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Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.

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Klaus Große Kracht

Religionsgeschichte

Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 26.04.2018
https://docupedia.de//zg/Grosse_Kracht_religionsgeschichte_v1_de_2018

DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.1153.v1

Artikelbild: Religionsgeschichte

Der Künstler Herbert Rösler gründete um 1970 die Jesus People-Gruppe 91 in Köln. Bild im Besitz von Thomas Rösler, ca. 1971, Quelle: <a rel="nofollow" class="external text" href="http://www.tuepedia.de/wiki/Datei:Web1.-Jesus-people-.jpg">TÜwiki</a&gt;, Lizenz: <a rel="nofollow" class="external text" href="https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/">CC BY-SA 3.0 DE</a>

Religion gibt es immer nur im Plural ihrer konkreten empirischen Ausprägungen. Das gilt auch für die Religionsgeschichte als wissenschaftliche Praxis. Betrieben wird sie zumeist als Erforschung konkreter Glaubensgemeinschaften. Die Grenzen dessen, was noch sinnvoll als „Religion“ bezeichnet werden kann, sind dabei fließend. Klaus Große Kracht zeigt auf, welche Ansatzpunkte sich für eine zeithistorische Religionsforschung anbieten, die sich selbst als Teil einer „Problemgeschichte der Gegenwart“ versteht.

Religionsgeschichte

von Klaus Große Kracht

Über die Frage, ob es einen Gott gibt, wird seit Jahrhunderten gestritten, und letztlich wird sie wohl jede/r für sich allein beantworten müssen. Dass es Religionen gibt – mit oder ohne Bezug zu einem personalen Schöpfergott – ist hingegen unstrittig. Was auch immer ihren inneren Kern ausmachen mag, in ihren äußeren Manifestationen in Form von Praktiken (Ritualen), Diskursen (Theologien) und Organisationen (Kirchen, Konfessionen etc.) lassen sich Religionen geschichtswissenschaftlich genauso untersuchen wie andere Lebensbereiche des Menschen und seiner Gemeinschaftsformen. Häufig sind religiöse Phänomene zudem mit Angelegenheiten dieser Welt zutiefst verknüpft: mit Fragen von Herrschaft, Geschlechterbeziehung, Gewalt und Frieden.

Insbesondere in der Antike und dem Mittelalter galt die Götterwelt als ein eigener Schauplatz konflikthafter Auseinandersetzung verschiedener Kräfte, deren Ausgang erhebliche Auswirkungen auf die Geschicke der Menschen haben konnte. Aber auch im Prozess zunehmender Rationalisierung blieben Fragen der religiösen Gestimmtheit des Menschen von zentraler Bedeutung für seine künstlerische oder ökonomische Gesinnung sowie für den Akzeptanzrahmen politischer Herrschaft. Noch die Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts zwischen politischem Liberalismus und katholischer Kirche, deren Auswirkungen bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa deutlich spürbar waren, zeugen von der lang anhaltenden Prägekraft der Religion, ganz zu schweigen von den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den Platz des Islams in einer säkularisierten Moderne. So heizt gegenwärtig kaum ein anderes Thema dermaßen die Gemüter an wie die Vereinbarkeit von traditionalen islamischen Vorstellungen vom richtigen Leben und dem Selbstverständnis liberaler westlicher Gesellschaften.[1] Selbst dezidierte Verächter der parlamentarischen Demokratie spielen sich heute gern als Anwälte des christlichen Abendlandes auf, auch wenn ihre eigene Kirchenbindung eher gering sein dürfte.[2] Für eine zeithistorische Religionsforschung, die sich selbst als Teil einer „Problemgeschichte der Gegenwart“[3] versteht, bieten sich jedenfalls zahlreiche Ansatzpunkte an, um den terribles simplificateurs (Jacob Burckhardt) des Verhältnisses von Religion und Moderne ein historisch aufgeklärtes Reflexionswissen entgegenzusetzen. Dazu gehört aber auch die theoretische Distanznahme von allzu einfachen Vorstellungen von dem, was „Religion“ überhaupt sei.


Was ist Religion? Schwierigkeiten der Definition

„Eine Definition dessen, was Religion ‚ist’, kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schlusse einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen.“ Mit diesen Worten beginnt Max Weber seine Untersuchung der religiösen Gemeinschaften in „Wirtschaft und Gesellschaft“.[4] Sein Interesse als Soziologe zielte nicht auf das „Wesen“ der Religion an sich, sondern auf die Typen religiös motivierten Gemeinschaftshandelns und dessen Auswirkungen auf die Lebensführung des Einzelnen sowie die Gesellschaft als Ganzes. Dies unterscheidet den Ansatz der sozial- und kulturwissenschaftlichen Religionsforschung von der Religionsphilosophie und Theologie. Während diese auf den Wesenskern der Religion – etwa die allgemeine Transzendenzoffenheit des Menschen oder den dogmatischen Glaubenskern der göttlichen Offenbarung – ausgerichtet sind, fragt die sozial- und kulturwissenschaftlich orientierte religionsgeschichtliche Forschung nach den Auswirkungen religiöser Überzeugungen in der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit im Diesseits. Denn, wie Webers Freund und Zeitgenosse Ernst Troeltsch treffend formuliert hat: „Das ‚Rein-Religiöse’ existiert nur für den Theoretiker und für wenige tief innerlich empfindende Seelen. Auf dem Markt des Lebens gibt es kein Interesse, das nicht durch Verkoppelung mit der Religion geschützt und gestärkt würde, und wenig Religionshaß, der nicht in der Religion eigentlich andre, von ihr wirklich oder angeblich geschützte Dinge haßte.“[5]

Religion gibt es also nie an sich, sondern immer nur im Plural ihrer konkreten empirischen Ausprägungen. Das gilt auch für die Religionsgeschichte als wissenschaftliche Praxis: Betrieben wird sie zumeist als Erforschung konkreter Glaubensgemeinschaften, seien es die großen Erlösungsreligionen – Judentum, Christentum, Islam – oder deren einzelne Fraktionen in Form bekenntnisdistinkter Konfessionen (Protestanten, Katholiken etc.) oder partikularer Denominationen (wie beispielsweise Freikirchen), ganz zu schweigen von anderen „Weltreligionen“ (Hinduismus, Buddhismus) bis hin zu kleinsten Ethno-Religionen und psychodelischen New Age-Gruppen. Die Grenzen dessen, was noch sinnvoll als „Religion“ bezeichnet werden kann, sind dabei fließend. Religiöse Semantiken werden häufig auf Bereiche ausgedehnt, die auf den ersten Blick mit dem Alltagsverständnis von Religion wenig gemein haben, etwa wenn große Sportveranstaltungen gleichsam religiöse Ekstase erzeugen („Turek, du bist ein Fußballgott!“)[6] oder die Begeisterung für Popstars Formen von Heiligenverehrung annimmt.[7]

Eine wissenschaftliche Herangehensweise an Phänomene der Religion wird gleichwohl nicht umhinkönnen, den Untersuchungsgegenstand genauer einzugrenzen und zumindest annäherungsweise anzugeben, was im forschenden Zugriff unter „Religion“ jeweils verstanden wird.[8] Im Prozess der religionswissenschaftlichen Theoriebildung haben sich im Wesentlichen zwei Ansätze herausgebildet, die bis heute die Diskussion um den Religionsbegriff prägen:[9] Zum einen ist dies der substanzialistische Ansatz, der versucht, Religion von ihrer Substanz, ihrem Wesen, ihrem eigentlichen inhaltlichen Kern, her zu bestimmen. Das Wesen der Religion wird dann wahlweise als das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ (Friedrich Schleiermacher), als die Begegnung mit dem „Numinosen“ (Rudolf Otto) oder als die Erfahrungsdimension der (Selbst-)Transzendenz (Thomas Luckmann, Hans Joas) gefasst. Zum anderen hat sich ein funktionaler Ansatz herausgebildet, der Religion von ihrem Zweck für das Leben der Menschen und der Gesellschaft her bestimmt. Religion wird dann definiert als Kompensation gesellschaftlicher Unterdrückungserfahrung (Karl Marx), als Sakralisierung der zentralen Normen der Gesellschaft (Émile Durkheim) oder als Form der Kontingenzbewältigung, d.h. als Befriedung der kognitiven Verunsicherung, dass alles in der Welt auch ganz anders sein könnte, als es ist (Hermann Lübbe, Niklas Luhmann). Man wird kaum zu weit gehen, wenn man gerade in den negativen Erfahrungen der Kontingenz – Leid, Ungerechtigkeit, Unsicherheit, Tod – wichtige, anthropologisch gegebene Anstöße zur Ausbildung religiöser Deutungssysteme erblickt.[10]

