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Martin Sabrow

Zäsuren in der Zeitgeschichte

Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 03.06.2013
https://docupedia.de//zg/Zaesuren

DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.246.v1

Artikelbild: Zäsuren in der Zeitgeschichte

Berlin, Mai 1945, Soldaten der Roten Armee in der Reichskanzlei (ADN-ZB/SNB-Bild, Fotograf unbekannt). <a rel="nofollow" class="external text" href="http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-R77793,_Be… 183-R77793</a> (<a rel="nofollow" class="external text" href="https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en">CC BY-SA 3.0 DE</a>).

Historische Zäsuren besetzen eine prominente Rolle im geschichtlichen Denken. Doch stecken sie, wie Martin Sabrow in seinem Beitrag zeigt, nicht im Geschehen selbst, sondern in seiner zeitgenössischen oder nachträglichen Deutung. Sie dienen der subjektiven Ordnung der Geschichte und der Abgrenzung von Zeiteinheiten. Der Zäsurenbegriff ist nur schwer fassbar, sektoral und perspektivengebunden. Sabrow schlägt daher eine Unterscheidung zwischen nachträglicher Deutungszäsur und zeitgenössischer Erfahrungs- oder Ordnungszäsur vor.

Zäsuren in der Zeitgeschichte

von Martin Sabrow

Epochen und Zäsuren

Die Idee zu seinem grandiosen Werk „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart” überfiel den 2011 verstorbenen Tony Judt, als er im Taxi die Radiomeldungen vom Aufstand gegen Ceauşescu hörte und mit einem Schlag wusste: „Eine Epoche war beendet.” Auf der Fahrt zum Wiener Westbahnhof erlebte der unter dem Eindruck der samtenen Revolution von Prag nach Wien gereiste Historiker Judt, dass der Umbruch in der Gegenwart die Vergangenheit umschrieb: „Der Kalte Krieg, der Ost-West-Konflikt, der Wettstreit zwischen ‚Kommunismus’ und ‚Kapitalismus’ [...] – all das erschien nun nicht mehr als Produkt ideologischer Notwendigkeit oder der eisernen Logik der politischen Verhältnisse, sondern als zufälliges Ergebnis der Geschichte – und die Geschichte fegte alles beiseite.”[1] Die Geschichte fegte alles beiseite, und die Historiker/innen hatten keine Wahl, als ihr hinterher zu kehren: „Nun erschienen die Jahre zwischen 1945 und 1989 nicht als Schwelle zu einer neuen Epoche, sondern als Zwischenzeit, als Anlaufphase eines noch unerledigten Konflikts, der 1945 zwar zu Ende gegangen war, dessen Epilog aber weitere 50 Jahre dauerte. Welche Gestalt Europa auch annehmen würde, sein vertrautes Geschichtsbild hatte sich ein für allemal geändert. In diesem kalten mitteleuropäischen Dezember wurde mir klar, daß die europäische Nachkriegsgeschichte neu geschrieben werden mußte.”[2]

Tony Judts Erlebnis beschreibt das Dilemma historischer Zeitgrenzen und der aus ihnen abgeleiteten Phaseneinteilung – sie sind für die Geschichtsschreibung so unentbehrlich wie problematisch. Das historische Kontinuum in gliedernde Abschnitte zu teilen, zählt zu den wichtigsten Aufgaben jeder Geschichtsschreibung, die sich nicht in bloßer Annalistik erschöpft. Historische Zäsuren besetzen eine entsprechend prominente Rolle im geschichtlichen Denken, um im gleichförmigen Zeitverlauf der Vergangenheit unterschiedliche Zeitabschnitte voneinander abzugrenzen. Ihre Reichweite geht über das Bemühen der geschichtlichen Periodisierung hinaus, „den Gesamtverlauf der Geschichte in sinnvolle, in sich abgeschlossene Einheiten (Epochen) zu gliedern”.[3]

Aus der ursprünglichen Wortbedeutung als „Hauen”, „Hieb”, „Schnitt” und ihrer späteren Verwendung als Bezeichnung für eine Sprechpause in der Verslehre abgeleitet, bezeichnet die historische Zäsur verschiedenste Fugen und Einschnitte innerhalb eines historischen Kontinuums; sie bildet den markanten Punkt, den sichtbaren Einschnitt in einer geschichtlichen Entwicklung.[4] Als Beispiele für die moderne Gesellschaft des 20. Jahrhunderts führen einschlägige Enzyklopädien etwa „die Oktoberrevolution 1917 bzw. das Ende des Ersten Weltkriegs 1918” an, gefolgt vom „Ende des Zweiten Weltkriegs 1945” und der „Wende 1989 in der DDR”, die zur deutschen Wiedervereinigung führte.[5] Auf gleicher Ebene wären der Ausbruch der beiden Weltkriege 1914 und 1939 sowie die faschistische bzw. nationalsozialistische „Machtergreifung” in Italien und Deutschland 1922 bzw. 1933 hinzuzufügen sowie aus innerdeutscher Perspektive noch die Gründung beider deutscher Staaten 1949.

Demgegenüber kam die Bundesrepublik bis 1989 nach verbreiteter Auffassung ganz ohne epochale Einschnitte aus. So bescheinigte Hans-Peter Schwarz der „Geschichte der Bundesrepublik”, die „keine bis auf die Knochen einschneidenden Zäsuren” durchgemacht habe, eine „evolutionäre Prozeßnatur”, deren „gleitende Übergänge” und nur „segmentäre Zäsuren” ihn an Fernand Braudels historische Zeitschicht der longue durée erinnerten.[6] Andere Historiker aber hielten umgekehrt dafür, dass zumindest die „Wahl Willy Brandts zum vierten Bundeskanzler am 21. Oktober 1969 in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland [...] eine tiefe historische Zäsur” markiere.[7] Aleida Assmann verbreiterte das Gefühl einer epochalen „Umgründung” (Manfred Görtemaker) im Gefolge des Regierungswechsels 1969[8] zu einer ganzen Generation der „68er”, die „ihren geschichtlichen Auftritt und Abtritt als eine historische Zäsur zu markieren” imstande war.[9]

Auch die vierzigjährige Geschichte der DDR lässt sich plausibel als Kontinuum einer 1949 etablierten und 1989 gestürzten Diktatur lesen, ebenso aber als Abfolge historischer Einschnitte, wie sie der Juniaufstand 1953 und der Mauerbau 1961, der Machtwechsel von 1971 und die Biermann-Ausbürgerung 1976 markieren. Mit Recht wurde in der Forschung auf die „gerade zeitgeschichtlich virulente Problematik noch kaum abschließend zu gewichtender Verschränkungen von politischen, wirtschaftlichen, sozialen und sozialkulturellen Einschnitten und Umbrüchen” hingewiesen.[10] So gilt im Ganzen die lakonische Feststellung, die Axel Schildt in seinem Literaturbericht zur westdeutschen Nachkriegsgeschichte schon gleich nach 1989 traf: „Es gibt verschiedene legitime Möglichkeiten der Periodisierung mit jeweiligen daraus resultierenden Problemen.”[11]

Wie das Beispiel zeigt, ist die historische Zäsur eine ebenso herausragende wie verschwommene Größe der Verständigung über die Vergangenheit; ihre historiografische Beliebtheit steht in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer begrifflichen Klarheit. Tatsächlich hat der Begriff der Zäsur gegenüber dem der Epoche und der Periodisierung eine nur vergleichsweise geringe theoretische Betrachtung erfahren,[12] obwohl er weniger begriffsgeschichtliches Gepäck mit sich schleppt als die zunächst an eine zyklische Geschichtsauffassung als innere Gliederung eines zirkulären Umlaufs gebundene „Periodisierung” oder die „Epoche”, die wortgeschichtlich in der Antike und im Mittelalter eine hemmende Unterbrechung bzw. eine zeitenthobene, etwa auf Christi Geburt oder die Erschaffung der Welt bezogene Begrenzung des geschichtlichen Geschehens bezeichnet.

