinder gesehen: In der mittelalterlichen Welt, in der nur drei Viertel aller Neugeborenen das erste Lebensjahr überlebten und nur die Hälfte aller Kinder ihren zehnten Geburtstag erreichten,[22] strebte man Ariès zufolge eine hohe Geburtenzahl an und investierte zugleich nicht allzu viel Gefühl in das einzelne Kind. [23]

Allerdings beobachtet auch Ariès bereits für das 17. Jahrhundert ein größeres Interesse am Kind – lange bevor sich die moderne Familienstruktur von zwei bis drei Kindern durchsetzen konnte. Erst im 19. und 20. Jahrhundert sind, mit durchaus bemerkenswerten regionalen und nationalen Unterschieden, Entwicklungen zu beobachten, die in ihrer Gesamtheit zu einer deutlich niedrigeren Geburtenrate führten: eine steigende Lebenserwartung und sinkende Kindersterblichkeit, wachsende Urbanisierung und zunehmender Wohlstand, höheres Bildungsniveau und sexuelle Aufklärung sowie die größere Attraktivität weiblicher Erwerbstätigkeit. Das bürgerliche Familienideal von Vater, Mutter und zwei Kindern (und, begründet durch die weit ins 20. Jahrhundert reichende relativ hohe Kindersterblichkeit, „einem Reservekind”[24]) war zu einem Erfolgsmodell geworden.

Für die USA konnte Viviana Zelizer einen entscheidenden Aspekt dieses Wandels zur Jahrhundertwende deutlich machen: Anhand von Veränderungen auf dem Adoptionsmarkt, bei Gerichtsurteilen in Schadensersatzfällen und natürlich anhand der Diskurse um Kinderarbeit wies sie eine relativ schnell vollzogene „Sakralisierung des Kindes” nach.[25] Während kleine Kinder, insbesondere Mädchen, im 19. Jahrhundert in erster Linie als ökonomische Bürde galten, wurden sie bis etwa 1930 zu den begehrtesten Adoptionskandidaten. Aus dem ökonomisch wertlosen kleinen Menschen war binnen eines halben Jahrhunderts ein emotional kostbares Kind geworden. Die Überführung von Kindern aus einer ökonomischen in eine emotionale Ökonomie war so total, dass der Versuch, Kinder als – positiven oder negativen – Kostenfaktor einzuschätzen, zu einem regelrechten Tabu wurde. Was Zelizer für die USA beobachtet hat, kann ganz ähnlich für europäische Länder nachgewiesen werden. Dabei hat die Forschung vor allem für England ein zunehmendes Interesse am „Kindeswohl” analysiert. Dieses Phänomen, das traditionell als Verbesserung der Situation und Akzeptanz spezifischer kindlicher Bedürfnisse gelobt wurde, wird heute analysiert als ein Konglomerat von wohlfahrtsstaatlichen Ambitionen, bürgerlichen Visionen und sozialem Wandel.[26] Kinder wurden zu einem bevorzugten Objekt gesellschaftlichen Gestaltungswillens. Von nun an galt: „[…] childhood is the most intensively governed sector of personal existence.”[27] In vielen Regionen Westeuropas entstand ein regelrechter „Archipel” von Erziehungsheimen, welche die Situation der Kinder und letztlich der ganzen Gesellschaft mithilfe von Bildungsmaßnahmen verbessern wollten.[28]

Ein vieldiskutiertes Problem der Zeit war das Phänomen der Kinderarbeit. Bereits im späten 18. Jahrhundert wurden Sorgen über negative gesundheitliche, vor allem aber auch moralische Auswirkungen der Kinderarbeit in der Industrie laut. Die Forschung zur Kinderarbeit ist durchaus kontrovers, genaue statistische Angaben sind schwierig.[29] Als sicher aber kann gelten, dass die Kritik an den Bedingungen kindlicher Erwerbstätigkeit und später an der Kinderarbeit generell nicht nur auf veränderte Strukturen in der Produktion zurückzuführen ist, sondern mindestens ebenso sehr auf eine veränderte Perspektive auf das, was „Kindheit” sein sollte. Kinderarbeit wurde nun zu einer geeigneten Folie für die Konstruktion und Definition von Kindheit. Zahlreiche Zitate verdeutlichen, wie sehr Kinderarbeit nicht nur als konkretes soziales Problem, sondern auch und vor allem als Sündenfall gegen eine natürliche Ordnung interpretiert wurde: Sie riss die (gerade erst in Konstruktion begriffenen) Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsenensein ein. Von 1851 stammt die Beschreibung eines Straßenkinds als „hideous antithesis, infant in age, a man in shrewdness and vice”,[30] von 1861/62 die folgende Problematisierung: „although only eight years of age, [she] had entirely lost all childish way, and was, indeed, in thoughts and manner, a woman”.[31]

Die Definition der Kindheit entstammte der aufstrebenden Mittelschicht; das neue Konzept des Kindeswohls wurde jedoch zunächst und mit besonderer Betonung auf die sozialen Unterschichten angewandt, die aus der Sicht des Bürgertums nicht imstande waren, ihre Kinder „richtig” aufwachsen zu lassen.[32] Aber auch das Leben der Bürgerkinder wurde zunehmend institutionalisiert. Ob Kindergarten oder Kinderzimmer, die Zuordnung von bestimmten Räumen, Objekten, Tätigkeiten und auch Zeitregimen wurde zu einem zentralen Element der Konstruktion von Kindheit. Entscheidend waren der Schutz vor einer „erwachsenen” und damit als für das Kind potenziell gefährlichen Umwelt sowie eine Idealisierung der an das Kindsein gebundenen Emotionen und Tätigkeiten. Die Kindheit sollte frei von Sünde und Gefahren sein, wurde zum nostalgisch erstrebten Sehnsuchtsort.

Friedrich Fröbel, der 1840 in Thüringen den ersten Kindergarten gründete, schrieb später zu seiner Idee und zur entsprechenden Namensfindung: „Kindergarten; Garten = Paradies also Kindergarten = das den Kindern wieder zurück zu gebendes und gegebenes Paradies.”[33] Fröbel ging davon aus, dass Kinder einer besonderen Behandlung („Erziehung”) bedürften und die Eltern nicht unbedingt imstande wären, dies zu leisten. Stattdessen sollten ausgebildete „Gärtnerinnen” helfen. Bürgerliche Domestizierung und Mutterkult erfuhren hier somit eine wirksame Gegendynamik. Neben dem Konzept von natürlicher Kindheit (und entsprechend natürlicher Mutterschaft) entwickelte sich bereits im 19. Jahrhundert eine starke Professionalisierung der Erziehung.

Bis zum 20. Jahrhundert hatten sich auf Kinder konzentrierte Wissenschaftsdisziplinen ausgebildet, insbesondere die Pädagogik und die Kinderheilkunde. Vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden zunehmend Kinderkrankenhäuser eingerichtet und Lehrstühle für Kinderheilkunde begründet. Anders als Fachärzte anderer Richtungen spezialisierten sich Kinderärzte (und zunehmend auch -ärztinnen) dabei nicht auf eine Art von Krankheit, sondern auf einen spezifischen, essentialisierten Patienten: das Kind. Nicht unähnlich der Frau erlebte also auch das Kind eine fundamentale Form der Pathologisierung. Seelisch, moralisch wie gesundheitlich erschien „das Kind” vor allem als gefährdet.[34] Aus dieser Beobachtung ist eine ganze Subdisziplin der soziologischen und historischen Kindheitsforschung entstanden, die nach den Implikationen des Konzepts von „children at risk” fragt.[35] Jeroen Dekker beschreibt das gesamte 20. Jahrhundert als eine Geschichte der Ausweitung dieses Konzepts.

Man kann und muss, wie bereits erwähnt, Ellen Keys Proklamation eines „Jahrhunderts des Kindes” durchaus kritisch sehen. Dennoch ist ihr darin recht zu geben, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Nordamerika und Europa Kindheitskonzepte bereitstanden, die das folgende Zentennium deutlich prägen sollten. Es waren Werte formuliert worden, die kaum angreifbar erschienen – wer wollte die Schutzbedürftigkeit von Kindern und ihr Recht auf Liebe tatsächlich bezweifeln? Aus der Sicht der Kindheitsgeschichte erscheint das 20. Jahrhundert somit als eine Zeit eines regelrechten „Kindheitsbooms”, außerdem als Ära strategischer Aushandlungsprozesse und als Phase grundlegender Konflikte um die Kindheit. Diese Perspektive prägt entsprechend auch die zeithistorische Forschung in diesem Bereich.

Ein klassischer Schwerpunkt zeithistorischer Kindheitsforschung liegt in der Zeit des Nationalsozialismus. Hier ist ein traditionelles Interesse an pädagogischen Konzepten zu konstatieren,[36] wobei sich Darstellungen von Indoktrinierung und Militarisierung der Kindheit offenbar besonders gut für populärwissenschaftliche Darstellungen eignen.[37] Diskriminierung und Verfolgung vor allem jüdischer Kinder und von Kindern mit Behinderungen bilden ein weiteres Forschungsfeld.[38] Aktuell ist zunehmend ein Interesse am „normalen” Alltag zu beobachten, wobei sozialpolitische Strukturen im Zentrum stehen,[39] aber auch individuelles Erleben. Hier haben sich neben den traditionellen, vor allem für den Erinnerungsdiskurs und die Geschichtsdidaktik bedeutenden biografischen Ansätzen inzwischen weitere aufschlussreiche Fragestellungen entwickelt, die im Idealfall ihren Blick auf verschiedene Akteure richten und Kinder/Kindheiten nicht nur als emotional besonders ansprechende Opfergruppe sehen, sondern als Akteure und politisches Aushandlungsfeld. Insbesondere Resultate der oral history problematisieren das Bild des permanenten Ausnahmezustands und schaffen die Möglichkeit zu regionaler ebenso wie sozialer Differenzierung: Auch unter dem Nationalsozialismus gab es keine einheitliche „deutsche” Kindheit.[40] Das Konzept der Erinnerung spielt in Forschungen zu diesem Feld eine entscheidende Rolle, sei es als methodische Herausforderung bei der Befragung inzwischen erwachsener Zeitzeugen, sei es bei der Analyse der zahlreichen literarischen Texte, die sich – für Erwachsene oder als „Kinderliteratur” – mit dem Grauen der Shoah auseinandersetzen.[41]

Daneben entwickelt sich aktuell ein weiterer deutlicher Schwerpunkt, der Kindheiten in der Sowjetunion in den Blickpunkt rückt. Dabei kommt neben den frühen nachrevolutionären Jahren dem Stalinismus das größte Interesse zu,[42] und auch hier spielen Erinnerungen ehemaliger „Kinder des Gulag” eine große Rolle.[43] Mit Olga Kucherenko und Julie deGraffenried haben sich kürzlich zwei Historikerinnen mit einem stärker analytischen Anspruch an die Thematik von Kinderschicksalen während des „Großen Vaterländischen Krieges” gewagt.[44] Ihre differenzierten Thesen zur Abwendung von der stalinistischen „glücklichen Kindheit”[45] hin zu einem neuen Kindheitsbild, das Opferbereitschaft und somit in gewisser Weise auch Teilhabe forderte, machen ein Leitmotiv der zeithistorischen Kindheitsforschung deutlich: die Frage danach, wie die seit dem 18. Jahrhundert entstandenen Kindheitsideale im 20. Jahrhundert umgesetzt, instrumentalisiert, ignoriert oder auch rundheraus abgelehnt wurden. Auch wenn es um Kindheitsbilder im engeren Sinne geht, erweist sich der Zweite Weltkrieg in der Sowjetunion als hochkomplex und für Historiker/innen ergiebig: Kinder und Jugendliche spielten (und spielen) in der glorifizierenden Erinnerung an diese Jahre eine wichtige Rolle.[46]

Kriegszeiten gehören allgemein zu den wichtigsten Fluchtpunkten kindheitshistorischer Perspektiven,[47] denn Kinder werden hier regelmäßig auf die verschiedensten Weisen mobilisiert: nicht nur als Helfer im Arbeitsprozess und gegebenenfalls auch im militärischen Bereich, sondern vor allem als bewährtes Propagandamotiv.