Während der substanzialistische Definitionsansatz also darauf gerichtet ist, eine Wesensbestimmung der Religion hinter allen empirischen Gegebenheiten des religiösen Lebens auszumachen, fragt der funktionalistische Ansatz nach der Leistung der Religion für den Einzelnen oder die Gemeinschaft. Beide Deutungstraditionen haben die religionsgeschichtliche Forschung seit dem 19. Jahrhundert inspiriert und vorangebracht, gleichwohl sind sie – jede für sich betrachtet – nicht unproblematisch. So fällt bei den substanzialistischen Ansätzen der Religionsbegriff häufig zu eng aus, da dieser zumeist anhand einer einzigen religiösen Tradition gebildet worden ist.[11] Unter dem Einfluss der post-colonial studies ist daher der latente bis offene Eurozentrismus der meisten substanzialistischen Religionsbegriffe zu Recht kritisiert worden.[12] Gegen die funktionalistischen Ansätze spricht hingegen die Tatsache, dass sich die genannten Leistungen von Religion zumeist auch durch andere Anbieter erbringen lassen. So lässt sich Kontingenzbewältigung beispielsweise nicht nur durch Religion erzielen, sondern auch durch philosophische Weltanschauungen (z.B. Monismus, Darwinismus) oder ästhetische Sinnressourcen (z.B. Malerei, Musik).[13]

Während der substanzialistische Ansatz also häufig zu eng ausfällt, ist der funktionale gewissermaßen zu weit. Als Korrektiv empfiehlt es sich daher, beide Ansätze miteinander zu verbinden, um so zu einem sowohl präzisen als auch umfassenden Religionsbegriff zu gelangen, der als Gegenstandsbezeichnung dessen, was die Religionsgeschichte erforscht, dienen kann. In diesem Sinne plädiert beispielsweise der Religionssoziologe Detlef Pollack im Anschluss an Niklas Luhmann dafür, Religion in funktionaler Hinsicht als eine Form der Kontingenzbewältigung zu verstehen, deren Eigenart (substanziell) in einer besonderen Form von Kommunikation besteht. Diese zeichne sich dadurch aus, dass sie die Unterscheidung von Immanenz (Diesseits) und Transzendenz (Jenseits) artikuliere, und zwar so, dass Diesseitiges zum Medium des Transzendenten werde. Was damit gemeint ist, wird klar, wenn man sich das christliche Abendmahlverständnis vergegenwärtigt: Brot und Wein werden zu Medien der Gegenwart Gottes; in ihnen wird die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz für die Gläubigen erfahrbar. In diesem Sinne lassen sich viele Träger religiöser Kommunikation aufweisen: von bestimmten Gegenständen (geweihten Devotionalien, Nahrungsmitteln, Kleidung etc.) über rituelle Praktiken (Initiationsriten, Gesänge etc.) bis hin zu heiligen Texten (etwa dem Koran). Religion ereignet sich demnach immer dann, wenn mittels bestimmter Medien die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz erfahrbar wird und zugleich die Kontingenzproblematik des Menschen durch den Verweis auf eine überweltliche Verankerung des menschlichen Schicksals entschärft wird.[14]


Wallfahrt zum Grab des Rabbi Nathaniel Weil, Karlsruhe, 4. Mai 2011, Foto: Baden-Paul, Quelle: [https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wallfahrt_zum_Grab_des_Rabbi_Nathaniel_Weil2.JPG  Wikimedia Commons], Lizenz: [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en CC BY-SA 3.0]
Wallfahrt zum Grab des Rabbi Nathaniel Weil, Karlsruhe, 4. Mai 2011, Foto: Baden-Paul, Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0


Für Historikerinnen und Historiker hat dieser Religionsbegriff den Vorteil der Konkretion, die gerade darin besteht, dass das Religiöse nicht als frei flottierend verstanden wird, sondern als etwas, das konkreter, empirisch beschreibbarer Medien bedarf, um die Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz zu vermitteln.

Eine solchermaßen betriebene Religionsgeschichte würde dabei sowohl eine kritische Distanz zu den theologischen Selbstbeschreibungen der Religionsgemeinschaften wahren als auch deren Spezifizität beachten, die sie von anderen gesellschaftlichen Praktiken unterscheidet. Auf die Einbeziehung des jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontextes, in denen sich religiöse Kommunikation ereignet, wird die religionsgeschichtliche Forschung gleichwohl nicht verzichten können. Denn je nach Organisationsgrad und politischem Umfeld – auch das wussten schon Weber und Troeltsch[15] – können sich die Formen religiöser Kommunikation zum Teil erheblich unterscheiden: In einer bürokratischen „Gnadenanstalt“ (Max Weber) wie der katholischen Kirche wird jedenfalls anderes und anders kommuniziert als in einer evangelikalen Freikirche in den USA, in einem Staats-Kirchensystem, das umfassende Religionsfreiheit gewährt, anders als in einem System, das religiöse Minderheiten verfolgt. Zumindest in der Moderne leben Religionen nie aus sich heraus, sondern immer in Kontakt und Austausch mit einer Umwelt, die selbst wiederum religiös sein kann, aber nicht sein muss.


Religion in der Beschreibung der Geschichtswissenschaft

Historikerinnen und Historiker, die über religiöse Phänomene schreiben, tun dies zumeist, ohne zuvor größere Überlegungen zur Gegenstandsdefinition angestellt zu haben. Häufig behandeln sie religiöse Gruppen, Praktiken und Organisationen wie nicht-religiöse Gruppen, Praktiken und Organisationen. Methodisch hat diese Herangehensweise den Vorteil, sich nicht von einem abstrakten Definitionsschema einzwängen zu lassen, sondern den Phänomenen, mit denen man sich beschäftigt, möglichst unmittelbar auf die „Spur“ zu kommen. Auch Religionsgeschichte wird gemeinhin nach dem „Indizienparadigma“ betrieben, d.h. die verbliebenen Quellen werden zu einem möglichst stimmigen Bild zusammengesetzt, und zwar unabhängig davon, ob größere religionssoziologische und -theoretische Zusammenhänge so eine Bestätigung erfahren oder nicht.[16] Gerade dadurch erweist sich die geschichtswissenschaftliche Religionsforschung als ein wichtiges Korrektiv gegenüber allzu groben Vorstellungen des religionsgeschichtlichen Verlaufs.

Im Grunde gibt es Religionsgeschichtsschreibung, seitdem es Historiografie als eigenständiges Genre überhaupt gibt. Im Bereich der antiken und mittelalterlichen Geschichtsschreibung wurden religionsgeschichtliche Phänomene zumeist im Rahmen übergeordneter epochaler oder ethnografischer Darstellungen mitbehandelt. Für christliche Autoren stand dabei eine heilsgeschichtliche Perspektive im Vordergrund, die zum Teil unmittelbar aus den biblischen Schriften gewonnen wurde. Der Kontakt mit der außereuropäischen Welt sowie die Entstehung der historisch-kritischen Textexegese machten jedoch schon im späten 17. Jahrhundert deutlich, dass die biblische Überlieferung als narrative Matrix der religionsgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit nicht mehr überzeugen konnte. Im 18. Jahrhundert vermehrten sich daher die Versuche, die Religionsgeschichte vor dem Hintergrund der allgemeinen Geschichte der Zivilisationen und Kulturen zu sehen.[17]

Die europäische Religionsgeschichte wurde gleichwohl auch weiterhin zu großen Teilen aus der Perspektive konfessioneller Apologetik geschrieben. Demgegenüber profitierte die Auseinandersetzung mit den nichtchristlichen Religionen wesentlich stärker vom wissenschaftlichen Fortschritt, insbesondere unter Zuhilfenahme neuerer philologischer Methoden. So setzte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die systematische und vergleichende religionsgeschichtliche Erforschung der östlichen Religionen ein, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Platz unter den akademischen Disziplinen erkämpfte, so beispielsweise in Oxford, wo Friedrich Max Müller seine Studien zur „Vergleichenden Mythologie“ betrieb, während sein Fakultätskollege Edward Burnett Tylor das Augenmerk auf die religiösen Formen der sogenannten „primitiven Kultur“ an den Rändern der kolonialisierten Welt richtete. Die philologische und ethnografische religionsgeschichtliche Forschung zu den außerchristlichen Religionen entwickelte sich damit immer mehr zur vergleichenden Religionswissenschaft, sodass history of religion im englischsprachigen Raum noch heute als Synonym für religious studies Verwendung findet.[18]