Tatsächlich ist das Wort „Zäsur” erst an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert in die Sprache der Historiker eingewandert, als sich mit der Französischen Revolution das „neue Epochenbewußtsein” ausbreitete, „daß die eigene Zeit nicht nur als Ende oder als Anfang erfahren wurde, sondern als Übergangszeit”.[13] Die erfahrene Fristverkürzung für den „Zustand der Dinge” im Gefolge der Französischen Revolution und im anbrechenden Fortschrittszeitalter führte die Zeitgenossen zu der Einsicht, dass das eigene „Zeitalter [...] uns aus einer Periode, die eben vorübergeht, in eine neue nicht wenig verschiedene überzuführen” scheint, wie Wilhelm von Humboldt den Charakter des historischen Orts seines ausgehenden 18. Jahrhunderts zu bestimmen suchte.[14]

Die jüdisch-christlichen Weltalterlehren spiegelten zwar ein erstes „Bewußtsein von der Zeitlichkeit menschlicher Existenz”,[15] aber erst das Periodensystem des Humanismus schuf mit seiner Trias von Altertum, Mittelalter und Neuzeit die Voraussetzung für eine Gliederung der historischen Zeitenfolge. Entsprechend verschob sich der Epochenbegriff, der in seiner griechischen Ursprungsbedeutung als „Anhalten” zunächst den Moment des Stillstands zwischen zwei Bewegungen bezeichnet und erst „im Zeitalter der Aufklärung und Revolution aus der mit seinem bisherigen Gebrauch verbundenen Statik herausgerissen und vom Anfang eines geschichtlichen Geschehens in dieses selbst verlegt” wurde.[16] Damit war der Weg frei für die Entwicklung des Zäsurenbegriffs, der seither in seinen vielfältigen Ausformungen als Epocheneinschnitt, Epochenschwelle oder Epochenwende im kontinuierlichen Strom des historischen Geschehens einzelne Zeiteinheiten von ihrem „Vorher” und ihrem „Nachher” abzugrenzen hilft, um so „die Sinneinheit” zu konstituieren, „die aus Begebenheiten ein Ereignis macht”.[17]

Die Suche nach Zäsuren entspringt in der Moderne und ihrer linearen Zeitvorstellung dem Wunsch nach Ordnung des Zeitflusses und dem Bedürfnis nicht nur der Gäste von Thomas Manns „Zauberberg”, dass „das Weiserchen der Zeit nicht fühllos gegen Ziele, Abschnitte, Markierungen” sei, sondern „auf einen Augenblick anhalten oder wenigstens sonst ein winziges Zeichen” geben solle, „dass hier etwas vollendet sei”.[18] Im Erleben der Zäsur wird die Epochenfolge in der Menschheitsgeschichte sichtbar und ein verstohlener Blick in die Zukunft möglich, mit dem Goethe am 20. September 1792 seine preußischen Begleitoffiziere aufzumuntern suchte, die von der unerwarteten Niederlage der preußisch-österreichischen Armee gegen ein französisches Freiwilligenheer bei Châlons-sur-Marne entmutigt im Kreis saßen: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.”[19]

Aber alle Emphase des miterlebten Zeitenwechsels kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Zäsuren nichts als „Anschauungsformen des geschichtlichen Sinns” (Karlheinz Stierle) sein können.[20] Seit dem späteren 19. Jahrhundert gilt mit Gustav Droysen, dass Epochenbegriffe und damit auch historische Zäsuren nur „Betrachtungsformen sind, die der denkende Geist dem empirischen Vorhandenen gibt”,[21] nicht Eigenschaften der Welt und der Geschichte selbst. Nicht im Geschehen selbst stecken sie, sondern in seiner zeitgenössischen oder nachträglichen Deutung, und sie können mit dem Wandel von Blickwinkeln und Interpretationsmodellen wandern, ohne deswegen freilich arbiträr zu sein: Ungeachtet ihres Konstruktionscharakters greift doch jede Zäsurenbildung auf eine außersprachliche Realität durch, nach deren plausibler Ordnung sich ihre Geltungskraft bestimmt.

Einmal nur wurde dieser kulturgeschichtliche Zäsurenbegriff im 20. Jahrhundert noch durch eine konträre Anschauung herausgefordert, die die Einschnitte im geschichtlichen Geschehen als Teil der Historie und nicht der Historiografie zu fassen unternahm. In der parteimarxistischen Geschichtswissenschaft der sozialistischen Hemisphäre markierten Zäsuren Beginn und Ende gesetzmäßiger Etappen der historischen Entwicklung vom Niederen zum Höheren und erlangten in anhaltenden Auseinandersetzungen um die richtige Periodisierung der nationalen wie internationalen Geschichte überragenden Stellenwert. Sie beherrschten die Erarbeitung eines „Lehrbuchs der deutschen Geschichte”, mit dem die politisch beherrschte Geschichtswissenschaft der DDR eine neue historische Meistererzählung festzuschreiben versuchte. In den um die Zäsurenbildung geführten Kontroversen blieb unter den Autoren beispielsweise hoffnungslos umstritten, ob die Zeit vom Beginn des 6. bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts der Urgesellschaft oder dem Feudalismus zuzurechnen sei, und ebenso, ob die Periode der deutschen frühbürgerlichen Revolution nach 1450 oder erst 1517 begonnen habe. Bis zum Abschluss kontrovers blieb in der sich durch die 1950er- und 1960er-Jahre ziehenden Debatte auch die Frage, ob der Beginn der bürgerlichen Umgestaltung Deutschlands mit dem Jahr 1789 oder mit den Jahren 1806/1807 anzusetzen sei, und für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts konkurrierten gleich sechs Gliederungsanträge miteinander: 1814, 1815, 1830, 1840, 1847 und eben 1848. Je näher die Debatte im Autorenkollektiv der Gegenwart kam, desto enger wurde die Phasenbildung, bis schließlich in „der Aussprache [...] die Tendenz [dominierte], aus dem wechselvollen innerparteilichen Leben der Sozialdemokratie für jedes Jahr der deutschen Geschichte einen Einschnitt abzuleiten”.[22]