Das Interesse an der Sowjetunion ist nicht zufällig: Die Auseinandersetzung mit sozialistischen Konzepten und Praktiken der Kindheit kann auf eine lange – oft normativ-anklagende – Tradition zurückblicken und knüpft nun seit einigen Jahren an neuere Debatten zur Kindheitsgeschichte an. Inzwischen liegen zahlreiche Studien vor, die geografisch vor allem die DDR und die Sowjetunion fokussieren,[48] ihre Perspektive aber zunehmend auch auf andere Regionen und Länder erweitern.[49] Thematisch sind vor allem Institutionen von Interesse – Kindergärten, Schulen, Pionierbewegung –, Kinderliteratur und -medien sowie pädagogische Konzepte.[50] Ein zeitlicher Schwerpunkt liegt oft auf den „Aufbauphasen” und entsprechend auf dem radikalen Ausloten einer neuen, betont nichtbürgerlichen Erziehung. Insbesondere die Situation der bezprizorniki, der zahlreichen „unbeaufsichtigten” Kinder nach dem Bürgerkrieg in Russland hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.[51] Während die Jahre der frühen Sowjetunion von pädagogischen Experimenten geprägt waren, stellte die stalinistische Gesellschaft das Kind als Hoffnungsträger und schützenswertes Ideal in den Mittelpunkt ihrer Propaganda. Hier werden utopische Konzepte ebenso wie deren häufiges Scheitern in höchst dramatischer Weise deutlich.[52]

Der Blick richtet sich somit vor allem auf diejenigen Aspekte sozialistischer Kindheiten, die das Bild des „Kollektiven” betonen. Die Forschung orientiert sich damit häufig nach wie vor an dem von Urie Bronfenbrenner in den frühen 1970er-Jahren gezeichneten Bild der „two worlds of childhood”:[53] Während „der Westen” eine individualistische und auf die Kernfamilie konzentrierte Erziehung kultiviere, richteten sozialistische Länder das Bild von der idealen Kindheit auf das Kollektiv aus. Obwohl diese These, insbesondere wenn es um die Rhetorik der sozialistischen Erziehungswissenschaften geht, natürlich nicht vollkommen von der Hand zu weisen ist, wirkt sie als eine Art Axiom für die historische Analyse doch in erster Linie beschränkend. Denn weder ist das westeuropäische und nordamerikanische Kindheitskonzept vollständig auf die Privatheit der Kleinfamilie konzentriert, noch kann man Theorien und Praxen in sozialistischen Ländern so pauschalisieren, dass sie auf einen gemeinsamen Kern des „Kollektivismus” zu reduzieren wären. Vielmehr scheint es aussichtsreicher, beide Kindheitsregime als Resultate der Entwicklungen im 19. Jahrhundert zu betrachten und damit gleichermaßen als Varianten der Moderne.[54]

Grundsätzlich sind es Varianten und Aushandlungsprozesse, die zu den wichtigsten Untersuchungsbereichen einer reflektierten historischen Kindheitsforschung gehören, und dies wird in zeithistorischen Studien besonders deutlich. Dabei ist das Themenspektrum durchaus breit und reicht von der Ganztagsschule als gesellschaftlichem Aushandlungsort[55] über materielle Kultur und Medien[56], Fragen von Familienstruktur, biopolitics und Reproduktion bis zu Untersuchungen von kindlicher Sexualität und sexuellem Missbrauch[57]. Die zeithistorische Kindheitsforschung ist in ihren Fragen oft sehr nahe an soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Debatten angesiedelt, baut aber überwiegend und ausdrücklich auf den Resultaten der Historiografie zur Vormoderne und zum 19. Jahrhundert auf. Deutlich gemacht wird vor allem die Problematik des in dieser Zeit konstruierten Kindheitsbilds, das als universalistisch, ahistorisch und kontextfrei kritisiert wird.[58] Kindheitsgeschichte wird so zu einem unverzichtbaren Aspekt der Sozial- und Kulturgeschichte.

Bereits im späten 19. Jahrhundert war das Interesse, das Kind zu beschützen, ein explizit öffentliches: „Save the Babies”, The Chicago Commons 1902: Information für Familien in englischer und deutscher Sprache. Quelle: [http://dcc.newberry.org/system/artifacts/803/original/Save-Babies-Pure-Milk.jpg The Newberry Digital Collections for the Clasroom, Call Number: Midwest MS Taylor box 58 Folder 2473 Creator: Taylor, Graham, 1851-1938] gemeinfrei
Bereits im späten 19. Jahrhundert war das Interesse, das Kind zu beschützen, ein explizit öffentliches: „Save the Babies”, The Chicago Commons 1902: Information für Familien in englischer und deutscher Sprache. Quelle: The Newberry Digital Collections for the Clasroom, Call Number: Midwest MS Taylor box 58 Folder 2473 Creator: Taylor, Graham, 1851-1938 gemeinfrei


 


Seit dem 19. Jahrhundert ist eine Vergesellschaftung der Kindheit zu beobachten. Die Forschung entdeckt zunehmend die Bedeutung, die Kinder für moderne Diskurse, Konflikte und Strukturen hatten – als Akteure, vornehmlich aber als Objekte, Projektionsfläche oder auch „Chiffre”[59]. Bereits im späten 19. Jahrhundert war das Interesse, das Kind zu beschützen, ein explizit öffentliches. Es manifestierte sich in Initiativen für die hygienische Zubereitung von Milch, der Einrichtung spezieller Gesundheitsagenturen für Kinder, verschiedenen Impfkampagnen, großer Aufmerksamkeit für Unfälle oder auch Gewalttaten gegen Kinder sowie, natürlich, der Durchsetzung der Schulpflicht. Diese Entwicklungen sind Teil der Bewegung, mit der sich traditionelle Vorsorgestrategien im 19. und 20. Jahrhundert „von einem Projekt einzelner Schichten zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe” wandelten, und generell Ausdruck eines neuen Interesses am social engineering.[60] Die dieser Bewegung der Moderne inhärenten Konflikte und Dynamiken erfuhren aber oft besondere Dramatik, sobald es um Kinder ging. Das um die Jahrhundertwende bereits fest etablierte Konzept der Entwicklung (als zentrales Element des Kindseins) maß Ernährung, Hygiene und seelischem Gleichgewicht in den frühen Lebensjahren besondere Bedeutung bei. Unmittelbar berührt war auch die mit Kindheit in der Moderne eng verbundene Zukunftshoffnung: Die Definition einer anderen, zukünftigen Gesellschaft machte das Konzept der „Vorsorge” ungleich dringender. Wichtig war zudem die Schutzfunktion, die Erwachsenen (Eltern und der gesamten Gesellschaft) zugeschrieben wurde: Ihnen, nicht etwa den betroffenen Kindern selbst, fiel es zu, vernünftig und verantwortungsvoll die kindliche Gesundheit zu sichern. Aus diesem Konzept von Verantwortung ergaben sich bereits im 19. Jahrhundert Konflikte, die das ganze 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart von Bedeutung sein sollten: Wenn „das Kind” nicht für sich selbst bestimmen konnte – und diese Annahme hatte spätestens seit dem 19. Jahrhundert axiomatische Geltung –, wer sollte es dann tun?


 

Wem gehören die Kinder?

Aus der Neubewertung der Kindheit als besonders schützenswerter, aber auch besonders wertvoller Lebensabschnitt – individuell ebenso wie sozial – entwickelte sich die Frage, wer diese Schutzfunktion übernehmen und entsprechend auch von den Resultaten profitieren sollte, wer kompetent und berechtigt war, über Kinder und Kindheiten zu entscheiden. Die Vorstellung von Kindern als emotional und moralisch kostbare Zukunftsressource führte konsequenterweise zu sozialen Kämpfen um diese Ressource. Zu den entscheidenden Akteuren bzw. Einheiten zählten hier die Familie und der Staat, doch dieser Dualismus fächerte sich auf in ein breites Spektrum von Zugehörigkeiten: Vereine, staatliche Institutionen, „die Nation”, Pädagogen und Ärzte. Obwohl seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Nordamerika und Europa ein öffentliches Interesse am Kindeswohl als selbstverständlich galt und zunehmend gesetzliche Grundlagen für ein Eingreifen des Staats in Fällen beispielsweise von Misshandlung oder grober Vernachlässigung geschaffen wurden, hielten staatliche Institutionen sich doch meist zurück und vermieden es weitgehend, sich in „Familienangelegenheiten” einzumischen. Kinderschutz war in der Praxis vor allem eine Angelegenheit von Vereinen, Experten und Bewegungen.[61] Wie komplex solche Konflikte sich zuweilen gestalteten, zeigt Jutta Kruse am Beispiel der irischen Anti-Impfbewegung, die auf den Zweifeln vieler Eltern am medizinischen Sinn der Pockenimpfung aufbaute und über Jahrzehnte hinweg nationale, antistaatliche, antibritische, sozialistische, religiöse und liberale Ambitionen in verschiedenen Formen kombinierte.[62] Die Frage nach der Impfung wurde zur Chiffre für nationale Ambitionen und gegen – als koloniale Übergriffe verstandene – staatliche Politik. Tatsächlich bildeten Kinder in vielen kolonialen Kontexten entscheidende Identifikationsfiguren für zivilisierungsmissionarische Ambitionen und Legitimationen. Kindheitsideale wurden mit realen Umständen kontrastiert, boten Gelegenheit für Kritik und rassistische Zuschreibungen und verstärkten auf diese Weise das sonst so gern an die Klasse gebundene bürgerliche Selbstvertrauen in eigene Vorstellungen von Kindheit und Erziehung. Das Konzept des „child at risk” wurde zur ausgelagerten Projektionsfläche und zur imperialen Agenda.[63] Die Kolonien wurden infantilisiert, während das Mutterland für sich auf diese Weise Verantwortung und Autorität in Anspruch nahm.[64] Nicht wenige Autoren sehen in heutigen Kinderrechts- und Kinderhilfsdiskursen eine Fortsetzung solcher kolonialer Denkmuster. [65]