Vertreter der Geschichtswissenschaft im engeren Sinne waren an diesem Zweig der religionsgeschichtlichen Forschung, die vor allem von Theologen, Philologen sowie später Ethnologen betrieben wurde, kaum beteiligt.[19] Zwar gab es immer wieder Ausnahmegestalten wie den französischen Althistoriker Fustel de Coulanges, der bereits vor Durkheim auf die Bedeutung religiöser Vorstellungen für den Aufbau und die Stabilität politisch-rechtlicher Institutionen hingewiesen hatte, oder den Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, für den die Religion neben dem Staat und der Kultur eine der drei großen „weltgeschichtlichen Potenzen“ darstellte.[20] Die allgemeine Geschichtswissenschaft hat sich mit der Erforschung der religiösen Traditionen Europas hingegen kaum beschäftigt. Selbst im 20. Jahrhundert blieb ein Historiker wie Franz Schnabel, der in seiner monumentalen Darstellung der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen ganzen Band den „religiösen Kräften“ widmete, in der deutschen Geschichtswissenschaft eine Ausnahmeerscheinung.[21]

Die Beschäftigung mit der Geschichte des Christentums überließ man der theologischen Kirchengeschichtsschreibung, die je nach konfessionellem Standpunkt die profane Geschichte der eigenen religiösen Institutionen mit der theologisch-heilsgeschichtlichen Bedeutung derselben zu vermitteln versuchte.[22] Selbst nach der Verabschiedung des „heilsgeschichtlichen Paradigmas“ im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts blieb die Erforschung des europäischen Christentums ein Unternehmen, das bis heute im Wesentlichen von den an den theologischen Fakultäten beheimateten kirchengeschichtlichen Lehrstühlen betrieben wird.

Allerdings stieg auch unter den Allgemeinhistorikern seit der frühen Bundesrepublik das Interesse an Fragen der Religion. Dies gilt insbesondere für die Zeitgeschichte, da die Präsenz der Kirchen in der westdeutschen Gesellschaft der ersten Nachkriegsjahrzehnte nicht zu übersehen war, ganz zu schweigen von den öffentlichen Debatten um die Rolle der Kirchen während des Nationalsozialismus.[23] So kam es bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren zu einer durchaus produktiven und bis heute anhaltenden Zusammenarbeit von Kirchenhistorikern im engeren Sinne und allgemeiner Geschichtswissenschaft, insbesondere im Hinblick auf die jüngere Vergangenheit: Auf evangelischer Seite wurde 1955 eine „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit“ eingesetzt, aus der die bis heute bestehende „Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte“ hervorgegangen ist, auf katholischer Seite folgte 1962 die Gründung der „Kommission für Zeitgeschichte“, damals noch bei der Katholischen Akademie in München angesiedelt.[24]

So fruchtbar sich diese Zusammenarbeit im Einzelnen – etwa im Hinblick auf langfristige Editionsvorhaben – erwiesen und dazu beigetragen hat, die Barrieren zwischen allgemeiner Geschichte und Kirchengeschichte abzutragen, so ist doch zu bedauern, dass in Deutschland sowohl die Forschung als auch die Forschungsorganisation weiterhin konfessionsspezifisch strukturiert sind und eine konfessionsübergreifende zeithistorische Religionsforschung sich erst langsam abzuzeichnen beginnt.[25] Das Potenzial vergleichender und transfergeschichtlicher Forschung[26] bleibt dabei weithin auf der Strecke, und die „shared history“ der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften (christliche Konfessionen, Judentum, Islam) gegenüber den Herausforderungen einer im 19. und 20. Jahrhundert sich zunehmend von der Religion abkoppelnden Umwelt wird zu selten gesehen.[27]

Die im Wesentlichen monokonfessionell ausgerichtete religionsgeschichtliche Arbeitsweise deutscher Historikerinnen und Historiker ist dabei selbst das Produkt einer historisch weit zurückreichenden Grundstruktur der deutschen Geschichte: Gemeint ist die Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts und die daran anschließende Ausbildung gesellschaftlich-kulturell distinkter Konfessionskulturen. Auf die fundamentale Bedeutung dieses Vorgangs für die neuere deutsche und europäische Geschichte hatte bereits Ende der 1950er Jahre Ernst Walter Zeeden hingewiesen; im Anschluss daran entwickelten Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling unabhängig voneinander seit Ende der 1970er-Jahre das epochenspezifische Konzept der „Konfessionalisierung“ bzw. des „Konfessionellen Zeitalters“. Demnach griff die Ausdifferenzierung der drei Bekenntnisgruppen (Katholiken, Lutheraner, Reformierte) zu eigenständigen und voneinander abgegrenzten Konfessionen weit auf die politischen, die kulturellen und die gesellschaftlichen Strukturen der Frühen Neuzeit aus. Insbesondere die Herausbildung des frühmodernen Flächenstaats und seine politische Stabilität verdankten sich in ihren Augen in hohem Maße der Herstellung konfessionshomogener Räume mit ihren je eigenen Formen kirchlich-religiöser Sozialdisziplinierung.[28]

Etwa zeitgleich zur Ausbildung der frühneuzeitlichen Konfessionalisierungsforschung konnten sozialhistorische Untersuchungen zur Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts zeigen, wie stark die alten religiösen Identitäten und cleavages aus dem „Konfessionellen Zeitalter“ den Übergang in die Moderne mitbestimmten. Hier war es insbesondere Wolfgang Schieder, der entgegen der allgemeinen Marginalisierung kultur- und religionsgeschichtlicher Phänomene in der „Historischen Sozialwissenschaft“ Bielefelder Prägung bereits Mitte der 1970er-Jahre auf die sozialgeschichtliche Bedeutung des Faktors Religion hinwies, auch wenn er diesem auf der angelegten modernisierungstheoretischen Messlatte (zunächst) nur das Prädikat reaktionärer Fortschrittshemmung attestieren konnte.[29] Auch für Hans-Ulrich Wehler war Religion vor allem eins: eine systemstabilisierende „Legitimationsideologie“;[30] während religionssensiblere Sozialhistoriker wie beispielsweise Richard van Dülmen oder Josef Mooser einige Jahre später zu einem sehr viel differenzierteren Bild von Religion gelangten und sie nicht nur als ein restaurativ-traditionales Relikt abtaten.[31]

Wie auch immer die modernisierungstheoretisch veranschlagte Leistung der christlichen Konfessionen im Einzelnen bewertet wurde, an ihrer sozial- und politikgeschichtlichen Bedeutung für die deutsche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts konnte auch während der Hochphase der sozialgeschichtlichen Forschung in der Bundesrepublik nicht gezweifelt werden, zumal der Soziologe M. Rainer Lepsius bereits Mitte der 1960er-Jahre in einer späterhin breit rezipierten Untersuchung zum deutschen Parteiensystem auf die zentrale Rolle der Konfession für die Ausbildung stabiler politischer Lager zwischen Kaiserreich und Ende der Weimarer Republik aufmerksam gemacht hatte.[32] Diese jeweiligen Lager – Lepsius unterschied ein katholisches, ein liberal-protestantisches, ein konservativ-protestantisches und ein sozialistisches – bezeichnete er als „sozialmoralische Milieus“, da ihm dieser Ausdruck angemessener erschien als ein allein an der wirtschaftlichen Lage ausgerichteter Klassen- oder Schichtungsbegriff.[33]