Das Periodisierungsproblem verband sich mit der für die parteimarxistische Geschichtsauffassung zentralen Frage, ob weltgeschichtlichen Epocheneinschnitten der Vorrang vor der nationalgeschichtlichen Zäsurenbildung gebühre. Es verlangte ebenso Auskunft, wie generell das Verhältnis von sozioökonomischen zu politischen Gesichtspunkten bei der Periodenabgrenzung zu bestimmen sei. Die Autoren des „Lehrbuchs für deutsche Geschichte” behalfen sich mit dem denkbar vagen Formelkompromiss, dass es in der Periodisierung gelte, „aus der Vielfalt der geschichtlichen Ereignisse jeweils ‚die dominierenden und prävalierenden Periodisierungsmarksteine' auszuwählen”.[23] Nirgendwo kam der in Wahrheit völlig voluntaristische Grundzug der doch nach vermeintlich objektiven Zäsuren forschenden Periodisierungsdebatte deutlicher zum Ausdruck als in der Forderung, sich in der Zäsurenbildung nicht nach dem Vergangenen, sondern „nach dem Neuen zu orientieren”.[24]

Freilich vermochte auch eine „am Neuen” orientierte Epochenbildung schon in zahlreichen Fällen keine Entscheidungshilfe mehr zu geben, wenn die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung nicht synchron, sondern uneinheitlich verlief. Mit Jürgen Kuczynski bemühte sich einer der Granden der DDR-Geschichtswissenschaft, den Streit mit dem Vorschlag zu schlichten, sich in der Periodisierung „an dem allgemeinen Neuen”, nicht aber „an dem lokal Neuen” zu orientieren.[25] Weder diese handgreifliche Bankrotterklärung des Dogmas der objektiven Zäsur noch die tiefe Zerstrittenheit der Historikerzunft in der Periodisierungsfrage ließen allerdings das Dogma ins Wanken geraten, dass historische Zäsuren sich aus dem historischen Geschehen selbst ableiten ließen und an ihm überprüfbar seien: „Auch die Perioden und Unterperioden sind objektive Erscheinungen, die von uns erkannt werden müssen, und nicht von den Historikern ‚erstellte Zusammenfassungen'.”[26]


Zur Perspektivität historischer Zäsuren

Spätestens seit 1989/90 ist die Auffassung geschichtswissenschaftlich allgemein anerkannt: Zäsuren gelten selten umfassend, sondern meist nur sektoral. Als scharfe Einschnitte verstanden, sind sie in der Regel ereignisgeschichtlich begrenzt; die Zäsuren der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und ebenso der Kulturgeschichte folgen anderen Logiken und Rhythmen des Wandels.[27] Nicht umsonst hat die Bedeutung des Begriffs Epoche sich von seiner ursprünglichen Bedeutung als Einschnitt hin zur Vorstellung einer ganzen Periode gewandelt, und folgerichtig bevorzugen Neuzeithistoriker statt des überscharfen Zäsurenbegriffs häufig weichere Wandlungstermini, die Kontinuität in der Diskontinuität zu erfassen erlauben – als Epochenschwelle oder Sattelzeit (Reinhart Koselleck),[28] als Strukturbruch (Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael),[29] als Umkehr (Konrad H. Jarausch).[30]

Zäsuren sind zudem perspektivenabhängig, wie sich nicht nur zwischen den verschiedenen nationalen Meistererzählungen zeigt, sondern mehr noch zwischen Mit- und Nachwelt. Besonders im Medienzeitalter und der mit ihm verbundenen kommunikativen Verdichtung werden sie oft ausgerufen und schnell wieder vergessen, wie es etwa der Jahrhundert- und Jahrtausendzäsur erging, die von einem starken Bewusstsein der Zeitenwende begleitet wurde und rückblickend ihren Zäsurencharakter rasch wieder eingebüßt hat.[31] Nicht selten werden zunächst dramatisch erscheinende Einschnitte durch den wachsenden Abstand wieder eingeebnet. So erging es in der jüngeren deutschen Zeitgeschichte etwa den Notstandsgesetzen, deren drohende Verabschiedung die Studentenbewegung mobilisierte und eine fast hysterische Furcht vor der drohenden Faschisierung der Gesellschaft auslöste, der Einführung des Euro am 1. Januar 2002 oder der EU-Osterweiterung vom Mai 2004 – allesamt als historisch ausgerufene Daten, die rasch nivelliert wurden. Dass umgekehrt die Geltungskraft von Zäsuren rückblickend nicht nur fallen, sondern auch steigen kann, zeigen die vielen Ereignisse, deren einschneidende Wirkung erst im Nachhinein deutlich wird: das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914, das zum Ausbruch der das „Jahrhundert der Extreme” prägenden Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs wurde,[32] der Tod Benno Ohnesorgs auf einer Demonstration gegen den Schah von Persien am 2. Juni 1967, der den Auftakt zu einer europäischen Protestbewegung markierte; der autofreie Sonntag im Herbst 1973, der das Ende der Fortschrittsmoderne fassbar werden ließ.

Erst recht lässt sich das Konzept einer europäischen Geschichte allein als „Einheit in der Vielheit” vorstellen, nicht als homogenisierende Periodisierung. Alle Versuche, handstreichartig Ereignisdaten wie 1789 oder 1848 oder auch 1914 und 1945 oder 1989 als gesamteuropäische Zäsuren zu installieren, erweisen sich als im Wesentlichen geschichtspolitische Bemühungen, einen einzigen Blickwinkel mit hegemonialem Anspruch auszustatten. Auch der theoretisch ungleich reflektiertere Anspruch der Buchreihe „Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert” illustriert die Unmöglichkeit, die Geschichte der europäischen Länder an übereinstimmenden Zäsuren auszurichten. Der für sie gewählte Ansatz, die einzelnen Nationalgeschichten „im Kontext der europäischen Geschichte und der globalen Verflechtungen” zu erzählen, bedient sich zwar einzelner „Querschnittsdaten”, die auf die Jahre 1900, 1926, 1942, 1965 und 1992 gelegt wurden, aber keineswegs gleichermaßen historische Zäsuren repräsentieren.[33]

Schließlich: Historische Zäsuren entsprechen dem zeitlichen Gliederungswunsch von Historikern, aber sie schlagen nicht zwingend auf die Ebene des menschlichen Lebens durch: Historische Zäsuren sind mit biografischen nicht immer deckungsgleich. Gerade für die Daten der stärksten Einschnitte der deutschen Zeitgeschichte – 1918, 1945, 1989[34] – lässt sich ein Übermaß von biografischer Kontinuität in historischer Diskontinuität feststellen. Zeitgenossen der Novemberrevolution von 1918 in Berlin notierten verwundert, dass sie das Ende der Monarchie gänzlich alltäglich als Spaziergänger im Grunewald oder zeitungslesend im Café erlebt hätten. Auch der 8. Mai 1945 bedeutete nur für einen kleinen Teil der Deutschen den tatsächlichen Übergang vom Krieg zum Frieden, denn Gefangennahme und Demobilisierung richteten sich nach dem vorrückenden Frontverlauf statt nach den Waffenstillständen von Reims und Berlin-Karlshorst. Die Sorge um das Überleben, der tägliche Kampf um Brennholz und Nahrung, überdeckte vielfach das Bewusstsein der Zeitenwende des Mai 1945, gleichviel ob als Zusammenbruch oder Befreiung verstanden, und in der Erinnerung bildete eher die Währungsreform 1948 als das Kriegsende 1945 „die markante Zäsur, die die gute von der schlechten Zeit schied”.[35]