Sehr ähnliche Strukturen sind auch in nationalen Interpretationen und Instrumentalisierungen von Kindheit zu finden. Beide Diskursformationen wiesen zahlreiche Überschneidungen auf, insbesondere, wenn zivilisierungsmissionarische Ambitionen in (Zwangs-) Adoptionsstrategien oder eugenische Maßnahmen übersetzt wurden. Die Nation wurde häufig als Familie imaginiert, die gemeinsam Verantwortung für „ihre” Kinder nicht nur übernahm, sondern diese Verantwortung auch legitim einfordern konnte. Tara Zahra und Pieter Judson haben deutlich gemacht, wie verschiedene Nationalitäten Österreich-Ungarns intensiv national motivierte und legitimierte Schulpolitik betrieben.[66] Traditionelle Mehrsprachigkeit und transregionale Migration in Ausbildung und Arbeit wurden nun als „Kinderdiebstahl” betrachtet, und die Nationalisierung von traditionell multiethnischen Gesellschaften fokussierte auf und legitimierte sich mit „dem Kind” – solche Denkstrukturen sind nicht selten noch im 21. Jahrhundert zu beobachten. Nationale Adoptionsmärkte wie beispielsweise in den USA dagegen wirken als Solidargemeinschaft und Konstruktionsraum der nationalen Gemeinschaft.[67] Die Vorstellung von Kindern als Ressource wird nur in wenigen Situationen so deutlich wie in national motivierten Kampagnen für Schulbesuch, höhere Geburtenraten oder eine „reine Muttersprache”.[68]

„Ich bin 10 Jahre – wie unsere Republik!“, Entwurf: Jahnke/Vallenthin, Druck: VEB Ratsdruckerei Dresden 1959. Quelle: [http://museum.zib.de/sgml_internet/sgml.php?seite=5&fld_0=p0001115 Stadtgeschichtliches Museum Leipzig], Lizenz:[https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/ CC BY-NC-SA 4.0]
„Ich bin 10 Jahre – wie unsere Republik!“, Entwurf: Jahnke/Vallenthin, Druck: VEB Ratsdruckerei Dresden 1959. Quelle: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Lizenz:CC BY-NC-SA 4.0


 

Die in der traditionellen Historiografie gern gefeierte „Entdeckung der Kindheit”, mit der man nun endlich Rücksicht auf kindliche Gefühle genommen habe, wird in solchen Forschungen, welche die gezielte Formung kindlicher nationaler und imperialer Emotionen analysieren, vom Kopf auf die Füße gestellt.[69] Die häufige Nähe der Nation zur Kindheit ergibt sich vor allem aus der Primordialität beider Konstruktionen und ihrer hohen moralischen und emotionalen Aufladung; hinzu kommt interessanterweise bei vielen Nationalbewegungen das Selbstverständnis als „jung”.[70] Karen Sanchez-Eppler geht mit ihrer Formulierung „In the rearing of each and every child the processes of national formation are reproduced in miniature”[71] wohl etwas weit. Doch von nationalen Aktivisten wurde und wird das Verständnis vom „child at risk” tatsächlich gern eins zu eins auf die junge, gefährdete und schützenswerte Nation übertragen. „Deren” Kinder, die als einzige Hoffnung für eine nationale Zukunft erschienen, mussten ebenso gehegt, gepflegt und geschützt werden wie die Nation selbst. 1959 behauptete ein Plakat aus der DDR den Erfolg solcher Strategien, und ein strahlendes Pionierkind verkündete: „Ich bin 10 Jahre – wie unsere Republik!”

Die Untersuchung der Rolle von Kindheit und Kindern in nationalen und imperialen Diskursen weist auf das spannungsvolle Verhältnis dieser beiden Herrschafts- und Gemeinschaftsformen hin. Einerseits werden Unterschiede deutlich: Während Imperien beispielsweise mit einer klaren Verteilung metaphorischer Eltern- versus Kinderrollen operieren,[72] nehmen Nationen oft beide Seiten für sich in Anspruch und betonen so ihre familienähnliche Gemeinschaftlichkeit. Die Tatsache aber, dass diese Unterschiede rhetorisch bleiben, während Nationen in Praxis und Diskursen deutliche Unterschiede zwischen idealen und als überflüssig angesehenen Kindern machen,[73] weist auf die faktische Nähe von nationalen und imperialen/kolonialen Strategien hin. Während beide „das Kind” feiern, operieren sie doch eindeutig mit starken Hierarchien und unterscheiden „unsere” Kinder von „anderen”.


 

Kindheit oder Kindheiten

Wenn in diesem Text stets von „Kindheitsgeschichte” anstelle von „Geschichte der Kindheit” die Rede ist, so geschieht dies in dem Bemühen, der Pluralität des Phänomens zumindest sprachlich Rechnung zu tragen – ganz ähnlich die in den letzten Jahren häufig sehr betonten Formulierungen von „childhoods”, „varieties of childhood” oder auch „histories of childhood”.[74] Meike Sophia Baader strukturierte ihren Band „Kindheiten der Moderne” vollständig nach dieser Erkenntnis und stellt ein Kapitel zur „bürgerlichen Kindheit” neben eines zur „proletarischen”, zur „sozialistischen” und „nationalstaatlichen”, aber auch zur „wohfahrtsstaatlichen”, „reflexiven” und „sozialinvestiven” Kindheit.[75] Hier wird die Erkenntnis von der im 19. und 20. Jahrhundert konstruierten Natürlichkeit und scheinbaren Einheitlichkeit „des Kindes” in Wissenschaftssprache umgesetzt. Neben dem Blick auf empirische Kindheiten und der Distanzierung von essentialistischen Zuschreibungen ist dabei vor allem auch ein Bewusstsein für die Bindung von Kindheitsrealitäten an Klasse, race, Geschlecht und weitere Kategorien entscheidend. Damit distanziert sich die Forschung genau von dem Bild „des Kindes”, seiner Bedürfnisse und Möglichkeiten, wie es seit dem 18. Jahrhundert entwickelt wurde: naturgegeben und damit universal, unhistorisch und kontextfrei. Die Idealisierung „der Kindheit” bestimmt die Realitäten nur für einen relativ geringen Teil der tatsächlichen Kindheiten, sowohl historisch als auch gegenwärtig. Und obwohl in der Forschung nach wie vor eine bedeutende Konzentration auf „westliche”, also europäische und nordamerikanische Länder vorherrscht (und dieser Text dieser traditionellen Linie weitgehend folgt), sind doch deutliche Tendenzen zu einer geografischen Erweiterung der Kindheitsgeschichte erkennbar.

Eine Globalgeschichte der Kindheit(en) hat dabei die Chance, die Dynamik von transnational geltenden Mustern und Institutionen einerseits, gravierende Unterschiede und Sonderwege andererseits in den Blick zu nehmen. Die vielfältigen Debatten haben genügend Fragestellungen entwickelt, um einen globalhistorischen Ansatz nicht im Keim des rein Additiven ersticken zu lassen. Die global erfolgreiche Geschichte des Kindergartens[76] ebenso wie pädagogischer Strömungen kann dazugehören und auch die aus historischer Perspektive bisher gänzlich unerforschte Bedeutung der Kinderrechtskonvention sowie transnationale Einflüsse von Kinderliteratur, -filmen und anderen Medien.[77] Hinzu kommen Untersuchungen, mit denen die etablierte nationale bzw. territoriale Zugehörigkeit von Kindern und Kindheiten problematisiert und hybride Formationen, aber auch die Auswirkungen von Staatenlosigkeit in den Blick genommen werden.[78] Vorliegende Forschungen machen längst deutlich, dass eine Globalgeschichte der Kindheit keineswegs in einer Essentialisierung von „westlichen” und „anderen” Kindheiten resultieren muss, sondern das Zusammenspiel von lokalen, nationalen und globalen Strukturen betrachten wird. Religion, Klasse, Geschlecht, Diskurs und familiärer Status sind nur einige der Unterkategorien, die das Bild zusätzlich komplizieren und die Rede von „der Kindheit” gänzlich ad absurdum führen.[79]

Zu den ersten Forschungsbereichen, in denen die Notwendigkeit des Blicks auf „Kindheiten” augenfällig wurde, gehören die Geschichte von Arbeiter und Bürgertum, dies vor allem im Zusammenhang sozialhistorischen Interesses an Familienstrukturen und Lebenswelten,[80] die Geschichte der USA allgemein und der Sklaverei im Besonderen[81] und natürlich die bereits angesprochenen Untersuchungen zum Nationalsozialismus. Migration, in der Globalgeschichte „für Erwachsene” längst ein zentrales Prisma, wird auch in der Kindheitsgeschichte langsam als bedeutsam erkannt.[82] In Bezug auf die Kategorie Geschlecht[83] haben sich Teile der Kindheitsforschung inzwischen in „girlhood-studies” und „boyhood-studies” verzweigt.[84] Dazu gehört auch eine – für den nicht anglo-amerikanischen Raum eher ungewöhnliche – Perspektive, die Kindheitsgeschichte nicht unbedingt als „Sondergeschichte” betrachtet, sondern als integralen Bestandteil, dessen Erforschung für das Verständnis der „allgemeinen” Geschichte von großer Bedeutung ist. Hier kann es einmal um Formen der Sozialisationsgeschichte gehen, aber auch – und vor allem – um Fragen danach, wie moderne Gesellschaften Kindheit und Erwachsensein gestalten, an welchen sozialen Gruppen sie ihre Infrastrukturen und Symboliken ausrichten und wie und in welchen Bereichen Menschen unterschiedlicher Altersgruppen aktiv teilhaben.