Lepsius’ Ansatz, der konfessionellen Identität neben wirtschaftlichen und politischen Interessen einen wichtigen Einfluss auf die Ausbildung fester politisch-weltanschaulicher Lager zuzuschreiben, beeinflusste, wenn auch erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung, insbesondere die neuere sozialgeschichtliche Katholizismusforschung.[34] In der Tat schien der deutsche Katholizismus mit seiner engen Organisationsdichte, seinem standardisierten ultramontanen Frömmigkeitsstil und seiner politischen Vertretung durch die Zentrumspartei dem Milieubegriff deutlicher zu entsprechen als der Protestantismus, dessen Spaltung in einen liberalen und einen konservativen Flügel die Ausbildung eines konfessionshomogenen sozialmoralischen Milieus erschwerte.[35] Über die grundsätzliche Bedeutung konfessioneller Identitäten und Abgrenzungen für die Gesellschaftsgeschichte zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik herrscht heute gleichwohl Übereinstimmung, auch wenn nicht alle soweit gehen wie Olaf Blaschke, der in Analogie zur frühneuzeitlichen Konfessionalisierungsthese im Hinblick auf die Zeitspanne vom 19. Jahrhundert bis in die 1960er-Jahre sogar von einem „zweiten konfessionellen Zeitalter“ spricht.[36]

Die sozialgeschichtliche Erforschung der neueren deutschen Religionsgeschichte erfolgte dabei zumeist in einer funktionalistischen Perspektive. Für die Konfessionalisierungshistoriker stand die Leistung der Religion für die Ausbildung des modernen Territorialstaats im Mittelpunkt des Interesses, für die sozialhistorische Erforschung der Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts die Frage, inwiefern religiöse Kräfte den politisch-gesellschaftlichen Modernisierungsprozess dieses Jahrhunderts förderten oder aber hemmten.[37] Fragen nach dem religiösen „Eigensinn“, der Deutung der Welt im Modus religiöser Sprache, der Erweiterung der persönlichen und kollektiven Erfahrungsdimension durch neue Formen der Frömmigkeit, wurden hingegen kaum gestellt. Dies änderte sich im Grunde erst durch den cultural turn der 1990er-Jahre, mit dem die kulturellen Faktoren des gesellschaftlichen Wandels wieder stärker in den Mittelpunkt der historischen Betrachtungsweise rückten.[38]


Lieferwagen mit der Aufschrift „Jesus is coming“, Mexico City, 6. August 2010. Foto: Gabriel Saldana, Quelle: [https://www.flickr.com/photos/gabrielsaldana/4868191890/ Flickr], Lizenz: [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/ CC BY-SA 2.0]
Lieferwagen mit der Aufschrift „Jesus is coming“, Mexico City, 6. August 2010. Foto: Gabriel Saldana, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-SA 2.0


Allerdings lassen sich auch für den Bereich der neueren kulturgeschichtlichen Religionsforschung Impulse aufzeigen, die zeitlich weit vor der kulturalistischen Wende anzusiedeln sind. An erster Stelle sind hier die mentalitätsgeschichtlichen Arbeiten der französischen Annales-Schule zu nennen.[39] So hatten Historiker wie Jacques Le Goff oder Michel Vovelle mit ihren international rezipierten Werken zu den Religionskulturen des Mittelalters bzw. des vorrevolutionären Frankreichs gezeigt, welch große Bedeutung insbesondere den religiösen Mentalitäten für den historischen Wandel zukam:[40] Gerade die religiösen Vorstellungswelten bestimmten in der Vormoderne zu großen Teilen das outillage mental des Menschen, sein mentales Werkzeug, mit dem er an die Lösung seiner lebensweltlichen, sozialen und letztlich auch politischen Probleme ging.[41]

In der Bundesrepublik wurden seit den 1980er-Jahren – in Ansätzen allerdings auch schon früher[42] – die religionshistorischen Arbeiten der Annales-Schule von Vertretern sowohl der engeren kirchengeschichtlichen Forschung[43] als auch der allgemeinen sozial-und kulturgeschichtlichen Frühe-Neuzeit-Forschung[44] produktiv aufgegriffen und weiterentwickelt. Hinzukamen die Einflüsse der britischen Kulturgeschichtsschreibung, die sich seit E.P. Thompsons klassischer Studie zur populären Arbeiterkultur des frühen 19. Jahrhunderts auch der „widerspenstigen“ religiösen Vorstellungswelten von Unterschichten im Prozess der Modernisierung angenommen hatte.[45] In der deutschsprachigen Forschung wurden diese Aspekte und Ansätze seit den späten 1970er-Jahren in das ursprünglich aus der Volkskunde stammende Konzept der „Volksreligiosität“ eingebracht, um unter diesem Label die „Eigensinnigkeit“ der religiösen Praxis gegenüber den Deutungsansprüchen der geistlichen und politischen Elite herauszustellen.[46]

Aber auch im Hinblick auf die theologisch-bildungsbürgerlichen Deutungskulturen des 19. Jahrhunderts kam es vermehrt zu Bemühungen, die enge funktionalistische Blickrichtung der „Historischen Sozialwissenschaft“ zu überwinden, vor allem seitdem Thomas Nipperdey Ende der 1980er-Jahre im Zusammenhang mit der Arbeit an seiner „Deutschen Geschichte 1866-1918“ Religion „als ein Stück Deutungskultur“ ausgewiesen hatte, welche „das Verhalten der Menschen und ihren Lebenshorizont, ihre Lebensinterpretationen“ sowie „gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, ja auch die Politik“ bis ins 20. Jahrhundert hinein nachhaltig geprägt habe.[47] In diesem Sinne legten Lucian Hölscher, Gangolf Hübinger und andere wichtige Studien zur religiösen Deutungskultur bürgerlicher Schichten sowie zum Wandel religiöser Semantiken im Kaiserreich vor.[48] An die Stelle des sozialhistorischen Blicks auf die Stabilisierungsmechanismen konfessioneller (Teil-)Milieus traten damit Ansätze, die den Blick auf die Institutionen um eine Perspektive auf die subjektive Aneignung der Welt im Medium religiöser Sprache und Praxis erweiterten. Sowohl von kirchenhistorischer als auch von allgemein kulturgeschichtlicher Seite wurde dabei der Begriff der „Frömmigkeitskultur“ in Anschlag gebracht, um die Verschränkung von Erfahrung, Praxis und Semantik in dieser Hinsicht zum Ausdruck zu bringen.[49]

Im Mittelpunkt einer solchen kultur- und erfahrungsgeschichtlich orientierten Religionsgeschichte steht dann die Geschichte des „geglaubten Gottes“, nämlich die Geschichte seiner Aneignungsweisen, wie „er geglaubt, geliebt, gefürchtet, erlitten und zurückgewiesen wurde“,[50] oder, um es etwas weniger theozentrisch auszudrücken, die Geschichte des „gelebten Glaubens“,[51] sofern darunter die subjektiv-praktische Anverwandlung des jeweils vorhandenen religiösen Repertoires verstanden wird. Religion wird damit zu einem fluiden, von kirchlichen Strukturen losgelösten Untersuchungsgegenstand: „Denn was immer Menschen tun, was immer sie erleben, es kann dies im frommen Sinn geschehen: Ob sie arbeiten oder schlafen, ob sie Politik machen oder die Natur betrachten, immer kann dies als religiöse Handlung aufgefasst werden – ebensogut aber auch nicht. Deshalb gibt es keinen ihr eigenen Raum der Religion, keinen ihr eigenen Gegenstand.“[52]


Die Rückkehr der Religion? Oder: Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung

Lange Zeit herrschte in den sozialwissenschaftlichen Selbstbeschreibungen gegenwärtiger, am politisch-kulturellen Leitbild des „Westens“ orientierter Gesellschaften das Bild einer religionslosen Moderne vor: Der Glaube wurde als Gegensatz von Wissen, Rationalität und technischer Beherrschbarkeit der Welt gesehen, kurzum als ein Relikt aus unaufgeklärten Zeiten, das im Zuge der Modernisierung mehr oder weniger von selbst verschwinden würde.[53] Irritiert durch die iranische Revolution 1979 und die Bedeutung religiöser Identitäten in den jugoslawischen Teilungskriegen in den 1990er-Jahren, vollends schockiert aber durch die Anschläge vom 11. September 2001, verlor die säkulare Selbstgewissheit der westlichen Deutungseliten zu Beginn des 21. Jahrhunderts jedoch deutlich an Plausibilität.[54] Buchtitel wie „Die Rückkehr der Religionen“ oder „Die Wiederkehr der Götter“ eroberten zu Beginn der 2000er-Jahre den Buchmarkt, und so manche Zeitdiagnostiker setzten auf den Anbruch eines „postsäkularen“ Zeitalters oder sahen die sinnsuchenden Individuen der Moderne auf dem „Weg in die spirituelle Gesellschaft“.[55]