Wie sehr historische Zäsurerfahrung und lebensgeschichtlicher Kontinuitätsanspruch zueinander in Spannung stehen können, zeigt sich in der autobiografischen Verarbeitung der zeithistorischen Umbrüche von 1914 und 1918, von 1933 und 1945 und schließlich von 1989/90. Allesamt Nahtstellen zwischen „Zeitalter und Menschenalter”, werden sie doch in sehr unterschiedlicher Weise als biografische Einschnitte reflektiert und belegen den Abstand „zwischen erfahrener Geschichte und gewußter Geschichte”.[36] Dieser Entkopplung von Geschichte und Lebensgeschichte kommt zu Hilfe, dass das überwölbende Ordnungsmuster der autobiografischen Lebensvergewisserung in keiner vergangenen Zäsur liegt, sondern in der perspektivischen Ausrichtung auf die Jetztzeit des Schreibenden.[37] Der Untersuchung Volker Depkats folgend, äußert sich etwa die Erfahrung der nationalsozialistischen Machtergreifung, die „für alle Autobiographen einen scharfen biographischen Einschnitt bedeutete, durch den sie abrupt aus ihren bis dahin gewohnten Lebenszusammenhängen gerissen wurden, [...] auch in einem Wechsel ihrer Erzählhaltung”.[38] In der ostdeutschen Memoirenliteratur nach 1989 hingegen herrscht das Bemühen vor, die eigene Lebensgeschichte möglichst weit vom Zusammenbruch des sozialistischen Ordnungsentwurfs zu entkoppeln. Die auf einen gesprengten Erfahrungsraum zurückblickenden Konversionsbiografien, die aus der Verdammung einstiger Verblendung das Legitimationsmuster ihrer Wandlungserzählung ziehen, sind daher in der Minderzahl, und auch sie bemühen sich in der Regel, das Datum ihres Damaskuserlebnisses so weit als möglich von der historischen Parallelzäsur des 9. November 1989 abzurücken, um dem (Selbst-)Vorwurf der Wendehalsigkeit zu entgehen.[39] Nach Zahl und Leserakzeptanz stärker verbreitet erwies sich nach 1989 die Kontinuitätsbiografie, die die Geschichte des eigenen Lebens als gezielte Relativierung oder gar Verneinung der historischen Zäsur berichtet. Das Idealmuster einer kommunistischen Kontinuitätsbiografie hatte schon 1981 DDR-Staatschef Erich Honecker selbst vorgelegt und nach 1989 in biografischen Aufzeichnungen weiter zu befestigen gesucht, deren in Variationen immer wiederholter Kernsatz lautet: „Ich kann mich an keinen Augenblick in meinem Leben erinnern, da ich an unserer Sache gezweifelt hätte.”[40]


Erfahrungs- und Deutungszäsuren

Trotzdem kann die Geschichtswissenschaft auf einen wie immer auch gearteten Begriff der Zeitgrenze nicht verzichten. Die fachtheoretische Rettung des Zäsurenbegriffs kann darauf gründen, dass die zum Scheitern verurteilte Suche nach universalhistorischen Zäsuren noch keine Absage an die Geltungskraft von Zäsuren selbst bedeutet, sondern nur deren räumliche Geltungsbreite und strukturelle Geltungstiefe einschränkt.[41] Sodann spiegeln Zäsuren ein historisches Orientierungsbedürfnis der Gesellschaft wider, dem die Fachwissenschaft nicht ausweichen kann, so sehr sie Zäsuren geschichtstheoretisch als höchst wandlungsfähige und konjunkturabhängige Phänomene ansehen mag. Auch bedient die Geschichtsschreibung mit ihrer Beteiligung an der historischen Jubiläumskultur bereitwillig das Bedürfnis, den historischen Stoff über markante Wendepunkte und Erinnerungsdaten für die Gegenwart aufzubereiten. Mit Recht hat Odo Marquard argumentiert, dass Zeitgrenzen für die menschliche Orientierung eine immer wichtigere Rolle spielten, weil traditionelle Raumgrenzen durch die Globalisierung immer stärker aufgelöst würden.[42]

Dem Zäsurenbegriff lässt sich folglich nicht ausweichen, nur weil er schlecht fassbar ist, immer subjektiv, sektoral, perspektivengebunden bleibt. Dass das Zäsurenbewusstsein in unserem Geschichtsverständnis ubiquitäre Bedeutung hat, verlangt vielmehr nachdrücklich, die aufschließende ebenso wie die einengende Kraft von Zäsuren zu reflektieren. Die historische Zäsur lässt sich nicht gut als Eigenschaft der betrachteten Vergangenheit selbst behaupten,[43] aber sie lässt sich andererseits ebenso wenig in der kritischen Reflexion gänzlich auflösen, wie Geschichtsschreibung auch nicht in literarischer Imagination aufgehen kann. Vielmehr bilden historische Zäsuren ein heuristisches Instrument, das nach analytischen Kosten und Gewinn fragt und die grundsätzliche Polyvalenz von Zäsuren im Auge behält, wie dies die Forschung etwa für den 8. Mai 1945 vorgeführt hat.[44]

Bei dieser Gratwanderung kann eine Unterscheidung zwischen nachträglicher Deutungszäsur und zeitgenössischer Erfahrungs- oder Ordnungszäsur ebenso hilfreich sein wie die Unterscheidung von „heterodoxen” und „orthodoxen” Zäsuren. Deutungszäsuren ergeben sich aus der retrospektiven Festlegung von Zeitgrenzen durch die Nachlebenden. Sie können ereignisgeschichtlich begründet sein wie die Französische Revolution 1789 und die „Stunde Null” 1945, aber genauso auch strukturgeschichtliche Bedeutung tragen wie die mit „1968” verbundene „Umgründung” der Bundesrepublik (Manfred Görtemaker)[45] oder der zuletzt immer stärker akzentuierte Umbruch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hin zu einer Zeit „nach dem Boom”. All diese Gliederungen benennen Einschnitte in den Gang der Geschichte, für die sich in der deutenden Retrospektive gute oder weniger gute Gründe finden lassen, ohne dass aber in ihnen die Zäsur gleichsam selbst zeitgenössische Erfahrungsmacht erlangt hat.[46]

Eben diese zeitgenössische Erfahrungsmacht können Zäsuren fallweise aber auch selbst ausüben, wie sich vielleicht an keinem Beispiel besser belegen lässt als am Umbruch von 1989, weil er zusammen mit den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001 diejenige Zäsur markiert, die die heutige Zeithistorikergeneration als einzige mehrheitlich selbst in ihrer Ordnungskraft erfahren hat. Die epochale Bedeutung des Mauerfalls 1989 ist unmittelbar augenfällig, und die Kerbe, die wir mit historischen Umbrüchen verbinden, kam in ihm musterhaft zum Ausdruck. „Niemand vergißt, wie ihn die Nachricht erreicht hat”, schrieb der Publizist Hermann Rudolph rückblickend.[47] Hüben und Drüben war „Wahnsinn” das Wort der Stunde, um die Empfindung des historisch Unerhörten zum Ausdruck zu bringen. Auch im Abstand von zwanzig Jahren behauptet der 9. und 10. November seine Frische als ein Moment, an dem die Weltgeschichte ihren Atem angehalten hat. In analytischer Distanz zeigt sich der Zäsurencharakter des Herbstes 1989 in der sich überschlagenden Wucht und Beschleunigung des historischen Ereignisstroms, der in Monate, Tage, manchmal Stunden zusammenballte, was vordem auf Jahrzehnte unverrückbar festgefügt schien. Mit einem Mal war Deutschland nach vierzig Jahren staatlicher Teilung zu einem Nationalstaat in anerkannten Grenzen verwandelt und damit erst der Zweite Weltkrieg endgültig Geschichte geworden.