 

Kinder als Akteure

Die Geschichte der Konstruktion von Kindheit ist zu einem großen Teil die Konstruktion kindlicher Passivität. Nicht wenige Autoren haben darauf hingewiesen, wie spannungsreich sich die Kindheitsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert gestaltet. Insbesondere die Dynamik von gesellschaftlichem Interesse an Kindern und deren öffentlicher Präsenz ist bemerkenswert, erscheint sie doch nicht selten umgekehrt proportional: je geringer die Präsenz, desto größer das Interesse im Diskurs. Der Soziologe Jens Qvortrup geht in seiner Argumentation so weit zu behaupten, Kinder seien im Grunde niemals öffentlich sichtbar gewesen: Zwar seien sie in der Vormoderne alltäglich überall gegenwärtig, doch habe man sie damals nicht als Kinder, also als „besondere Menschen” wahrgenommen. Seit dem Beginn der Konstruktion einer Kindheit, wie wir sie kennen, seien Kinder dann zunehmend aus dem öffentlichen Raum verschwunden.[85]

Man muss dieser Argumentation – die insbesondere problematisch ist, weil sie mit der These der Nichtexistenz einer Kindheit im Mittelalter operiert – nicht folgen, und dennoch ist es kaum zu übersehen, wie sehr seit dem 19. Jahrhundert Kindheit zunehmend in einer Form des othering gestaltet und mithilfe von Begrenzungen konstruiert wurde. Kinder sind zu einem beträchtlichen Teil dadurch definiert, was sie nicht tun dürfen oder, wie Alison James pointiert schreibt, wo sie sich nicht aufhalten sollen: „Childhood, we might venture, is that status of personhood which is by definition often in the wrong place.”[86] Ob Wirtshäuser, Fabriken, neuerdings für Erwachsene reservierte Ferienresorts oder die sprichwörtliche Straße, von der Kinder ferngehalten werden sollen – der „wrong places” gibt es viele und möglicherweise immer mehr.[87] Aber auch die „positiven” Definitionen und Zuschreibungen von Kindheit münden oft in Beschränkungen. Insbesondere das so zentrale Konzept der „Unschuld” ist unmittelbar mit der Forderung nach „Schutz” verbunden: Schutz des besonderen, unschuldigen Kindes vor der normalen, für Kinder aber gefährlichen Welt der Erwachsenen. In der soziologischen Forschung ist die fast ausschließliche Konzentration auf den Schutz der Kindheit als „social disability” problematisiert worden.[88]

Im Bewusstsein dieser Problematik wurde die UN-Kinderrechtskonvention erweiternd ausgestaltet zur Alliteration von protection, provision, participation.[89] Obwohl die Kinderrechtskonvention von einigen Autoren nach wie vor fundamental kritisiert wird[90] – die Ausklammerung von Menschen unter 18 Jahren aus der „normalen” Menschenrechtskonvention erscheint in dieser Perspektive als problematisches othering –, kann sie auch als Meilenstein für eine stärkere Teilhabe von Kindern gesehen werden. Besonders deutlich wird dies im britischen Recht, das seit 1989 betont, Entscheidungen beispielsweise vor Sozialgerichten dürften nicht mehr nur ein abstraktes „Kindeswohl” berücksichtigen, sondern das Gericht müsste auch den konkreten Willen des betroffenen Kindes anhören.[91] Verschiedene weitere Begriffe, darunter citizenship und agency, adressieren ein fundamentales Problem der modernen Kindheit und, daraus folgend, des wissenschaftlichen Umgangs mit ihr: Welche Handlungsrahmen haben Kinder in der Gesellschaft?

Tschechisches Kinderbuch von 1951: „Brigade im Kindergarten“. Olga Štruncová, Brigáda v mateřské škole, Ilustroval Ondřej Sekora, SNDK 1951
Tschechisches Kinderbuch von 1951: „Brigade im Kindergarten“. Olga Štruncová, Brigáda v mateřské škole, Ilustroval Ondřej Sekora, SNDK 1951


 

Um sich dieser Frage zu nähern, sind unterschiedliche und unterschiedlich radikale Ansätze entwickelt worden. Einige davon sind zu zentralen Begriffen der Kindheitsforschung geworden, andere bilden seit Jahrzehnten den Kern wissenschaftlicher Kontroversen. Vor allem im deutschsprachigen Raum hat sich das aus der Erziehungswissenschaft stammende Konzept des „pädagogischen Moratoriums” als fruchtbar erwiesen. Jürgen Zinnecker beschrieb Kindheit und Jugend als zeitlich und inhaltlich fest definierte, gesellschaftlich akzeptierte Schonzeiten.[92] Kinder – in etwas anderer Weise als Jugendliche – sind, temporär begrenzt, von bestimmten gesellschaftlichen Pflichten befreit, insbesondere von der Reproduktions- und Erwerbstätigkeit. Die Verbote von Kinderehe und Kinderarbeit sind hier konstitutiv, hinzu kommt eine „Pädagogisierung” der gesellschaftlichen Normendurchsetzung, wie es insbesondere in einem als erzieherisch konzipierten Jugendstrafrecht zum Ausdruck kommt. Der Zweck dieser gesellschaftlichen Freistellung richtet sich auf die Schaffung von Freiraum für Schule und Spiel: für die Ausbildung zum Erwachsenen. Kindheit und Jugend werden so zu einer Zeit der Vorbereitung auf das Erwachsenendasein konzipiert. Das Moratorium kann als Grundlage modernen Kindheitsverständnisses begriffen werden, wobei Nuancen durchaus unterschiedlich ausfallen. So galt der Begriff der „Arbeit” in Verbindung mit Kindheit in sozialistischen Gesellschaften keinesfalls als Tabu oder Oxymoron.[93] Dabei wurden Kinder nicht nur zu Brigadetätigkeiten herangezogen, um sich in als gesellschaftlich nützlich verstandene Prozesse einzubringen. Auch Schule und Spiel wurden oft explizit als Arbeit bezeichnet – eine Sprachpraxis, die sich im Übrigen auch heute, im Sinne einer höheren Wertschätzung von Kindern und ihren Tätigkeiten, in der Pädagogik zunehmend durchsetzt.

In Zinneckers Konzept wird nur stellenweise angedeutet, was vor allem Sozial- und Literaturwissenschaftler/innen stärker betonen und was auch in der historischen Forschung zu einer zentralen Frage geworden ist: das Moratorium als Problem, als Ausgrenzung und Entmündigung von Kindern, als Verhinderung gesellschaftlicher Teilhabe. Am radikalsten geschieht dies in einer unmittelbaren Umsetzung eines Bhabha´schen postkolonialen Ansatzes[94] auf das Konzept der Kindheit. Gaile Sloan Cannella und Radhika Viruru beispielsweise betrachten „Kinder” – die sie konsequent als „younger human beings” bezeichnen – radikal konstruktivistisch und kritisieren die gesamte moderne Kindheit, inklusive rechtlicher, medizinischer, pädagogischer und anderer Expertenkulturen als repressiven Machtapparat.[95]

Eine frühere, radikale und viel diskutierte Kritik an strukturellen Machtasymmetrien zwischen Erwachsenen und Kindern kam in den 1980er-Jahren aus der Literaturwissenschaft. Jacqueline Rose argumentierte in ihrem Buch „The Case of Peter Pan, or The Impossibility of Children's Fiction”[96], sogenannte Kinderliteratur sei keineswegs „für Kinder” geschrieben, sondern spiegele vielmehr die Wünsche und Sehnsüchte Erwachsener. Die fundamentale Machtasymmetrie zwischen Autor und Leser, die Kinderliteratur wie kein anderes Genre ausmache, sei entscheidend. Sie mache Kinderbücher zu einem Instrument, das Kinder „verführe” und „kolonisiere”, und bringe die jungen Leser dazu, sich den Wünschen der Erwachsenen anzupassen. Peter Pan, ein Buch, das wie viele andere eine Entwicklung von einem Buch für Erwachsene hin zu einem „Kinderbuchklassiker” machte, sei nur ein Beispiel für die vor allem sexuellen Sehnsüchte in der Literatur. Roses Buch hat die Betrachtung der Kinderliteratur entscheidend in eine kritische Perspektive gedrängt und den Facettenreichtum sowie die Machtgebundenheit des Unschuldsgedankens im modernen Kindheitsbild zu einem zentralen Element der Forschung gemacht. Sie hat, wenn man so will, der Kindheitsforschung ihre Unschuld genommen, und auch andere, weniger freudianisch orientierte Analysen konzentrieren sich inzwischen auf die „ideologische Lesart” von Kinderliteratur.[97]

Möglicherweise am besten zusammenfassend auf den Punkt gebracht werden die Diskussionen über die Machtasymmetrie zwischen Erwachsenen und Kindern in der Prägung des Begriffs childism durch John Wall.[98] Wall verlangt nichts Geringeres als eine „Revolution” in den Geisteswissenschaften durch die Neubetrachtung der gesellschaftlichen Rolle von Kindern. Childism solle alle Geisteswissenschaftler/innen dazu bringen, die Bedeutung von und die Ungleichbehandlung aufgrund von Konstruktionen von Alter, Reife oder eben „Erwachsensein” in ihre Analysen einzubeziehen. Kindheitsforschung solle auf diese Weise von einer marginalen Nebendisziplin zu einer unverzichtbaren Perspektive aller Geistes- und Sozialwissenschaften werden. Mit dieser Forderung gießt Wall verschiedene Entwicklungen der Kindheitsgeschichte in eine griffige Form. Die historische Erforschung von Kindern und Kindheit kämpft durchaus noch mit zahlreichen konzeptionellen und methodologischen Schwierigkeiten. Dennoch ist eine grundlegende Richtung zu beobachten, in die auch Walls Plädoyer weist: Kindheitsgeschichte verliert langsam ihren Charakter als Problemgeschichte und geht über die moralische Frage „Wie es denn den Kindern in der Vergangenheit ging?” hinaus.