Bus mit der Aufschrift „There's probably no god. Now stop worrying and enjoy your life“ im Rahmen der „Atheist Bus Campaign“, eine im Oktober 2008 von der britischen Journalistin Ariane Sherine initiierte Werbekampagne, die über Aufschriften auf Bussen die Grundhaltung des Atheismus propagiert. Die Aktion für ein Leben ohne Religion wurde als Antwort auf eine Werbekampagne evangelikaler Gruppen konzipiert. London, 26. Januar 2009.  Foto: Ismael Celis, Quelle: [https://www.flickr.com/photos/ismasan/3232037394/ Flickr], Lizenz: [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/ CC BY-NC-ND 2.0]
Bus mit der Aufschrift „There's probably no god. Now stop worrying and enjoy your life“ im Rahmen der „Atheist Bus Campaign“, eine im Oktober 2008 von der britischen Journalistin Ariane Sherine initiierte Werbekampagne, die über Aufschriften auf Bussen die Grundhaltung des Atheismus propagiert. Die Aktion für ein Leben ohne Religion wurde als Antwort auf eine Werbekampagne evangelikaler Gruppen konzipiert. London, 26. Januar 2009. Foto: Ismael Celis, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0


Inzwischen ist die Gretchenfrage – „Wie hast Du’s mit der Religion?“ –, die seit der Jahrhundertwende auch in der Geschichtswissenschaft zu einer „Rückkehr der Religion“ als Forschungsgegenstand geführt hatte,[56] allerdings wieder etwas in den Hintergrund aktueller Debatten getreten, sodass der Blick frei wird für die langfristigen Transformationsprozesse der Religiosität in Europa. Der Befund ist ziemlich eindeutig: Seit der religious crisis der 1960er-Jahre verlieren die Kirchen in Europa stetig an Mitgliedern und Gottesdienstbesuchern; zwar machen sich durchaus neue Formen außerkirchlicher, „vagierender“ Religiosität bemerkbar,[57] doch können diese den Einbruch an Kirchenmitgliedern quantitativ nicht ersetzen.[58] Säkularisierung ist insofern kein moderner „Mythos“, sondern ein langfristiger struktureller Transformationsprozess, der zumindest den Anbruch des 21. Jahrhunderts in Europa überdauert hat.[59]

Die Frage bleibt allerdings, was genau unter „Säkularisierung“ verstanden wird. Im Alltagsverständnis wird der Begriff zumeist mit „Entkirchlichung“ im Sinne eines Mitgliederschwunds organisierter Religionsgemeinschaften gleichgesetzt oder grundsätzlich als „Abnahme“ religiöser Bindungen und Praktiken verstanden. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion wird Säkularisierung dann zumeist dahingehend interpretiert, dass sich im Befund der „Entkirchlichung“ langfristige Wandlungsprozesse der modernen Gesellschaft im Sinne funktionaler Differenzierung, Privatisierung und Individualisierung manifestieren.[60]

Die zeitgeschichtliche Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte hat diesen Befund zugleich bestätigt als auch differenziert:[61] Oberhalb der langfristig wahrnehmbaren Säkularisierungsprozesse finden sich immer wieder Phasen und Momente, in denen Religion und Konfessionalität weit in den allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Raum ausgriffen und auch öffentlich intensiv debattiert wurden. Dies gilt nicht nur für die kurze Welle der Rechristianisierungshoffnung nach 1945,[62] sondern auch für die Reformjahre um 1968[63] oder für die friedliche Revolution in der DDR, die von manchen gar – sei es zu Recht oder zu Unrecht – als eine „protestantische Revolution“ interpretiert wurde.[64] Allerdings konnten die kirchenverbundenen Milieus nach 1945 nicht mehr im gleichen Maße Distanz zu den allgemeinen gesellschaftlichen Transformationsprozessen halten, wie dies im 19. und im frühen 20. Jahrhundert noch tendenziell der Fall gewesen war. Ein solcher Prozess, der auch an den Kirchen in Westdeutschland nicht vorbeiging, ist beispielsweise die zunehmende Medialisierung der Gesellschaft, die in den letzten Jahrzehnten immer neue und immer weniger kontrollierbare Formate der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung generiert hat. Blieben die Kirchen in der frühen Bundesrepublik vom kritischen Medienzugriff noch weitgehend verschont, so zeigen nicht erst die Skandale innerhalb der katholischen Kirche während der letzten Jahre, dass Religionsgemeinschaften mittlerweile vom massenmedialen Journalismus genauso kritisch beäugt werden wie andere gesellschaftliche Großgruppen.[65] Ebenso ist die zunehmende „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) an den Kirchen nicht spurlos vorbeigegangen, sondern hat erheblich zu ihrem Transformationsprozess während der letzten Jahrzehnte beigetragen,[66] ganz zu schweigen vom allgemeinen gesellschaftlichen „Wertewandel“ seit den 1960er-Jahren, der nicht zuletzt auch zur Erosion religiöser Autoritäten, vor allem in den Bereichen der persönlichen Lebensführung, der Familie und Sexualität geführt hat.[67]

Gleichwohl wäre es zu einfach, „Säkularisierung“ lediglich als Abnahme und Verlust von Kirchlichkeit zu verstehen, auch wenn im gegenwärtigen Sprachgebrauch dieses Verständnis überwiegt. Begriffsgeschichtlich lässt sich vom frühen 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein wesentlich komplexerer Begriffsgehalt ausmachen, an dem auch die heutige religionsgeschichtliche Forschung sinnvoll anknüpfen könnte. Denn von Hegel über Max Weber bis hin zu Karl Löwith bedeutete „Säkularisierung“ vor allem eins: die „Verweltlichung“ von Religion im Sinne ihrer Wirkungen auf außerreligiöse Sachbereiche wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft etc.[68] Nach diesem Verständnis meint „Säkularisierung“ also nicht so sehr den Schwund von Religion, sondern vielmehr den Prozess der Veräußerung oder der Transformation religiöser Phänomene in gesellschaftliche Handlungsfelder, die auf den ersten Blick außerhalb der Religion zu liegen scheinen. Ob manifeste Formen von Religiosität vorliegen oder nicht, ist dann nicht mehr die entscheidende Frage, sondern wie Religion gewirkt hat, oder, um es mit Max Weber zu sagen: „[...] der Effekt im Handeln ist es, der uns angeht“.[69] In historischer Perspektive erscheint eine solche Sicht auf Säkularisierung – sofern man sie ihres geschichtsphilosophischen Erbes befreit[70] – in vielerlei Hinsicht anregender als das repetitive Konstatieren von Abnahmeprozessen religiöser Bindung. Dazu nur zwei Beispiele:

Kluge Zeitgenossen haben bereits in den 1930er-Jahren auf die Eigenart totalitärer Bewegungen hingewiesen, sich religiöse Praktiken und Symbolsprachen anzueignen.[71] Seitdem haben sich zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zum Ziel gesetzt, die Bauprinzipien moderner „politischer Religionen“ zu untersuchen.[72] Zwar lässt sich der Nationalsozialismus sicherlich nicht auf die Funktion einer Ersatzreligion reduzieren, auf der anderen Seite gilt jedoch, dass insbesondere die Schauseite des Regimes aus einem Fundus an Traditionen sakraler Herrschaftslegitimation schöpfte, die weit in die europäische Religionsgeschichte zurückreichen.[73] Auch waren die Trennlinien zwischen NS-Gläubigen auf der einen Seite und kirchenverbundenen Christen auf der anderen Seite gerade in den Anfangsmonaten und Jahren des Regimes keineswegs so klar gezogen, wie es in der Rückschau erscheinen mag.[74] Aber auch in den liberalen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts war die politische Kultur keineswegs so säkularisiert, wie man vermuten möchte. Religiöse Elemente der Herrschaftslegitimation und -inszenierung finden sich auch hier. Insbesondere für die US-amerikanische Geschichte ist die Bedeutung „zivilreligiöser“ Elemente – religiöse Metaphern, biblische Narrative, die Rede von God’s own country – herausgearbeitet worden, und auch in der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik lassen sich, wenn auch nicht in gleichem Maße wie in den USA, immer wieder zivilreligiöse Anklänge vernehmen.[75]


Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg 1937 auf der von Scheinwerfern bestrahlten Zeppelinwiese in Nürnberg: „Großer Appell der Politischen Leiter“. Fotograf: unbekannt, Quelle: National Archives and Records Administration / [https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Reichsparteitag._Der_grosse_Appell_der_Politischen_Leiter_auf_der_von_Scheinwerfern_berstrahlten_Zeppelinwiese_in..._-_NARA_-_532605.tif  Wikimedia Commons], Lizenz: public domain
Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg 1937 auf der von Scheinwerfern bestrahlten Zeppelinwiese in Nürnberg: „Großer Appell der Politischen Leiter“. Fotograf: unbekannt, Quelle: National Archives and Records Administration / Wikimedia Commons, Lizenz: public domain



Aber auch außerhalb der politischen Sphäre im engeren Sinne sind Wirkungen religiöser Kulturrepertoires selbst dann noch anzutreffen, wenn sich der Zeitgeist längst vom konventionellen Kirchenchristentum entfernt hat. So lässt sich beispielsweise feststellen, dass der Niedergang der Beicht- und Bußpraxis in den 1970er-Jahren mit einer gesteigerten Nachfrage nach Psychotherapie und anderen Formen außerreligiöser „Seelsorge“ einherging.[76] Ebenso lassen sich in heutigen Managerhandbüchern, sozialpädagogischen Programmen und Ratgebern allgemeiner Selbstoptimierungstechniken Spuren dessen erkennen, was Michel Foucault als Elemente christlicher „Pastoralmacht“ und Menschenführung ausgemacht hat.[77] Gerade die Entstehung und Transformation (post-)moderner Subjektivität lassen sich ohne eine religionsgeschichtliche Vergewisserung jedenfalls kaum angemessen verstehen.

Im Sinne einer „Religionswirkungsforschung“ werden die Gegenstände religionshistorischer Untersuchungen also auch in Zeiten der „Entkirchlichung“ kaum weniger, sofern man bereit ist, die Engführung des Säkularisierungsbegriffs auf das „Abnahme“-Theorem zu überwinden und stärker nach dem Austausch und den Transferprozessen zwischen der Religion und ihrer Umwelt zu fragen. Eine Religionsgeschichte, die diesem Anspruch genügen will, wird allerdings die monoperspektivische Ausrichtung auf eine Konfession bzw. eine Religion überwinden und sich zugleich in transnationaler Perspektive erweitern müssen.[78] An die Stelle der alten katholisch-protestantischen Bi-Konfessionalität bzw. – unter Einschluss des Judentums – der Tri-Konfessionalität müssen mit dem Islam und der wachsenden Zahl der Konfessionslosen neue Teilmilieus in die religionsgeschichtliche Untersuchung einbezogen werden, die bislang zu wenig Aufmerksamkeit gefunden haben.[79]

Eine solche multiperspektivische Religionsgeschichtsschreibung wird von einzelnen Forscherpersönlichkeiten allerdings kaum mehr zu leisten sein, umso wichtiger erscheint gerade auf diesem Gebiet das wissenschaftliche Teamwork. Die Zukunft der religionsgeschichtlichen Forschung wird insofern auch davon abhängen, inwieweit sich Formen kooperativer Arbeit auf diesem Gebiet (weiter-)entwickeln und wissenschaftsorganisatorisch abgestützt werden.[80] Religion bleibt jedenfalls auch in säkularisierten Gesellschaften ein wichtiger Gegenstand der historischen Forschung, den Historikerinnen und Historiker nicht leichtfertig aus ihrem Gegenstandsbereich ausklammern sollten.



Empfohlene Literatur zum Thema

Graf, Friedrich Wilhelm, Die Wiederkehr der Götter: Religion in der modernen Kultur, München 2004: C.H. Beck 
Grossbölting, Thomas, Der verlorene Himmel: Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht 
McLeod, Hugh, The religious crisis of the 1960s, Oxford ; New York 2007: Oxford University Press 
Pollack, Detlef / Rosta, Gergely, Religion in der Moderne: ein internationaler Vergleich, Frankfurt 2015: Campus Verlag 
Ziemann, Benjamin, Sozialgeschichte der Religion: von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2009: Campus Verlag 
Zitation
Klaus Große Kracht, Religionsgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 26.4.2018, URL: http://docupedia.de/zg/Grosse_Kracht_religionsgeschichte_v1_de_2018