9. November 1989: Menschen auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor. Die Aufschrift auf dem Schild: „Achtung! Sie verlassen jetzt West-Berlin“ wurde übersprüht mit der Frage „Wie denn?“. Fotograf: Sue Ream (San Francisco, California), Quelle ([https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/deed.en CC BY 3.0]): [http://commons.wikimedia.org/wiki/File:BerlinWall-BrandenburgGate.jpg Wikimedia Commons].
9. November 1989: Menschen auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor. Die Aufschrift auf dem Schild: „Achtung! Sie verlassen jetzt West-Berlin“ wurde übersprüht mit der Frage „Wie denn?“. Fotograf: Sue Ream (San Francisco, California), Quelle (CC BY 3.0): Wikimedia Commons.


Alle oben gemachten Einwände gegen die Geltungskraft der Deutungszäsur gelten auch hier: Der Epocheneinschnitt war nicht allumfassend. Der Herbst „1989” markiert selbst in der engen deutschen Nationalgeschichte lediglich einen politischen und herrschaftsgeschichtlichen Einschnitt, der überdies nur einen Bruchteil der größer gewordenen Bundesrepublik betraf. Auch außenpolitisch lässt sich fragen, ob 1989/90 seinen Rang wirklich bewahren konnte oder ob die Folgejahre die Tiefe des Umbruchs eher wieder relativiert haben. In globalem Maßstab widerspricht das zähe Überleben kommunistischer Regime in Nordkorea, Kuba und vor allem China allen euphorischen Annahmen der Zeitgenossen von 1990/91, dass diese Fossile des Kalten Kriegs über kurz oder lang dem Zug der Zeit folgen und sich hin zu freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Ordnungen wandeln müssten. Viele zeitgeschichtliche Entwicklungstrends auch in Deutschland und Europa blieben vom Mauerfall gänzlich unberührt. Die Herausbildung der Informationsgesellschaft in der digitalen Revolution, der Umbau des Bildungssystems, der demografische Wandel und die krisenhafte Expansion des Sozialstaats bezeichnen Entwicklungen, die vor 1989 einsetzten und vom Herbst 1989 zwar betroffen, aber kaum in ihrer Richtung verändert wurden. Für die Alltagsgeschichte der westeuropäischen Gesellschaft bedeutete der Beginn des Internetzeitalters einen sehr viel größeren Einschnitt als der Fall der Berliner Mauer.

Als der kritischen Reflexion zugängliche historiografische Deutungszäsur lässt sich der Einschnitt von 1989 daher in Frage stellen, nicht aber als sinnweltliche Erfahrungszäsur, die das Denken und Handeln der Zeitgenossen, insbesondere der Ostdeutschen unmittelbar beeinflusste. Geschichtliche Zäsuren stellen mit Johann Martin Chladenius „Sehepunkte”[48] bereit, also Umbruchsdaten einer historischen Entwicklung, die sie als abgeschlossene Epoche kennzeichnen und ihren Deutungshorizont vorgeben.[49] Das entgegenstehende Beispiel einer noch offenen Geschichte bildet dagegen die vielfach als „jüngste Zeitgeschichte” apostrophierte Zeit nach 1989, für die das Fehlen eines klaren Bezugspunkts ein methodisches Grundproblem der Zeitgeschichte als historischer Subdisziplin ausmacht.[50] Es brachte etwa Georg Gottfried Gervinus dazu, gegenüber Ephraim Lessing Zeitgeschichte als Ende aller Geschichtsschreibung zu verdammen: „Der Geschichtsschreiber kann nur vollendete Reihen von Begebenheiten darstellen wollen, denn er kann nicht urtheilen, wo er nicht die Schlußscenen vor sich hat.”[51]

Der Mauerfall von 1989 markiert demgegenüber eine solche Schlussszene, die die nationale wie globale Geschichte neu justierte. Er schuf eine grundstürzend neue Perspektive, den Endpunkt einer historischen Entwicklung, der zu Reorganisierung des eigenen Weltverständnisses herausfordert und seine eigene Historizität so aufsagt, dass eine kontrafaktische Sicht gegenstandslos wird. Der rasche und widerstandslose Zerfall der SED-Herrschaft im Herbst und Winter 1989 war ein Ereignis, das ante factum nicht vorstellbar war und post factum geschichtsnotwendig erscheint. Es sprengte den Denkrahmen der Politik, überstieg die Phantasie der Öffentlichkeit, und es strafte die prognostische Kompetenz der Gesellschaftswissenschaften und besonders der DDR-Forschung Lügen.

Wie sehr auch die Zeithistoriker/innen unter den Zeitgenossen des Umbruchs sich der historisch erzwungenen Verschiebung ihres Sinnhorizonts hatten beugen müssen, lehrt der Vergleich ihrer Auffassungen und Äußerungen vor und nach 1989. Die zeithistorische Zunft hat sich schnell darauf verstanden, dieses Versagen mit Kopfschütteln zu betrachten und die Frage, warum zeitgenössische Analysen das nahende Ende der DDR nicht hatten kommen sehen, beispielsweise mit bedauerlicher moralischer Indifferenz oder fachlicher Blindheit erklärt. Klüger wäre es, hier anzuerkennen, dass historische Zäsuren neue Denkhorizonte schaffen können, die wissenschaftlich nicht einholbar sind.

Dies muss freilich nicht für jeden Einschnitt gelten, den Zeitgenossen als epochal bezeichnen. Das Argument der historischen Eigenmacht von Zäsuren ist auf Zeitgrenzen einzuschränken, die den Lauf der Geschichte in eine unerwartete, nicht vorhersehbare Richtung lenken, einen neuen Normalzustand an der Stelle eines alten etablieren, so wie eine scheiternde Revolution als Putsch oder Hochverrat behandelt wird und eine siegreiche eine neue politische und kulturelle Ordnung mit eigenen Maßstäben von Gut und Böse erzeugt. Mit dem 9.11.1918 wurde der blutig unterdrückte Hochverrat aufständischer Matrosen zur republikanischen Tugend; mit dem 9.11.1989 verwandelte die lästige Berichtspflicht eines inoffiziellen Mitarbeiters sich zum moralischen Verrat. Solche Zäsuren hatten heterodoxen Charakter, indem sie die überkommene Lebenswelt nicht nur, um mit Reinhart Koselleck zu sprechen, „aufsprengten”, sondern den zeitgenössischen Erfahrungsraum gänzlich auf den Kopf stellten und den gesellschaftlichen Erwartungshorizont über „einen mit der Zeit fortschreitenden Veränderungskoeffizienten”[52] hinaus in einer vordem unvorstellbaren Weise verschoben.