Lewis W. Hine: Child Laborer, 3. Dezember 1908. Original-Bildunterschrift: „A little spinner in the Mollohan Mills, Newberry, S.C. She was tending her 'sides' like a veteran, but after I took the photo, the overseer came up and said in an apologetic tone that was pathetic, 'She just happened in.' Then a moment later he repeated the information. The mills appear to be full of youngsters that 'just happened in,' or 'are helping sister.' Dec. 3, 08. Witness Sara R. Hine. Location: Newberry, South Carolina.” Quelle: [https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Child_laborer.jpg#/media/File:Child_laborer.jpg Wikimedia Commons] / [http://loc.gov/pictures/resource/nclc.01451/ United States Library of Congress's Prints and Photographs Division ID nclc.01451], gemeinfrei
Lewis W. Hine: Child Laborer, 3. Dezember 1908. Original-Bildunterschrift: „A little spinner in the Mollohan Mills, Newberry, S.C. She was tending her 'sides' like a veteran, but after I took the photo, the overseer came up and said in an apologetic tone that was pathetic, 'She just happened in.' Then a moment later he repeated the information. The mills appear to be full of youngsters that 'just happened in,' or 'are helping sister.' Dec. 3, 08. Witness Sara R. Hine. Location: Newberry, South Carolina.” Quelle: Wikimedia Commons / United States Library of Congress's Prints and Photographs Division ID nclc.01451, gemeinfrei


 

Ein hervorragendes Beispiel dafür bildet die bereits angesprochene Geschichte der Kinderarbeit. Traditionell handelte es sich hier im Grunde um eine historiografische Ausgestaltung der Bilder Lewis Hines, die im frühen 20. Jahrhundert im Auftrag einer Kinderschutzorganisation entstanden sind: Kinderarbeit wurde begriffen und angegriffen als ein moralisch abzulehnender Auswuchs der Industrialisierung, als eine Zerstörung von Kindern und Kindheiten. Zahlreiche Forschungen der letzten Jahre haben einen anderen, deutlich komplexeren und womöglich unbequemen Ansatz ausgelotet. Hier wird Kinderarbeit als der historische Normalfall betrachtet,[99] der erst durch die Entstehung moderner Kindheitsbilder und Moratoriumskonzepte (zumindest für große Teile der westlichen Welt) an Legitimität verlor.[100] Dies führt auch dazu, historische Kontinuitäten und Brüche, für welche die Industriearbeit von Kindern ein Zeichen ist, neu zu beleuchten.[101] Die Arbeit in der Landwirtschaft und im Dienstleistungsbereich wird ebenfalls in die Untersuchungen miteinbezogen und in ihrer Größenordnung und den Bedingungen ergebnisoffen mit der Industriearbeit verglichen. All dies ermöglicht ein differenziertes Bild der Kinderarbeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in dem dramatisch gesundheitsschädliche und grausame Bedingungen zwar keineswegs ausgeklammert werden, sie aber die Wahrnehmung nicht reflexartig dominieren müssen[102] – in den Worten Ellen Schrumpfs: „Working children were sometimes, but not always, victims.”[103] Auf diese Weise verliert der Begriff der Kinderarbeit seinen alarmierenden Signalcharakter, wird historisch eingeordnet und erscheint nicht mehr ausschließlich als Ausbeutung und Unterdrückung, sondern auch als gesellschaftliche Institution, die Kindern Gestaltungsmöglichkeiten und Selbständigkeit geben kann.[104] Schließlich wird die Erforschung von Kinderarbeit auch zunehmend als ein wirtschaftshistorisches Feld entdeckt, das unabdingbar ist für ein besseres Verständnis der Industrialisierungsgeschichte als Gesamtheit.[105] Kinder werden auf diese Weise zu Akteuren: in ihrem historischen sozialen Umfeld ebenso wie in der Geschichtswissenschaft. Agency erscheint somit als das Zauberwort, das moderne Kindheitskonstruktionen am konsequentesten in Frage stellt.

Die Geschichte einer sozialen Gruppe zu schreiben, der in Vergangenheit wie Gegenwart nur sehr beschränkt ein Akteursstatus zugebilligt wurde, birgt seine Tücken, wie Barbara Beatty formuliert: „Though adults often complain about their noisiness, young children are the most silent and silenced of historical actors.”[106] Da ist einmal das Quellenproblem: Klassische historische Quellen wurden eher selten von Kindern selbst verfasst.[107] Ganz ähnlich wie bei anderen historischen Akteuren, die erst von der Sozial- und Kulturgeschichte entdeckt werden mussten (Frauen, Bauern, Arbeiter) ist auch hier wieder ein frischer und kreativer Blick auf die Quellenlage gefragt. So könnten beispielsweise Kinderzeichnungen oder von Kindern angefertigte Fotografien, bisher vorrangig im Erinnerungsdiskurs genutzt,[108] mit größerem historiografischen Ehrgeiz analysiert werden. Kinderspiele und -spielzeug bieten weiteres Quellenpotenzial. Dass die diesem Vorrat zu entnehmenden Fragen und Antworten keineswegs eindeutig sind, zeigen bisherige Forschungen, die beispielsweise Spielzeug einerseits als Manipulation von Kindern durch den Markt und (erwachsene) Hersteller und Käufer analysieren, andererseits aber auch darauf hinweisen, dass Kinder als Konsumenten eine eigene Welt schaffen – eine Welt, die mit Schleimi und Pokémon vielen Erwachsenen unverständlich und unzugänglich bleibt.[109]

Doch das Problem beschränkt sich nicht nur auf die Quellen. James Schmidt hat darauf hingewiesen, dass Kinder – anders als beispielsweise Frauen, Afroamerikaner/innen oder Menschen mit Behinderungen – sich ihren Akteursstatus nicht selbst erkämpft hätten. Eine Geschichte der Kinderbewegung sei somit kaum denkbar.[110] Dies ist allerdings ein Resultat der gesellschaftlichen Ausgrenzung von Kindern aus gesellschaftlichen Prozessen, wie sie erst im 20. Jahrhundert vollendet wurde. Solange Kinder im 19. Jahrhundert einen Teil von Arbeitsprozessen bildeten, waren sie auch selbstverständlich bei Protesten, Streiks und Demonstrationen zu sehen– im Kampf um Arbeiter- oder nationale Rechte.[111] Die Forderungen nach „Kinderrechten” oder „Kindeswohl” dagegen setzen meist ein Kindheitsbild der Passivität voraus und machen so paradoxerweise einen Akteursstatus der Kinder selbst zumindest problematisch.

Childhood Studies und mit ihnen die Kindheitsgeschichte problematisieren diese kulturellen Konstruktionen auf verschiedene Weise. Die Analyse und damit Dekonstruktion der historischen Ausgrenzungsprozesse bilden dabei nur einen Aspekt. Wichtiger, weil radikaler, sind fundamentale Infragestellungen der Begriffe, mithilfe derer diese Ausgrenzungsprozesse ermöglicht wurden. So greifen Autoren wie Tom Cockburn und Kate Bacon die citizenship-Kritik Michael Listers auf und argumentieren, eine absolute Grenze zwischen politischer Teilhabe und Ausgrenzung (bzw. zwischen agency und Passivität) sei politisch wie theoretisch hochproblematisch.[112] Das in der westlichen Moderne entwickelte Konzept von citizenship sei erwachsenenzentriert und grenze andere, möglicherweise schwächere Teilhabeformen allzu kategorisch aus. Die Suche nach einem an den civil-rights-Bewegungen der 1960er-Jahre orientierten Wandel sei wenig aussichtsreich. Ein Teilhabebegriff aber, der die Scheuklappen des traditionellen Kindheitskonzepts ablege und den modernen Begriff des citizenship öffne, verspreche nicht nur für die Kindheitsgeschichte neue Erfolge. Er würde fundamental neue Perspektiven für Geschichte und Gegenwart eröffnen.


 

Schluss

Obwohl die Kindheitsgeschichte keineswegs als neues Feld bezeichnet werden kann und die Forschung weit verzweigt und empirisch ungemein reich ist, erscheint es doch bemerkenswert, wie viele Fragen bisher noch offen oder nur angedeutet geblieben sind. Zwei Grundtendenzen sind zu beobachten: einmal die Notwendigkeit, aktuellen Problemen und sozialwissenschaftlichen Debatten die notwendige historische Tiefenschärfe zu verleihen. Doch, und daraus ergibt sich die zweite Tendenz, muss die Geschichte sich hier keineswegs als bloße Hilfswissenschaft verstehen. Vielmehr haben zahlreiche Einzelstudien bereits gezeigt, wie ertragreich die Betrachtung der Kindheitsperspektive für „allgemeine” historische Fragen sein kann. Zu den in diesem Beitrag erwähnten Beispielen gehören die Kinderarbeit als elementarer Bestandteil der Sozial- und Kulturgeschichte des langen 19. Jahrhunderts sowie die Bedeutung von Kindern in Analysen zu Kriegssituationen. Auf diese Weise entwickelt sich die Kindheitsgeschichte – die zuweilen als didaktisch wertvolles, aber wissenschaftlich nicht wirklich ernstzunehmendes Feld erschien – von einem Rand- und Sonderthema zu einem wichtigen historischen Forschungsfeld mit unzähligen Anschluss- und Entwicklungsmöglichkeiten. Deutlich wird dies beispielsweise in dem Wandel von der klassischen Geschichte der Pädagogik als einführendes Kompendium für Lehramtsstudenten hin zur Geschichte der Erziehung und des Aufwachsens, in der die verschiedensten Perspektiven betrachtet werden: nicht mehr nur eine Abfolge pädagogischer Konzepte, sondern die Bedeutung von (wohlfahrts-)staatlichen Entwicklungen, sozialen Abstufungen, kulturellen Spezifika, Gender, biopolitischen und sozialpolitischen Strategien, Expertenkulturen, Institutionengeschichte, rechtliche Implikationen sowie viele andere Anknüpfungspunkte historischer Forschung.

Aus den aktuellen Forschungsdebatten zeichnen sich Desiderate vor allem im Rahmen der Globalgeschichte ab, die keineswegs als vollständiger Abriss einer Weltgeschichte verstanden werden sollte, sondern als ein Ansatz, der nach transnationalen Beziehungen, Transferbedingungen, kulturellen Unterschieden und ökonomischen Zusammenhängen fragt. Insbesondere außereuropäische Regionen werden im Feld der historischen Kindheitsforschung noch viel zu wenig wahrgenommen, während es beispielsweise zu sozialistischen Ländern hartnäckige Klischees gibt. Die im Detail noch fortschreitenden, grundsätzlich aber doch sehr weit gediehenen Analysen der Konstruktionsprozesse, die zum Konzept der „Modernen Kindheit” geführt haben, bieten hervorragende Grundlagen, um die Reichweite, Macht und den Umgang mit diesem Konzept gründlicher zu untersuchen. Dafür sind sowohl geografische und thematische Einzelstudien notwendig, aber auch Möglichkeiten des Austausches und der Diskussion.

Solche Analysen, die irgendwann auch nicht mehr alle mit einer Kurzdarstellung der Studie von Philippe Ariès beginnen müssen, können auf ein relativ klares Profil dessen, was Kindheitsgeschichte inzwischen ist, zurückgreifen und auf dieser Basis Fragen beantworten, die man oft als „allgemeinhistorisch” bezeichnet. Denn Kinder sind allgemein genug, um als Teil der Geschichte betrachtet zu werden.