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Anmerkungen

    1. Sabine Berghahn/Petra Rostock (Hrsg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld 2009; Matthias Koenig/Jean-Paul Willaime (Hrsg.), Religionskontroversen in Frankreich und Deutschland, Hamburg 2008.
    2. Stefan Orth/Volker Resing (Hrsg.), AfD, Pegida und Co. – Angriff auf die Religion?, Freiburg 2017.
    3. Thomas Großbölting, Religionsgeschichte als „Problemgeschichte der Gegenwart“. Ein Vorschlag zu künftigen Perspektiven der Katholizismusforschung, in: Wilhelm Damberg/Karl-Joseph Hummel (Hrsg.), Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart, Paderborn 2015, S. 169-185; Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 98-127.
    4. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften (= Studienausgabe der Max-Weber-Gesamtausgabe, Bd. I/22-2), hrsg. v. Hans G. Kippenberg, Tübingen 2005, S. 1.
    5. Ernst Troeltsch, Religion, in: David Sarason (Hrsg.), Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, Leipzig/Berlin 1913, S. 533-549, hier S. 534.
    6. So der berühmte Ausruf des Sportreporters Herbert Zimmermann angesichts des „Wunders von Bern“, als der Torhüter der deutschen Nationalmannschaft Toni Turek beim Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 1954 durch seine Paraden einen Ausgleichstreffer der Ungarn vereitelte. Zum Themenkomplex Sport und Religion siehe: Eric Bain-Selbo/D. Gregory Sapp, Understanding Sport as a Religious Phenomenon. An Introduction, London u.a. 2016.
    7. So ist beispielsweise das Grab des früh verstorbenen Doors-Frontmannes Jim Morrison auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise zu einer regelrechten Wallfahrtsstätte seiner Sinn und Weltschmerz suchenden Fans weltweit geworden. Zur religiösen Dimension von Popmusik siehe auch: Brigitte Dorner, „U2 ist ihre Religion, Bono ihr Gott. Zur theologischen Relevanz der Rock- und Popmusik am Beispiel von U2, Marburg 2007.
    8. Siehe Martin Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007, S. 36ff.
    9. Siehe Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte der Religion, Frankfurt a.M. 2009, S. 28-30.
    10. Für eine erste Orientierung im Dickicht der verschiedenen Definitionsversuche von Religion empfiehlt es sich, auf folgende Kompendien und Quellensammlungen zurückzugreifen: Karl Gabriel/Hans-Richard Reuter (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie, Paderborn 2004; Volker Drehsen/Wilhelm Gräb/Birgit Weyel (Hrsg.), Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005; Jens Schlieter (Hrsg.), Was ist Religion? Texte von Cicero bis Luhmann, Stuttgart 2010.
    11. Die moderne Religionswissenschaft speist sich im Wesentlichen aus den philologischen Wissenschaften sowie der protestantischen Theologie; vgl. Hans G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997. Aufgrund des lehramtlich verordneten Antimodernismus hatten katholische Theologen hingegen mit erheblichen innerkirchlichen Schwierigkeiten zu rechnen, wenn sie sich an den überkonfessionellen Debatten um den Religionsbegriff beteiligen wollten, siehe: Claus Arnold, Kleine Geschichte des Modernismus, Freiburg 2007.
    12. Talal Asad, Genealogies of Religion: Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore 1993; Richard King, Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and „The Mystic East”, London 1999; Tomoko Masuzawa, The Invention of World Religions. Or, How European Universalism was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago/London 2005.
    13. So haben europäische Intellektuelle seit der Romantik immer wieder mit Formen von Kunstreligionen experimentiert; siehe dazu Wolfgang Eßbach, Religionssoziologie 1: Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, Paderborn 2014, S. 453-498.
    14. Siehe Detlef Pollack, Was ist Religion? Versuch einer Definition, in: ders., Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2003, S. 28-55; ders./Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a.M. 2015, S. 25-73.
    15. Max Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 9. Aufl., Tübingen 1988, S. 207-236; Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Neudruck der Ausgabe Tübingen 1912 in 2 Taschenbuchbänden), Tübingen 1994.
    16. Zum „Indizienparadigma“ siehe Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1995.
    17. Bernhard Maier, Religionsgeschichte (Disziplin), in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28, Berlin/New York 1997, S. 576-585; Friedrich Wilhelm Graf/Astrid Reuter, Religion, History of, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Bd. 19, Oxford 2001, S. 13071-13077.
    18. So heißt noch heute die wichtigste internationale Vereinigung für Religionswissenschaft „International Association for the History of Religions“ (http://www.iahr.dk). Zur Entstehung der Religionswissenschaft als akademische Disziplin siehe Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, dort auch zu Müller und Tylor (S. 60-98). Die Religionsgeschichte Europas wurde von der Religionswissenschaft demgegenüber lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich diese wieder stärker mit den religiösen Traditionen Europas beschäftigt; siehe: Hans G. Kippenberg/Jörg Rüpke/Kocku von Stuckrad (Hrsg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, 2 Bde., Göttingen 2009; Helmut Zander, „Europäische“ Religionsgeschichte. Religiöse Zugehörigkeit durch Entscheidung – Konsequenzen im interkulturellen Vergleich, Berlin/Boston 2016; siehe hier auch die Ausführungen zur Disziplingeschichte (S. 23-38).
    19. Siehe Ziemann, Sozialgeschichte der Religion, S. 9-16.
    20. Numa Denis Fustel de Coulanges, Der antike Staat. Kult, Recht und Institutionen Griechenlands und Roms. Mit einer Einleitung von Karl Christ, Stuttgart 1981 (zuerst franz. 1864); Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ nach den Handschriften, hg. v. Peter Ganz, München 1982, S. 263ff.
    21. Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 4: Die religiösen Kräfte, Freiburg 1937. Das Gleiche gilt auch für den Dilthey-Schüler Bernhard Groethuysen und seine zweibändige Darstellung „Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich“ (1927/1930), die methodisch bereits auf die spätere religionshistorische Mentalitätsgeschichtsschreibung vorausweist; siehe dazu: Klaus Große Kracht, Zwischen Berlin und Paris: Bernhard Groethuysen (1880-1946). Eine intellektuelle Biographie, Tübingen 2002, S. 171-205.
    22. Siehe dazu: Helmut Zander, Geschichtswissenschaften und Religionsgeschichte. Systematische Überlegungen zur Deutungskonkurrenz zwischen allgemeiner Geschichte, Kirchengeschichte und Religionswissenschaft, in: Gregor Maria M. Hoff/Hans Waldenfels (Hrsg.), Die ethnologische Konstruktion des Christentums. Fremdperspektiven auf eine bekannte Religion, Stuttgart 2008, S. 23-43, hier S. 28-32; Andreas Holzem, Die Geschichte des „geglaubten Gottes“. Kirchengeschichte zwischen „Memoria“ und „Historie“, in: Andreas Leinhäupl-Wilke/Magnus Striet (Hrsg.), Katholische Theologie studieren: Themenfelder und Disziplinen, Münster u.a. 2000, S. 73-103, hier S. 77-81.
    23. Zur Rolle der Kirchen in der frühen Nachkriegszeit siehe hier exemplarisch: Kristian Buchna, Ein klerikales Jahrzehnt? Kirche, Konfession und Politik in der Bundesrepublik während der 1950er Jahre, Baden-Baden 2014; zu den öffentlichen Debatten im Hinblick auf die (katholische) Kirche im „Dritten Reich“: Mark Edward Ruff, The Battle for the Catholic Past in Germany 1945-1980, Cambridge 2017; sowie Christiane Kuller/Thomas Mittmann, „Kirchenkampf“ und „Societas perfecta“. Die christlichen Kirchen und ihre NS-Vergangenheit, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2014, http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/kirchenkampf-und-societas-perfecta.
    24. https://www.kirchliche-zeitgeschichte.info/; http://www.kfzg.de.
    25. Vor allem im Bereich der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung finden sich gleichwohl relativ früh bemerkenswerte Versuche einer interkonfessionellen Perspektiverweiterung, so etwa bei Klaus Scholder in seiner zweibändigen Darstellung „Die Kirchen und das Dritte Reich“ (1977, 1985), wobei allerdings auch diese konfessionell stark geprägt war, siehe dazu Mark Edward Ruff, Eine Streitschrift. Klaus Scholder und die Kirchen im „Dritten Reich“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), H. 3, http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2010/id=4664, Druckausgabe S. 479-483. Hervorzuheben ist zudem die interkonfessionelle, u.a. vom evangelischen Kirchenhistoriker Martin Greschat und dem Allgemeinhistoriker Anselm Doering-Manteuffel in den späten 1980er-Jahren gegründete Buchreihe „Konfession und Gesellschaft“, die sich die überkonfessionelle Erweiterung der neueren Religionsgeschichte explizit zum Programm gemacht hat. Das Gleiche gilt für die von Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger seit Mitte der 1990er-Jahre herausgegebene Reihe „Religiöse Kulturen der Moderne“ sowie für die von Lucian Hölscher etwa ein Jahrzehnt später initiierte Reihe „Geschichte der Religion in der Neuzeit“.
    26. Siehe dazu u.a. die Überlegungen von Thomas Mergel, Konfessionelle Grenzen und überkonfessionelle Gemeinsamkeiten im 19. Jahrhundert: Europäische Grundlinien, in: Monica Juneja/Margrit Pernau (Hrsg.), Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie, Göttingen 2008, S. 79-104, sowie Thies Schulze unter Mitarbeit von Christian Müller (Hrsg.), Grenzüberschreitende Religion. Vergleichs- und Kulturtransferstudien zur neuzeitlichen Geschichte, Göttingen 2013.
    27. Zum Konzept einer „shared history“ der Konfessionen siehe: Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, S. 30ff.; ders./Klaus Große Kracht, Einleitung: Religion und Gesellschaft im Europa des 20. Jahrhunderts, in: dies. (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2007, S. 1-45, hier S. 35ff.
    28. Helga Schnabel-Schüle, Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung – eine Standortbestimmung, in: Peer Frieß/Rolf Kießling (Hrsg.), Konfessionalisierung und Region, Konstanz 1999, S. 23-40; Harm Klueting, „Zweite Reformation“ – Konfessionsbildung – Konfessionalisierung. Zwanzig Jahre Kontroversen und Ergebnisse nach zwanzig Jahren, in: Historische Zeitschrift 277 (2003), S. 309-341; siehe auch Ziemann, Sozialgeschichte der Religion, S. 56-76.