Solchen heterodoxen Zäsuren stehen orthodoxe Zäsuren gegenüber, die die vorherrschende Weltsicht einer Gesellschaft und einer Zeit eher bestätigen als in Frage stellen.[53] Eine solche orthodoxe Zäsur bilden ungeachtet konkurrierender Deutungen zumindest im transatlantischen Verständnis die islamistischen Terroranschläge des 11. September 2001. „America is under attack”, erklärte Präsident George W. Bush noch während der Anschlagsserie, und die nachfolgenden Kriege in Afghanistan und gegen den Irak unter Saddam Hussein belegen die Konsequenz, mit der die USA sich gegen die islamistische Bedrohung zur Wehr zu setzen versuchte. Gleichzeitig bestätigt der über 3000 Menschenleben fordernde Selbstmordanschlag von Mohammed Atta und seinen 18 Gesinnungsgenossen die These einer Radikalisierung und Verschärfung der Gewalt in der Epoche der asymmetrischen Kriege. Der 11. September belegt die Entgrenzung der Gewalt hin zu einem „Terrorkrieg [...], der weltweit und ohne jede Selbstbeschränkung bei der Auswahl der Opfer geführt wird”.[54]

Trotz seiner verheerenden Gewalt und seiner weitreichenden politischen Wirkung stellt „9/11” insofern eine orthodoxe Zäsur dar, als sie die Basisnormen und -vorstellungen unserer Zeit eher bestätigt als in Frage stellt. Anders als „1989” schuf er keine neuen Sichtachsen und Denkhorizonte, sondern bestätigte bereits vorher bekannte. Nicht zufällig sprechen Kulturhistoriker vom „Mythos einer neuen Ära”.[55] Tatsächlich ist Samuel Huntingtons berühmte Studie über den „Clash of Civilizations” fünf Jahre älter als der Anschlag vom 11. September 2001, und seine statischen Thesen treffen nach wie vor auf die Kritik der „postcolonial studies”, die mit Edward Said auf den Konstruktionscharakter von Kulturgrenzen hinweisen und die Hybridität aller Kulturen betonen.[56] Der 11. September 2001 hat der Zeitgeschichte nicht gegeben, was der 9. Oktober 1989 ihr gab: die Leseanleitung für eine abgeschlossene Epoche, die mit diesem Tag zu Ende ging – er markiert ein zeithistorisches Datum von Gewicht, aber keine Epochenzäsur.[57]

Heterodoxe Zäsuren dagegen erzwingen Neuinterpretationen, stellen Zeitgenossen vor Anpassungsprobleme, die den Gegensatz von biografischer Kontinuität und politischer oder sinnweltlicher Diskontinuität zu bewältigen verlangen. Damit sind sie selbst ein historischer Handlungsfaktor und geben dem Zäsurenbegriff nicht nur historiografische, sondern auch historische Bedeutung.

Die weltgeschichtliche Wende von 1989/91 in Deutschland und Europa bedeutete anders als die Anschläge vom 11. September 2001 eine Epochenzäsur, weil sie die Gültigkeit der bisherigen Ordnung der Dinge aufhob. Sie setzte neue normative Maßstäbe des Handelns und Denkens, die sich aus den alten Verhältnissen nicht hätten ergeben können, und bildet einen unhintergehbaren Sehepunkt, der seine eigene Historizität und Unerhörtheit rasch zur selbstverständlichen Normalität verwandelt hat: Niemand wird mehr den fortschreitenden Verfall der DDR-Wirtschaft bestreiten oder die auf den Untergang zulaufende Erosion des Kommunismus, die Unnatürlichkeit der deutschen Teilung. Und wer die SED-Führung restlos lächerlich machen will, muss nur Honeckers berühmten Satz vom 19. Januar 1989 zitieren, dass die Mauer noch in fünfzig und hundert Jahren stehen werde, „wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind”. Dass dieser Satz uns heute absurd erscheint und damals nicht, macht den umfassenden sinnweltlichen Ordnungscharakter der Zäsur von 1989 aus.

So sehr Zäsuren nachträglich gesetzte Einschnitte des deutenden – und in der Zeitgeschichte auch erfahrungsgeprägten – Betrachters sind, so sehr greifen sie doch von der Deutungsebene auf die Handlungs- und Erfahrungsebene über, weil und insofern sie die Vorstellungswelt neu ordnen und die strukturbildenden Fluchtpunkte liefern, auf die die sinnweltliche Ordnung der Welt ausgerichtet ist, ohne dass dies den Zeitgenossen überhaupt bewusst sein muss. Historische Zäsuren können zu Fluchtpunkten der sozialen Selbstverständigung werden, die das Bild von der Welt reorganisieren – schlagartig wie in der Trümmerlandschaft nach 1945 und seines vermeintlichen Nullpunkts oder schleichend wie im Umbruch von der Fortschrittsmoderne zur Welt „nach dem Boom”. Oder in den Worten des Literaturhistorikers Wilfried Barner ausgedrückt: Auch „Epochenillusionen sind historische Tatsachen”.[58]


Empfohlene Literatur zum Thema

Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007.

Martin Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990.

Frank Bösch, Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History. 9 (2012), Nr. 1, S. 8-32 (online).

Michael Prinz, Matthias Frese (Hrsg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996.

Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte. 22.10.2012 (online).

Sascha Seiler, Thorsten Schüller (Hrsg.), Von Zäsuren und Ereignissen. Historische Einschnitte und ihre mediale Verarbeitung, Bielefeld 2010.

Zitation
Martin Sabrow, Zäsuren in der Zeitgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 3.6.2013, URL: http://docupedia.de/zg/Zaesuren