 

Empfohlene Literatur zum Thema

Dekker, Jeroen J. H., Discoveries of Childhood in History: An Introduction, in: Paedagogica Historica: International Journal of the History of Education 48, 1, 2012, S. 1-9
Fass, Paula S., Encyclopedia of Children and Childhood in History and Society, volume 1-3, New York [u.a.] 2004: Macmillan Reference USA
Higonnet, Anne, Pictures of Innocence: The History and Crisis of Ideal Childhood, London 1998: Thames & Hudson
James, Allison / Jenks, Chris / Prout, Alan, Theorizing Childhood, New York 1998: Teachers College, Columbia Univ.
Wall, John, Childism. The Challenge of Childhood to Ethics and the Humanities, Anna Mae Duane (Hrsg.), The Children's Table: Childhood Studies and the Humanities, Athens, Ohio 2013
Zahra, Tara, The Lost Children: Reconstructing Europe's Families after World War II, Cambridge, Mass. [u.a.] 2011: Harvard Univ. Press
Zelizer, Viviana A. Rotman, Pricing the Priceless Child: The Changing Social Value of Children, New York 1985: Basic Books
Zitation

Martina Winkler, Kindheitsgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 17.10.2016, URL: http://docupedia.de/zg/Winkler_kindheitsgeschichte_v1_de_2016