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Anmerkungen

    1. Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006, S. 15f.
    2. Ebd.
    3. Stichwort „Periodisierung“, in: Brockhaus Enzyklopädie, 19., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 16, Mannheim 1991, S. 676.
    4. Vgl. etwa das Stichwort „Zäsur“, in: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim 1989, S. 1766.
    5. Vgl. den Eintrag in der Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Z%C3%A4sur#Die_Z.C3.A4sur_in_der_Geschichtsforschung (24.5.2013).
    6. Hans-Peter Schwarz, Segmentäre Zäsuren. 1949-1989: eine Außenpolitik der gleitenden Übergänge, in: Martin Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 11-19, hier S. 11.
    7. Ulrich Lappenküper, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1990, München 2008, S. 27.
    8. Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 475.
    9. Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007, S. 53.
    10. Axel Schildt, Nachkriegszeit. Möglichkeiten und Probleme einer Periodisierung der westdeutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Einordnung in die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), S. 567-584, hier S. 567.
    11. Ebd. Zur Problematik der Zäsurenbildung für die bundesdeutsche Geschichte vgl. Frank Bösch, Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9 (2012), H. 1, S. 8-32, online unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Boesch-1-2012.
    12. So verzeichnet das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ zwar Einträge zu „Epoché“ und „Epoche, Epochenbewusstsein“ (Bd. 2, hrsg. v. Joachim Ritter, Basel 1972, Sp. 594-599) ebenso wie zu „Periode, Periodisierung“ (Bd. 7, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel 1989, Sp. 259-261), nicht aber zu „Zäsur“. Der Terminus fehlt ebenso in dem von Stefan Jordan herausgegebenen Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002.
    13. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1995, S. 300-348, hier S. 328.
    14. Wilhelm von Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert, in: ders., Werke in fünf Bänden. Schriften zur Anthropologie und Geschichte, hrsg. von Andreas Flitner/Klaus Giel, Stuttgart 1980, S. 376-505, hier S. 398.
    15. Georg Spitzlberger/Claus D. Kernig, Periodisierung, in: Claus D. Kernig (Hrsg.), Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd. IV, Freiburg u.a. 1971, Sp. 1135-1160, hier Sp. 1139.
    16. Historisches Wörterbuch, Epoche, Epochenbewußtsein, Sp. 597. Noch in Humboldts zitiertem Aufsatz zum Charakter des 18. Jahrhunderts steht der Terminus „Epoche“ synonym für „Wendepunkt“: „Und eine solche Epoche nun, eine Veränderung in der Ansicht und der Würdigung der Dinge, in der Wahl der Gegenstände des Nachdenkens und der Untersuchung, in der Richtung des Geschmacks und der Unterordnung der Empfindungen unter einander scheint unser Zeitalter zwar langsam aber mächtig vorzubereiten.“ Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert, S. 399.
    17. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 145; vgl. auch Thorsten Schüller, Modern Talking – Die Konjunktur der Krise in anderen und neuen Modernen, in: ders./Sascha Seiler (Hrsg.), Von Zäsuren und Ereignissen. Historische Einschnitte und ihre mediale Verarbeitung, Bielefeld 2010, S. 13-27, hier S. 14. Zur Veränderung des Zeitverständnisses in der Moderne vgl. Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte, Version 2.0, in: Docupedia Zeitgeschichte, online unter http://docupedia.de/zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen_Version_2.0_R.C3.BCdiger_Graf?oldid=84945.
    18. Thomas Mann, Der Zauberberg (= Frankfurter Ausgabe; 5), Frankfurt a.M. 2002, S. 823.
    19. Johann Wolfgang von Goethe, Kampagne in Frankreich 1792, in: Goethes autobiographische Schriften, Bd. II, Leipzig 1920, S. 587-771, hier S. 637.
    20. Zit. nach Wilfried Barner, Zum Problem der Epochenillusion, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 517-529, hier S. 522.
    21. Johann Gustav Droysen, Historik, hrsg. von Peter Leyh, Stuttgart 1997, S. 371.
    22. Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, ZIG 161/6, Horst Helas, Die Periodisierungsdiskussion 1955 bis 1958 im Autorenkollektiv für das Lehrbuch der deutschen Geschichte, S. 31. Vgl. zum Folgenden Martin Sabrow, Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969, München 2001, S. 229ff.
    23. Horst Haun, Die erste Periodisierungsdiskussion in der Geschichtswissenschaft der DDR. Zur Beratung über die Periodisierung des Feudalismus 1953/54, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 27 (1979), S. 856-865, hier S. 864.
    24. Äußerung Alfred Meusels auf der 5. Tagung des Wissenschaftlichen Rats beim Museum für Deutsche Geschichte am 25.10.1953, zit. nach Sabrow, Diktat des Konsenses, S. 232.
    25. Jürgen Kuczynski, Zur Periodisierung der deutschen Geschichte in der Feudalzeit, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2 (1954), S. 133-151, hier S. 142.
    26. Ebd., S. 134 (Hervorhebung im Original).
    27. Vgl. den auf die grundlegende Differenz von politischem Geschehen und gesellschaftlichem Strukturwandel abhebenden Appell von Michael Prinz und Matthias Frese: „Für die deutsche Zeitsozialgeschichtsschreibung ergibt sich [...] das Postulat, in Analyse und Darstellung insbesondere die politischen Epochengrenzen 1933 und 1945 bzw. 1949 zu überschreiten.“ Sozialer Wandel und politische Zäsuren seit der Zwischenkriegszeit. Methodische Probleme und Ereignisse, in: dies. (Hrsg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 1-31, hier S. 4.
    28. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV.
    29. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2010, S. 33.
    30. Konrad Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, München 2004.
    31. Rudolf Stöber, Epochenvergleiche in der Medien- und Kommunikationsgeschichte, in: Gabriele Melischek/Josef Seethaler/Jürgen Wilke (Hrsg.), Medien- & Kommunikationswissenschaft im Vergleich. Grundlagen, Gegenstandsbereiche, Verfahrensweisen, Wiesbaden 2008, S. 27-42. Gleiches gilt etwa auch für die Interpretation der Bundestagswahl von 2005 als epochaler Veränderung der politischen Landschaft in Deutschland: Frank Decker, Die Zäsur. Konsequenzen der Bundestagswahl 2005 für die Entwicklung des deutschen Parteiensystems, in: Berliner Republik – Das Debattenmagazin 6/2005, online unter http://www.b-republik.de/b-republik.php/cat/8/aid/928/title/Die_Zaesur (24.5.2013).
    32. Zur verzögerten Zäsurerfahrung nach den Schüssen von Sarajevo vgl. Bernd Sösemann, Der Anlaß: Der Erste Weltkrieg, in: Holm Sundhaussen/Hans-Joachim Torke (Hrsg.), 1917-1918 als Epochengrenze?, Wiesbaden 2000, S. 11-28, hier S. 17ff.
    33. „Alle Bände beginnen um 1900, um die tiefgreifende Veränderungsdynamik der Jahrzehnte zwischen 1890 und 1914 zu berücksichtigen, die Jahrzehnte lang nachgewirkt hat. Die Durchsetzung des modernen Industriekapitalismus, der immer mächtiger werdenden Staatsapparate, die ‚Neuerfindung der Welt‘ mit den gewaltigen Fortschritten in der Technik und der Medizin oder die Entstehung von großen radikalen politischen Massenbewegungen: Das alles hat in kürzester Zeit eine solche Wucht entfaltet, dass fast alle europäischen Gesellschaften davon ergriffen und gezwungen wurden, auf diese Herausforderungen zu reagieren. Aber natürlich sind dann die Antworten in den einzelnen Ländern auf diese Herausforderungen außerordentlich unterschiedlich. Es ist aber sehr erstaunlich, wie jedenfalls die westeuropäischen Länder seit den 1950er Jahren einander immer ähnlicher werden und allmählich ein Modell der liberalen und sozialen, demokratischen Gesellschaft entwickeln, das nicht nur sehr erfolgreich war, sondern auch von erstaunlicher Beharrungskraft ist.“ Vgl. „Wir bleiben im Nationalen verwurzelt“. Ulrich Herbert gibt bei Beck eine neue Reihe zur europäischen Geschichte heraus. Ein Gespräch darüber, inwiefern das Konzept der Nationen wichtig ist, um die Entwicklung Europas im 20. Jahrhundert zu verstehen, in: Frankfurter Rundschau, 24.3.2010; http://www.fr-online.de/literatur/neue-reihe-zur-europaeischen-geschichte--wir-bleiben-im-nationalen-verwurzelt-,1472266,2961098.html (25.5.2013).
    34. Für die Zäsuren von 1945 und 1989 vgl. die entsprechenden Docupedia-Artikel: Christoph Kleßmann, 1945 – welthistorische Zäsur und „Stunde Null“, Version 1.0, online unter http://docupedia.de/zg/1945; Philipp Ther, 1989 – eine verhandelte Revolution, Version 1.0, online unter http://docupedia.de/zg/1989.
    35. Schildt, Nachkriegszeit, S. 568.
    36. Arnold Esch, Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung, in: ders., Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, S. 9-38, hier S. 14.
    37. „Denn der Rückblickende weiß, was (für ihn) Zukunft hatte, sieht perspektivisch, und vieles sinkt unter den Horizont; der Zeitgenosse hingegen sieht die Linien seiner Gegenwart noch gleich wichtig, parallel, nicht fluchtend.“ Ebd., S. 15.
    38. Volker Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007, S. 512.
    39. Prototypisch hier die Ich-Erzählung Günter Schabowskis, Der Absturz, Reinbek 1992, S. 159. Vgl. Martin Sabrow, Den Umbruch erzählen. Zur autobiographischen Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit, in: Frank Bösch/Martin Sabrow (Hrsg.), ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Göttingen 2012; Christiane Lahusen, Umbrucherzählungen in Nachwendeautobiographien, in: BIOS 2 (2010), S. 256-266; dies., Den Sozialismus erzählen, in: Helmut Schmitz/Heinz-Peter Preußer (Hrsg.), Autobiografie und historische Krisenerfahrung (= Jahrbuch Literatur und Politik), Heidelberg 2010, S. 139-149.
    40. Erich Honecker, Aus meinem Leben, Berlin (O) 1980, S. 9.
    41. Reinhart Koselleck, Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Herzog/Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, S. 269-282, hier S. 270f.
    42. Odo Marquard, Temporale Positionalität. Zum geschichtlichen Zäsurenbedarf des modernen Menschen, in: Herzog/Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, S. 343-352, hier S. 345f.
    43. Für den Ausnahmefall einer essenzialistisch argumentierenden Zäsurenbildung: „Und ebenso irrelevant für die wirkliche Epochenbedeutung des Jahres 1945 ist, ob man nach dreißig, vierzig Jahren einige Dutzend oder auch Hunderte Personen findet, die nachträglich die Meinung vertreten, sie hätten das Kriegsende nicht als Zäsur empfunden, nur weil ihre Ernährungslage oder ihr alltägliches Leben sich im Sommer 1945 von der Situation im März 1945 wenig unterschied.“ Horst Möller, Was ist Zeitgeschichte?, in: ders./Udo Wengst (Hrsg.), Einführung in die Zeitgeschichte, München 2003, S. 13-51, hier S. 19.
    44. Vgl. hierzu die einzelnen auf die Spannung von Wandel und Kontinuität ebenso wie auf die „vielen Schichten des Umbruchs“ abhebenden Beiträge in: Arnd Bauerkämper/Christoph Kleßmann/Hans Misselwitz (Hrsg.), Der 8. Mai 1945 als historische Zäsur. Strukturen – Erfahrungen – Deutungen, Potsdam 1995. Ebenso Heinz Hürten, Der 8. Mai 1945 als historische Zäsur. Eine Überlegung zur Problematik geschichtlicher Epochenbildung und des historischen Bewußtseins einer Nation, in: Wolfgang Elz/Sönke Neitzel (Hrsg.), Internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Winfried Baumgart zum 65. Geburtstag, Paderborn u.a. 2003, S. 389-401.
    45. Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 475ff.
    46. Dass im Epochenbegriff „zugleich ein sich im Bewusstsein nachträglich herstellender Ordnungssinn und ein sich im Handeln aktual vollziehendes Sinngeschehen“ zusammenkommen, erörtert auch Friedrich Jaeger, Epochen als Sinnkonzepte historischer Entwicklung, in: Jörn Rüsen (Hrsg.), Zeit deuten. Perspektiven – Epochen – Paradigmen, Bielefeld 2003, S. 313-354, hier S. 314.
    47. Zit. nach Hans-Hermann Hertle/Kathrin Elsner, Mein 9. November. Der Tag, an dem die Mauer fiel, Berlin o.J. [1999], S. 69.
    48. Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742.
    49. Als Beleg für die vorgängige Interpretationsmacht der historischen Zäsur: „Die historiographische Herausforderung durch die Wende von 1989/90 traf die ‚jüngere‘ westdeutsche Zeitgeschichte in einer Phase, in der sie ohnehin dabei war, einige Koordinaten zu überprüfen. [...] Der Umbruch von 1989/90 geriet in eine derartige Phase des Nachdenkens. [...] Vor allem aber hat die Epochenwende von 1989/90 die ‚jüngere‘ Zeitgeschichte vor eine neue, große Aufgabe gestellt, die kaum jemand vorhergesehen hat. Sie liegt in der Frage, wie die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR künftig aufeinander zu beziehen seien, inwieweit sie als gemeinsame Geschichte des vereinigten Deutschland miteinander zu vermitteln sind.“ Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte nach der Epochenwende, in: Jörg Calließ, Historische Orientierung nach der Epochenwende oder: Die Herausforderungen der Geschichtswissenschaft durch die Geschichte, Loccum 1995, S. 95-104, hier S. 100f. Für die DDR-Forschung vor und nach 1989: Martin Sabrow, DDR-Bild im Perspektivenwandel, in: Jürgen Kocka/Martin Sabrow (Hrsg.), Die DDR in der Geschichte. Fragen – Hypothesen – Perspektiven, Berlin 1994, S. 239-251.
    50. Das konstitutive Dilemma einer epochal offenen Zeithistorie veranschaulicht die Reihe „Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert“: „Soweit man es heute erkennen kann, werden die Jahre 2000 oder 2001 keine markanten historischen Zäsuren bilden. Aber es wird doch sichtbar, dass im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts etwas zu Ende ging, was 100 Jahre zuvor begonnen hatte, und etwas Neues einsetzte, das wir bislang weder definieren noch historisieren können.“ Ulrich Herbert, Vorwort, in: Hans Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 7-10, hier S. 10.
    51. Georg Gottfried Gervinus, Grundzüge der Historik, Leipzig 1837, S. 76f.
    52. Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 349-375, hier S. 361 u. 363.
    53. Als einen solchen „Bewegungsbegriff“, der für die Zukunft erwartete Zäsuren immer schon sinnweltlich zu integrieren vermag, lässt sich etwa die Kategorie „Fortschritt“ fassen: „Der ‚Fortschritt‘ ist der erste genuin geschichtliche Begriff, der die zeitliche Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung auf einen einzigen Begriff gebracht hat.“ Ebd., S. 366.
    54. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002, S. 189f.
    55. Armin Winiger, Der 11. September. Mythos einer neuen Ära, Wien 2007.
    56. Thorsten Schüller, Kulturtheorien nach 9/11, in: Sandra Poppe/Thorsten Schüller/Sascha Seiler (Hrsg.), 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, Bielefeld 2009, S. 21-38. Zu Edward Said vgl. auch Felix Wiedemann, Orientalismus, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 19.4.2012, online unter http://docupedia.de/zg/Orientalismus.
    57. Vgl. auch Michael Butter/Birte Christ/Patrick Keller (Hrsg.), 9/11. Kein Tag, der die Welt veränderte, Paderborn 2011; Manfred Berg, Der 11. September 2001 – eine historische Zäsur?, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), H. 3, S. 463-474, online unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Berg-3-2011; Bösch, Umbrüche in die Gegenwart, S. 12.
    58. Barner, Zum Problem der Epochenillusion, S. 527.