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Anmerkungen

    1. Zu diesen Debatten siehe u.a. Manfred Liebel, Children's Rights from Below: Cross-Cultural Perspectives, Basingstoke 2012; Heinz Sünker, The Politics of Childhood, Children´s Rights and the UN Convention, in: Lynne Chisholm (Hrsg.), Growing Up in Europe: Contemporary Horizons in Childhood and Youth Studies, Berlin/New York 1995.
    2. Sharon Stephens, Editorial Introduction: Children and Nationalism, in: Childhood 4 (1997), H. 1, S. 5-17, S. 8. Ganz ähnlich z.B. Harry Hendrick, The Evolution of Childhood in Western Europe c.1400-c.1750, in: Jens Qvortrup (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Childhood Studies, Basingstoke 2009, S. 99-113, hier S. 99. 
    3. http://www.kinderrechtskonvention.info/.
    4. Jacqueline Lowden, Children's Rights: A Decade of Dispute, in: Journal of Advanced Nursing 37 (2002), H. 1, S. 100-107.
    5. Dieser Begriff wurde bereits 1923 geprägt (Siegfried Bernfeld, Über eine typische Form der männlichen Pubertät, in: Imago 9, S. 169-188) und erfährt seitdem immer wieder bemerkenswerte Konjunkturen. 
    6. Vgl. Sara B. Johnson/Robert W. Blum, Adolescent Maturity and the Brain: The Promise and Pitfalls of Neuroscience Research in Adolescent Health Policy, in: Journal of Adolescent Health 45 (2009), H. 3, S. 216-221. Für die populäre Reflektion z.B. Jana Hauschild, Erwachsenwerden: 25 ist das neue 18, in. Spiegel online 27.9.2013, http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/erwachsen-erst-mit-25-statt-mit-18-laut-psychologen-a-924644.html.
    7. Nicholas Orme, Medieval Children, New Haven 2001, S. 67-70.
    8. Tara Zahra, The Lost Children: Reconstructing Europe's Families after World War II, Cambridge 2011.
    9. Harro Albrecht/Sebastian Kempkens, Junge Flüchtlinge. Das muss untersucht werden, in: Die Zeit, 27.8.2015, H. 35, online unter http://www.zeit.de/2015/35/junge-fluechtlinge-alterspruefung-genitaluntersuchung-entwuerdigend-streitgespraech; Kareem Shaheen, Syrians under Siege: ‚We Have no Children any more, only small Adults’, in: The Guardian, 9.3.2016, online unter https://www.theguardian.com/world/2016/mar/09/syrians-under-siege-save-the-children-report.
    10. Philippe Ariès, L'enfant et la vie familiale sous l'Ancien Régime, Paris 1960. Die deutsche Übersetzung erschien 2014 in 18. (!) Auflage: Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München 2014.
    11. Hugh Cunningham, Histories of Childhood, in: American Historical Review 103 (1998), H. 4, S. 1195-1208, hier S. 1197.
    12. Einen kurzen Überblick gibt Nicholas Orme, Childhood in Medieval England, c.500-1500, http://www.representingchildhood.pitt.edu/medieval_child.htm.
    13. „Die mittelalterliche Gesellschaft, die wir zum Ausgangspunkt gewählt haben, hatte kein Verhältnis zur Kindheit; das bedeutet nicht, daß die Kinder vernachlässigt, verlassen oder verachtet wurden. Das Verständnis für die Kindheit ist nicht zu verwechseln mit der Zuneigung zum Kind; es entspricht vielmehr einer bewußten Wahrnehmung der kindlichen Besonderheit, jener Besonderheit, die das Kind vom Erwachsenen, selbst dem jungen Erwachsenen, kategorial unterscheidet.“ Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 209.
    14. Edward Shorter, The Making of the Modern Family, New York 1976, S. 168. Große populäre Wirkung erlangten die psychohistorischen Schriften von Lloyd deMause (Hrsg.), The History of Childhood, New York 1974, ins Deutsche bezeichnenderweise übersetzt als: Hört ihr die Kinder weinen: Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt a.M. 1980. Als weiterer Vertreter der „dark legend“ gilt Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage in England 1500-1800, London 1977. 
    15. Besonders umstritten: Linda A. Pollock, Forgotten Children: Parent-Child Relations from 1500 to 1900, Cambridge 1983.
    16. Anne Higonnet, Pictures of Innocence: the History and Crisis of Ideal Childhood, London 1998; Meike Sophia Baader, Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit: Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied 1996.
    17. Marilyn R. Brown (Hrsg.), Picturing Children: Constructions of Childhood between Rousseau and Freud, Aldershot 2002; Henry Jenkins, Introduction: Childhood Innocence and other Modern Myths, in: ders. (Hrsg.), The Children's Culture Reader, New York 1998, S. 1-40.
    18. Gunilla Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben: Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840-1914, Göttingen 1994, online unter http://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00049951_00001.html. Für den Zusammenhang von Bürgertum und Kindheitsideal in Japan siehe Mark A Jones, Children as Treasures: Childhood and the Middle Class in early Twentieth Century Japan, Cambridge 2010.
    19. Für das Beispiel Russlands siehe Katharina Kucher, Adlige Familie und Kindheit in Russlands langem 19. Jahrhundert: Privates Leben und öffentliche Interessen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 53 (2015), H. 2, S. 233-255.
    20. Ellen Key, Barnets Aarhundrede. Studier, København 1900. Deutsche Erstausgabe: Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes. Studien, Berlin 1902.
    21. Vgl. z.B. Vorrede und Vorwort in der deutschen Neuauflage von 2010 bei RaBaKa-Publishing, Neuenkirchen.
    22. Shulamith Shahar, Childhood in the Middle Ages, London 1990, S. 35. Katherine A. Lynch, Infant Mortality, Child Neglect, and Child Abandonment in European History: A Comparative Analysis, in: Tommy Bengtsson/Osamu Saito (Hrsg.), Population and Economy: From Hunger to Modern Economic Growth, New York/Oxford 2000, S. 133-164.
    23. Ariès, Geschichte der Kindheit, S. 98-99. Sehr kritisch dazu: Sophie Oosterwijk: The Medieval Child: An Unknown Phenomenon?, in: Stephen J. Harris (Hrsg.), Misconceptions about the Middle Ages, 1999-2001, New York 2008; Orme, Medieval Children, S. 64.
    24. Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben, S. 53-54.
    25. Viviana A. Rotman Zelizer, Pricing the Priceless Child. The Changing Social Value of Children, New York 1985.
    26. Roger Cooter (Hrsg.), In the Name of the Child, Health and Welfare, 1880-1940, New York 1992.
    27. Nikolas S. Rose, Governing the Soul. The Shaping of the Private Self, London 1999, S. 123. 
    28. Jeroen J.H. Dekker, The Will to Change the Child: Re-education Homes for Children at Risk in Nineteenth Century Western Europe, Frankfurt a.M. 2001.
    29. Peter Kirby, Child Workers and Industrial Health in Britain, 1780-1850, Woodbridge 2013; Nigel Goose/Katrina Honeyman (Hrsg.), Childhood and Child Labour in Industrial England: Diversity and Agency, 1750-1914, Farnham 2013; Ludmilla Jordanova, Conceptualising Childhood in the Eighteenth Century: The Problem of Child Labour, in: British Journal for Eighteenth-Century Studies 10 (1987), S. 189-199.
    30. Charles Dickens, zitiert nach: Malcolm Andrews, Dickens and the Grown-up Child, London 1994, S. 80.
    31. Zitiert nach: Anna Davin, When is a Child not a Child?, in: Helen Corr (Hrsg.), Politics Of Everyday Life. Continuity and Change in Work and the Family, London 1990, S. 37-61, hier S. 40.
    32. John Gillis, Transitions to Modernity, in: Jens Qvortrup/William A. Corsaro/Michael-Sebastian Honig (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Childhood Studies, Basingstoke 2009, S. 114-127, hier S. 118.
    33. Friedrich Fröbel an Luise Levin in Rendsburg v. 11.11./14.11.1848 (Dresden), Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, online unter http://bbf.dipf.de/editionen/froebel/fb1848-11-11-01.html (1.4.2016).
    34. Wie eng diese drei Aspekte miteinander verwoben waren, zeigt sich exemplarisch in den seit dem 18. Jahrhundert bestehenden Diskussionen um Masturbation im Kindesalter: vgl. z.B. Rebekka Horlacher, Onanism as Endangering Salvation? Theory and Practice in an Educational Institute around 1800, in: Christine Mayer u.a. (Hrsg.), Children and Youth at Risk: Historical and International Perspectives, Frankfurt a.M. 2009, S. 25-33.
    35. Mayer (Hrsg.), Children and Youth at Risk; Jeroen J.H. Dekker, Children at Risk in History: A Story of Expansion, in: Paedagogica Historica 45 (2009), H. 1-2, S. 17-36.
    36. Hermann Giesecke, Hitlers Pädagogen: Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung, Weinheim 1999; Benjamin Ortmeyer, Mythos und Pathos statt Logos und Ethos: zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim 2009; Carsten Heinze: The Discursive Construction and (Ab)uses of a „German Childhood“ in Primers during the Time of National Socialism 1933-1945, in: Paedagogica Historica 48 (2012), H. 1, S. 169-183.
    37. Guido Knopp, Hitlers Kinder, München 2000.
    38. So z.B. Ernst Berger (Hrsg.), Verfolgte Kindheit: Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Sozialverwaltung, Wien 2007; Herwig Czech, Der Spiegelgrund-Komplex. Kinderheilkunde, Heilpädagogik, Psychiatrie und Jugendfürsorge im Nationalsozialismus, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 25 (2014), Nr. 1-2, S. 194-219; Ruth Röcher, Die jüdische Schule im nationalsozialistischen Deutschland, 1933-1942, Frankfurt a.M. 1992; Klaus-Peter Horn/Jörg-W. Link (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus: Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011.
    39. Radka Šustrová, Schutz und Erziehung im volkspolitischen Kontext: Die Lager der Kinderlandverschickung im Protektorat Böhmen und Mähren, in: Karl Braun/Christiane Brenner/Tomáš Kasper (Hrsg.), Jugend in der Tschechoslowakei. Konzepte und Lebenswelten (1918-1989), Göttingen 2015, S. 209-234.
    40. Heidi Rosenbaum, „Und trotzdem war’s ’ne schöne Zeit“: Kinderalltag im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2014; Bastian Fleermann, Kriegskinder. Kriegskindheiten in Düsseldorf 1939-1945, Düsseldorf 2015.
    41. Tanja Hetzer, Kinderblick auf die Shoah: Formen der Erinnerung bei Ilse Aichinger, Hubert Fichte und Danilo Kiš, Würzburg 1999.
    42. Olga Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War: Welfare and Social Control under Stalin, London 2016.
    43. Cathy A. Frierson, Silence was Salvation: Child Survivors of Stalin’s Terror and World War II in the Soviet Union, New Haven 2015; dies., Children of the Gulag, New Haven 2010; Deborah Hoffman, The Littlest Enemies: Children in the Shadow of the Gulag, Bloomington 2009.
    44. Olga Kucherenko, Little Soldiers: How Soviet Children Went to War, 1941-1945, Oxford 2011; Julie K. deGraffenried, Sacrificing Childhood: Children and the Soviet State in the Great Patriotic War, Lawrence 2014.
    45. Dazu u.a. Catriona Kelly, Riding the Magic Carpet: Children and Leader Cult in the Stalin Era, in: The Slavic and East European Journal 49 (2005), H. 2, S. 199-224.
    46. Maria Tumarkin, Productive Death: The Necropedagogy of a Young Soviet Hero, in: South Atlantic Quarterly 110 (2011), H. 4, S. 885-900; Oxane Leingang, Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Generationsentwürfe im Kontext nationaler Erinnerungskultur, Heidelberg 2014.
    47. Till Kössler, Kinder der Demokratie: Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890-1936. München 2013; Nicholas Stargardt, Witnesses of War: Children’s Lives under the Nazis, New York 2006. Hinzu kommt ein großes populärwissenschaftliches Interesse an den „Kriegskindern“, das sich aus dem in der Moderne so grundsätzlich empfundenen absoluten Kontrast von „Krieg“ und „Kindheit“ ergibt. Hier stehen oft weniger historiografische als vielmehr psychologische Fragen im Zentrum. Vgl. z.B. Liselotte Bieback-Diel (Hrsg.), Geraubte Kindheit: Kriegskinder aus vier Nationen erzählen. Frankfurt a.M. 2014; Sabine Bode, Die deutsche Krankheit – German Angst. Stuttgart 2006.
    48. Catriona Kelly, Children's World: Growing Up in Russia, 1890-1991, New Haven 2007; Lisa A. Kirschenbaum, Small Comrades: Revolutionizing Childhood in Soviet Russia, 1917-1932, New York 2001; Dieter Kirchhöfer (Hrsg.), Kindheit in der DDR: Die gegenwärtige Vergangenheit, Frankfurt a.M. 2003; Monika Müller-Rieger (Hrsg.), Wenn Mutti früh zur Arbeit geht ... Zur Geschichte des Kindergartens in der DDR, Dresden 1997. In Bezug auf die DDR hat die Aufarbeitung der Heimerziehung nachvollziehbarerweise eine beachtliche Menge an Studien und Quellensammlungen hervorgebracht, u.a.: Jörn Mothes (Hrsg.), Beschädigte Seelen: DDR-Jugend und Staatssicherheit, mit 136 Dokumenten und einer Audio-CD mit Original-Tonunterlagen, Bremen 1996.
    49. Jiří Knapík (Hrsg.), Děti, mládež a socialismus v Československu v 50. a 60. Letech [Kinder, Jugend und Sozialismus in der Tschechoslowakei in den 50er und 60er Jahren], Opava 2014; Ivan Elenkov (Hrsg.), Detstvoto pri socializma: političeski, institucionalni i biografični perspektivi [Kindheit im Sozialismus: politische,institutionelle und biografische Perspektiven], Sofia 2010; Ildiko Erdei, „The Happy Child” as an Icon of Socialist Transformation: Yugoslavia's Pioneer Organization, in: John R. Lampe, Ideologies and National Identities: The Case of Twentieth-Century Southeastern Europe, Budapest 2004, S. 154-179; Éva Bicskei, Our greatest Treasure, the Child: The Politics of Childcare in Hungary, 1945-1956, in: Social Politics 13 (2006), H. 2, S. 151-188.
    50. Eva-Maria Langner, Die Sowjetunion als „Land der frohen Zuversicht“: Geschichtskonstruktion in Kinder- und Jugendliteratur der SBZ/DDR 1945 bis 1957, Hamburg 2015; Anne-Katrin Nelke, Kind im Buch: Kindheitsdarstellungen in Kinderromanen der DDR, Marburg 2010.
    51. Alan M. Ball, State Children: Soviet Russia's Besprizornye and the New Socialist Generation, in: Russian Review 52 (1993), H. 2, S. 228-247; ders., And now my Soul is Hardened: Abandoned Children in Soviet Russia, 1918-1930, Berkeley 1994; neu: Mirjam Galley, „Wir schlagen wie eine Faust”: Straßenkinder, Gangs und Staatsgewalt in Stalins Sowjetunion, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 1, S. 26-53. Interessant ist im Übrigen, dass der Begriff „bezprizorniki“ ins Englische nicht wortgetreu nur als „Kinder ohne Aufsicht“ übersetzt wird, sondern vorzugweise als „Kinder ohne Schutz“.
    52. Helmut Altrichter, „Living the Revolution“ – Stadt und Stadtplanung in Stalins Rußland, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 57-67.
    53. Urie Bronfenbrenner, Two Worlds of Childhood: U.S. and U.S.S.R., London 1971; Gunda Mairbäurl (Hrsg.), Kindheit zwischen West und Ost: Kinderliteratur zwischen Kaltem Krieg und neuem Europa, Bern 2010. Eine Problematisierung des Gegensatzes in: Martina Winkler, Kolektivní versus rodinná výchova v socialistickém Československu? Rozbor českých filmů a knih pro děti [Kollektive versus familiäre Erziehung in der sozialistischen Tschechoslowakei? Eine Analyse von Kinderfilmen und –büchern], in: Acta historica Universitatis Silesianae Opaviensis 8 (2015), S. 175-192.
    54. Vgl. zu dieser Perspektive: Peter Wagner, A Sociology of Modernity: Liberty and Discipline, London 1994, online unter https://is.muni.cz/el/1423/jaro2012/SOC403/um/Wagner_A_Sociology_of_Modernity__Liberty_and_Discipline.pdf; Frank Henschel, „All Children Are Ours” – Children’s Homes in Socialist Czechoslovakia as Laboratories of Social Engineering and New Perspectives on a History of Childhood in Postwar Europe, in: Bohemia 56 (2016), 1 (i.E.).
    55. Monika Mattes, Das Projekt Ganztagsschule. Aufbrüche, Reformen und Krisen in der Bundesrepublik Deutschland (1955-1982), Köln 2015.
    56. Kirsten Drotner, Mediatized Childhoods: Discourses, Dilemmas and Directions, in: Jens Qvortrup (Hrsg.), Studies in Modern Childhood. Society, Agency, Culture, Houndmills 2005, S. 39-58.
    57. Steven Bruhm/Natasha Hurley (Hrsg.), Curiouser: On the Queerness of Children, Minneapolis 2004; sehr umstritten ist James R. Kincaid, Erotic Innocence: The Culture of Child Molesting, Durham 1998.
    58. Siehe das Kapitel „Kindheit und Kindheiten“.
    59. Doris Bühler-Niederberger (Hrsg.), Macht der Unschuld: Das Kind als Chiffre, Berlin 2015; zur Problematik von Kindern als Akteuren (und Verfassern historischer Quellen): Simon Sleight/Shirleene Robinson, Introduction: The World in Miniature, in: dies. (Hrsg.), Children, Childhood and Youth in the British World, Basingstoke 2016, S. 1-26.
    60. Malte Thießen, Gesundheit erhalten, Gesellschaft gestalten. Konzepte und Praktiken der Vorsorge im 20. Jahrhundert: Eine Einführung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 10 (2013), H. 3, http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2013/id=4730, Druckausgabe: S. 354-365. 
    61. Für die USA siehe dazu: John E.B. Myers, A Short History of Child Protection in America, in: Family Law Quarterly 42 (2008), H. 3, S. 449-465, online unter https://www.americanbar.org/content/dam/aba/publishing/insights_law_society/ChildProtectionHistory.authcheckdam.pdf , sowie Janet Dolgin, Transforming Childhood: Apprenticeship in American Law, in: New England Law Review 31 (1997), S. 1113-1191, online unter http://scholarlycommons.law.hofstra.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1076&context=faculty_scholarship
    62. Jutta Kruse, Saving Irish National Infants or Protecting the Infant Nation? Irish Anti-Vaccination Discourse, 1900-1930, in: History Studies 13 (2012), S. 91-113.
    63. Gillis, Transitions to Modernity, S. 118.
    64. Shurlee Swain, A Motherly Concern for Children: Invocations of Queen Victoria in Imperial Child Rescue Literature, in: Robinson (Hrsg.), Children, Childhood and Youth, S. 27-40.
    65. Siehe z.B. David M. Rosen, Child Soldiers in the Western Imagination: From Patriots to Victims, New Brunswick 2015; vgl auch Thoko Kaime, The Convention on the Rights of the Child. A Cultural Legitimacy Critique, Groningen 2011.
    66. Tara Zahra, Kidnapped Souls: National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900-1948, Ithaca 2008; Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge 2006.
    67. Carol J. Singley, Adopting America: Childhood, Kinship, and national Identity in Literature, Oxford 2011.
    68. Denyse Baillargeon, Babies for the Nation: The Medicalization of Motherhood in Quebec, 1910-1970, Waterloo 2009.
    69. Stephanie Olsen, Juvenile Nation: Youth, Emotions and the Making of the Modern British Citizen, 1880-1914, London 2014.
    70. Anna Mae Duane, An Infant Nation: Childhood Studies and Early America, in: Literature Compass 2 (2005), S. 1-9; Marianne Gullestad, A Passion for Boundaries. Reflections on Connections between the Everyday Lives of Children and Discourses on the Nation in Contemporary Norway, in: Childhood 4 (1997), H. 1, S. 19-42.
    71. Karen Sánchez-Eppler, Raising Empires like Children: Race, Nation, and Religious Education, in: American Literary History 8 (1996), H. 3, S. 399-425, hier S. 399.
    72. Jennifer Beinart, Darkly through a Lens. Changing Perceptions of the African Child in Sickness and Health, 1900-1945, in: Roger Cooter (Hrsg.), In the Name of the Child: Health and Welfare, 1880-1940, New York 1992, S. 220-243. 
    73. Dies gilt für Diktaturen ebenso wie für Demokratien. Von den vielen möglichen Beispielen seien hier nur Untersuchungen zur US-amerikanischen Hierarchie der Kindheit genannt: Sharon Stephens, Nationalism, Nuclear Policy and Children in Cold War America, in: Childhood 4 (1997), H. 1, S. 103-123; Anne Overbeck, Familienwerte im gesellschaftlichen Wandel/Mothering the Race: The Discourse on Welfare and Reproductive Rights of African-American Women in the 20th Century, München 2015.
    74. Jens Qvortrup, Varieties of Childhood, in: ders. (Hrsg.), Studies in Modern Childhood. Society, Agency, Culture, London 2005, S. 1-20; Hugh Cunningham, Histories of Childhood, in: American Historical Review 103 (1998), H. 4, S. 1195-1208; Gaile S. Cannella/Lourdes Diaz Soto (Hrsg.), Childhoods: A Handbook, New York 2010.
    75. Meike Sophia Baader, Kindheiten in der Moderne: Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt a.M. 2014.
    76. Roberta Lyn Wollons (Hrsg.), Kindergartens and Cultures: The Global Diffusion of an Idea, New Haven 2000.
    77. Liesbeth de Block/David Buckingham, Global Children, Global Media: Migration, Media and Childhood, Basingstoke 2007.
    78. Judith Okely, Non-Territorial Culture as the Rationale for the Assimilation of Gypsy Children, in: Childhood 4 (1997), H. 1, S. 63-80.
    79. Zsuzsa Millei, The Cultural Politics of “Childhood” and “Nation”: Space, Mobility and a Global World, in: Global Studies of Childhood 5 (2015), H. 1, S. 3-6; Heidi Morrison (Hrsg.), The Global History of Childhood Reader, New York 2013.
    80. Jürgen Schlumbohm, Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700-1850, München 1983; Margarete Flecken, Arbeiterkinder im 19. Jahrhundert: Eine sozialgeschichtliche Untersuchung ihrer Lebenswelt, Weinheim 1981.
    81. Für einen Überblick: Steven Mintz, Children in North American Slavery, in: Paula S. Fass (Hrsg.), The Routledge History of Childhood in the Western World, London 2013, S. 331-343; Joseph Illick, American Childhoods, Philadelphia 2002; Steven Mintz, Huck's Raft: A History of American Childhood, Cambridge 2004.
    82. Selma Berrol, Growing Up American: Immigrant Children in America, Then and Now, Budapest/New York 1995; Peter N. Stearns, Childhood in World History, London 2011; Shurlee Swain/Margot Hillel, Child, Nation, Race and Empire: Child Rescue Discourse, England, Canada and Australia, 1850-1915, Manchester 2010.
    83. Malgorzata Fidelis, Are you a Modern Girl? Consumer Culture and Young Women in 1960s Poland, in: Shana Penn (Hrsg.), Gender Politics and Everyday Life in State Socialist East and Central Europe, New York 2009, S. 171-184.
    84. Vgl die Zeitschrift „Girlhood Studies – An Interdisciplinary Journal“ (http://journals.berghahnbooks.com/girlhood-studies) und das komplementäre „Boyhood Studies – An Interdisciplinary Journal“ (http://journals.berghahnbooks.com/boyhood-studies). 
    85. Qvortrup, Varieties of Childhood.
    86. James, Theorizing Childhood, S. 37.
    87. Ian Grosvenor, Geographies of Risk: An Exploration of City Childhoods in early Twentieth‐Century Britain, in: Paedagogica Historica 45 (2009), H. 1-2, S. 215-233.
    88. Paula S. Fass, Is there a Story in the History of Childhood?, in: dies. (Hrsg.), The Routledge History of Childhood in the Western World, S. 1-14, hier S. 8-9. 
    89. Ann Quennerstedt, Children, but not really Humans? Critical Reflections on the Hampering Effect of the „3 p's”, in: International Journal on Children's Rights 18 (2010), H. 4, S. 619-635, online unter http://kingscollege.net/pomfret/3300/readings/Quennerstedt.pdf.
    90. Siehe Anmerkung 1.
    91. James, Theorizing Childhood, S. 7.
    92. Jürgen Zinnecker, Kindheit und Jugend als pädagogische Moratorien. Zur Zivilisationsgeschichte der jüngeren Generation im 20. Jahrhundert, in: Dietrich Benner (Hrsg.), Bildungsprozesse und Erziehungsverhältnisse im 20. Jahrhundert (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 42), Weinheim 2000, S. 36-68, online unter http://www.pedocs.de/volltexte/2013/8442/pdf/Zinnecker_2000_Kindheit_und_Jugend_als_paedagogische_Moratorien.pdf.
    93. Heinz Hengst (Hrsg.), Die Arbeit der Kinder: Kindheitskonzept und Arbeitsteilung zwischen den Generationen, Weinheim 2000.
    94. Homi K. Bhabha, The Other Question: Stereotype, Discrimination and the Discourse of Colonialism, in: K.M Newton, Twentieth-Century Literary Theory. A Reader, Basingstoke 1988, S. 293-301.
    95. Gaile Sloan Cannella/Radhika Viruru, Childhood and Postcolonization: Power, Education, and Contemporary Practice, New York 2004.
    96. Jacqueline Rose, The Case of Peter Pan, or, The Impossibility of Children's Fiction, Basingstoke 1994; David Rudd, The (Im)Possibility of Children's Fiction: Rose Twenty-Five Years On, in: Children's Literature Association Quarterly 35 (2010), H. 3, S. 223-229.
    97. Vgl auch Karen Sánchez-Eppler, Dependent States: The Child's Part in Nineteenth-Century American Culture, Chicago 2005. Einen anderen Ansatz, der eine Art „empowerment“ des kindlichen Autors propagiert, findet sich dagegen bei: Clémentine Beauvais, The Mighty Child: Time and Power in Children's Literature, Amsterdam 2015. Allgemein und als Einführung gut geeignet: Peter Hunt (Hrsg.), Understanding Children’s Literature: Key Essays from the Second Edition of The International Companion Encyclopedia of Children’s Literature, London 2005.
    98. John Wall, Childism: The Challenge of Childhood to Ethics and the Humanities, in: Anna Mae Duane (Hrsg.), The Children's Table: Childhood Studies and the Humanities, Athens 2013, S. 68-84.
    99. Fass, Is there a Story in the History of Childhood?, S. 5.
    100. Ein ähnliches Argument verfolgt David M. Rosen analog und auf durchaus kontroverse Weise in seinem Buch über die historischen Prozesse, die zu einer Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen aus dem Bereich des Militärs führten: Rosen, Child Soldiers in the Western Imagination.
    101. Ellen Schrumpf, Child Labor in the West, in: Paula S. Fass (Hrsg.), Encyclopedia of Children and Childhood in History and Society, Bd. 1, New York 2004, S. 159-162.
    102. Jordanova, Conceptualising Childhood in the Eighteenth Century; Nigel Goose, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Childhood and Child Labour in Industrial England: Diversity and Agency, 1750-1914, Farnham 2013, S. 1-21.
    103. Schrumpf, Child Labor in the West, S. 162.
    104. Damit ist auch ein Anschluss gegeben an aktuelle Debatten über die Sinnhaftigkeit globaler Verbote von Kinderarbeit, siehe dazu beispielsweise die Informationen des Vereins ProNats, Verein zur Unterstützung arbeitender Kinder und Jugendlicher, http://www.pronats.de/informationen/kindheit-und-arbeit/kinder-und-arbeit/ (20.6.2016).
    105. Jane Humphries, Childhood and Child Labour in the British Industrial Revolution, Cambridge 2011.
    106. Barbara Beatty, Preschool Education in America: The Culture of Young Children from the Colonial Era to the Present, New Haven 1995, S. xiii.
    107. Um einen Einblick in Wahrnehmungen und Gefühle von Kindern bemühen sich u.a.: Anthony Fletcher, Growing Up in England: The Experience of Childhood, 1600-1914, New Haven 2008 und Hannah Newton, The Sick Child in Early Modern England, 1580-1720, Oxford 2012.
    108. So z.B. Helga Weissová-Hošková, Zeichne, was Du siehst: Zeichnungen eines Kindes aus Theresienstadt, Göttingen 2008.
    109. Stephen Kline, Out of the Garden: Toys, TV and Children’s Culture in the Age of Marketing, London 1993; Gary Cross, Kids' Stuff: Toys and the Changing World of American Childhood, Cambridge 1997. Siehe auch das Forschungsprojekt von Cathleen M. Giustino zu Spielzeug in der sozialistischen Tschechoslowakei, vgl. den Vortrag „Simply Child’s Play? Toy Design and Creative Possibilities in Socialist Czechoslovakia“, Februar 2014, Collegium Carolinum, München.
    110. James Schmidt, Children and the State, in: Fass (Hrsg.), The Routledge History of Childhood in the Western World, S. 174-190, hier S. 175.
    111. Nigel Goose, Introduction, S. 8. Zum Akteursstatus von Kindern in früheren Gesellschaften: Naomi J. Miller/Naomi Yavneh, Introduction: Early Modern Children as Subjects: Gender Matters, in: dies. (Hrsg.), Gender and Early Modern Constructions of Childhood, Farnham 2011, S. 1-16, hier S. 2.
    112. Kate Bacon, Rethinking Children’s Citizenship. Negotiating Structure, Shaping Meanings, in: International Journal on Children's Rights 22 (2014), H. 1, S. 21-42; Tom Cockburn, Authors of their Own Lives? Children, Contracts, their Responsibilities, Rights and Citizenship, in: International Journal on Children's Rights 21 (2013), H. 2, S. 372-384; Michael Lister, Citizenship in Contemporary Europe, Edinburgh 2008.