    29. Wolfgang Schieder, Kirche und Revolution. Sozialgeschichtliche Aspekte der Trierer Wallfahrt von 1844; in: Archiv für Sozialgeschichte 14 (1974), S. 419-454; siehe dann später ders., Religionsgeschichte als Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (1977), S. 291-298. Zur sozialgeschichtlichen Religionsforschung seit den 1970er-Jahren siehe als rekonstruktiven Überblick: Monika Neugebauer-Wölk, Zur Konstituierung historischer Religionsforschung 1974 bis 2004 , in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 1, http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Einleitung/index_html.
    30. Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, 6. Aufl., Göttingen 1988 (zuerst 1973), S. 118. In den letzten Bänden seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ kommt Wehler allerdings zu einem differenzierteren Bild, etwa im Hinblick auf die Opferbilanz der katholischen Kirche während des „Dritten Reiches“, siehe Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 817.
    31. Richard van Dülmen, Religionsgeschichte in der Historischen Sozialforschung, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 36-59; Josef Mooser, Religion und sozialer Protest. Erweckungsbewegung und ländliche Unterschichten im Vormärz am Beispiel Minden-Ravensberg, in: Heinrich Volkmann/Jürgen Bergmann (Hrsg.), Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung, Opladen 1984, S. 304-324.
    32. M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft (1966), in: ders., Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 25-50, online unter http://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00044577_00001.html.
    33. Ebd., S. 37f. Den Begriff des Milieus entnahm Lepsius übrigens der Schrift des Linkskatholiken Carl Amery, der diesen zum Zwecke einer Kritik an den verkrusteten Strukturen seiner Kirche in Anschlag gebracht hatte (ebd.); siehe Carl Amery, Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute, Reinbek 1963.
    34. Michael Klöcker, Das katholische Milieu. Grundüberlegungen – in besonderer Hinsicht auf das Deutsche Kaiserreich von 1871, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 44 (1992), S. 241-262; Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte (AKKZG), Katholiken zwischen Tradition und Moderne. Das katholische Milieu als Forschungsaufgabe, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), S. 588-654; Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann (Hrsg.), Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996.
    35. Friedrich Wilhelm Graf, Die Spaltung des Protestantismus. Zum Verhältnis von evangelischer Kirche, Staat und „Gesellschaft“ im frühen 19. Jahrhundert, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 157-190. Allerdings lassen sich auch im Katholizismus Binnendifferenzierungen feststellen, die durch den Milieubegriff eher unkenntlich gemacht werden; siehe dazu: Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984 (hier kritisch zu Lepsius: S. 55f.); ders., Soziale Bewegungen im Katholizismus des Kaiserreichs, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 279-310.
    36. Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38-75; ders. (Hrsg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002; zur Kritik an diesem Konzept, mit weiterführender Literatur, siehe: Ziemann, Sozialgeschichte der Religion, S. 73ff.
    37. Prägnant weist Monika Neugebauer-Wölk auf ein schwerwiegendes Folgeproblem dieses Ansatzes mit Bezug auf Hans-Ulrich Wehler hin: „Der rein instrumentelle Charakter des Faktors ‚Religion’ für die ‚Deutsche Gesellschaftsgeschichte’ machte eine eigenständige und eingehende Theoriebildung auf diesem Felde entbehrlich“ (dies., Zur Konstituierung historischer Religionsforschung, 14).
    38. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns,Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.03.2010, http://docupedia.de/zg/bachmann_cultural_turns_v1_de_2010, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.324.v1.
    39. Peter Burke, Die Geschichte der „Annales“. Die Entstehung der neuen Geschichtsschreibung, Berlin 2004; Dominique Julia, La religion – Histoire religieuse, in: Jacques Le Goff/Pierre Nora (Hrsg.), Faire de l’histoire, vol. II: Nouvelles approches, Paris 1974, S. 184-224.
    40. Jacques Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers, Stuttgart 1984 (zuerst frz. 1981); Michel Vovelle, Piété baroque et déchristianisation en Provence au XVIIIe siècle, Paris 1973.
    41. Der Begriff outillage mental findet sich bereits bei Lucien Febvre in seiner Studie über die Glaubensvorstellungen Rabelais’ und seiner Zeit von 1942, siehe: Lucien Febvre, Le problème de l’incroyance au 16e siècle. La religion de Rabelais, Neuauflage Paris 1988, S. 141.
    42. Bemerkenswerterweise finden sich bereits bei Wolfgang Schieder in seiner Untersuchung über die Trierer Rockwallfahrt von Mitte der 1970er-Jahre Verweise auf das methodische Potenzial der französischen Mentalitätsgeschichte; siehe: Schieder, Kirche und Revolution, S. 446ff.
    43. Siehe etwa Arnold Angenendt, Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, Stuttgart 1990; ders., Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997.
    44. Eine gewisse Vorreiterrolle spielte hier ein Sammelband des Schweizer Historikers Kaspar von Greyerz aus dem Jahr 1984 mit dem Titel „Religion and Society in Early Modern Europe“, der Beiträge englischer, deutscher sowie französischer Historiker versammelte (siehe auch Neugebauer-Wölk, Zur Konstituierung historischer Religionsforschung, 7ff.). Als Aufnahme und kritische Fortführung der Arbeiten Vovelles siehe z.B. die Habilitationsschrift von Rudolf Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt: Köln, Aachen, Münster – 1700-1840, München 1995.
    45. Edward P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1987 (zuerst engl.: 1963) (siehe etwa das Kapitel: „Der Chiliasmus der Verzweiflung“, S. 404-431); Keith Thomas, Religion and the Decline of Magic: Studies in Popular Beliefs in Sixteenth and Seventeenth Century England, New York 1971.
    46. Richard van Dülmen, Volksfrömmigkeit und konfessionelles Christentum im 16. und 17. Jahrhundert, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 11), Göttingen 1986, S. 14-30; Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. III: Religion, Magie, Aufklärung, 16.-18. Jahrhundert, München 1994; zur zeitgenössischen Diskussion siehe neben dem bereits genannten, von Wolfgang Schieder herausgegebenen Sammelband: Jakob Baumgartner (Hrsg.), Wiederentdeckung der Volksreligiosität, Regensburg 1979.
    47. Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918, München 1988, S. 7. Bei dem Buch handelt es sich um eine Vorveröffentlichung der entsprechenden Kapitel aus Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Band I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990. Das methodisch Bedeutsame an Nipperdeys Darstellung der Religionsgeschichte des Kaiserreichs war insbesondere die Einbeziehung der, wie er sie nannte, „vagierenden“, d.h. außerkirchlichen Religiosität.
    48. Lucian Hölscher, Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im Kaiserreich, Stuttgart 1989; ders., Bürgerliche Frömmigkeit und protestantische Kirche im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 595-630; Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik, Tübingen 1994.
    49. Andreas Holzem, Westfälische Frömmigkeitskultur im Wandel der Frühen Neuzeit. Dörfliche Pfarreien im archidiakonalen Sendgericht – 1570-1800, in: Jahrbuch für Volkskunde 25 (2002), S. 27-44; Lucian Hölscher, Kirchliche Demokratie und Frömmigkeitskultur im deutschen Protestantismus, in: Martin Greschat/Jochen-Christoph Kaiser (Hrsg.), Christentum und Demokratie im 20. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 1992, S. 187-205; Lucian Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005; ders., Protestantische Frömmigkeit in Deutschland – Zwischen Reformation und säkularer Gesellschaft, Freiburg i.B. 2017.
    50. Holzem, Die Geschichte des „geglaubten Gottes“, S. 74; siehe auch Hubertus Lutterbach, Die Geschichte des „geglaubten Gottes“. Perspektiven einer religions-und sozialgeschichtlich ausgerichteten Christentumsgeschichte, in: Dirk Hartmann/Amir Mohseni u.a. (Hrsg.), Methoden der Geisteswissenschaften. Eine Selbstverständigung, Weilerswist 2012, S. 227-242.
    51. Großbölting, Religionsgeschichte, S. 180f.
    52. Hölscher, Protestantische Frömmigkeit in Deutschland, S. 12.
    53. So klassisch etwa bei Bryan Wilson, Religion in Secular Society. A Sociological Comment, London 1966; zum Stand der religionssoziologischen Säkularisierungstheorie der 1950er- und 1960er-Jahre siehe: Peter L. Berger, Soziologische Betrachtungen über die Zukunft der Religion. Zum gegenwärtigen Stand der Säkularisierungsdebatte, in: Oskar Schatz (Hrsg.), Hat die Religion Zukunft?, Graz 1971, S. 49-68.
    54. Zum aktuellen Stand der Debatte siehe Ulrich Willems u.a. (Hrsg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013; Thomas M. Schmidt/Annette Pitschmann (Hrsg.), Religion und Säkularisierung: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014.
    55. Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2000; Graf, Die Wiederkehr der Götter; Hans-Joachim Höhn, Postsäkular: Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn 2007; Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2009.
    56. Uta Andrea Balbier, „Sag: Wie hast Du’s mit der Religion?“ Das Verhältnis von Religion und Politik als Gretchenfrage der Zeitgeschichte, in: H-Soz-Kult, 10.11.2009, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1166. Auch die drittmittelgestützte Verbundforschung hat von dieser „Rückkehr der Religion“‘ erheblich profitiert: Neben dem seit 2007 bestehenden Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“ (https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/forschung/index.html) wäre für den Bereich der Zeitgeschichte insbesondere auf die Bochumer Forschergruppe „Transformation der Religion in der Moderne. Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (2006-2012; http://www.isb.rub.de/forschung/drittmittel/religion/index.html.de) sowie auf die seit 2013 arbeitende Forschergruppe „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989“ der Universitäten Göttingen, Erfurt und München (http://www.pt1.evtheol.uni-muenchen.de/forschung/for1765/index.html) zu verweisen.
    57. Markus Hero, Vom Guru zum religiösen Entrepreneur. Neue religiöse Experten und die Entstehung eines alternativreligiösen Marktes, in: Wilhelm Damberg in Zusammenarbeit mit Frank Bösch, Lucian Hölscher, Traugott Jähnichen, Volkhard Krech und Klaus Tenfelde (Hrsg.), Soziale Strukturen und Semantiken des Religiösen im Wandel. Transformationen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989, Essen 2011, S. 55-69; Pascal Eitler, Körper – Kosmos – Kybernetik. Transformationen der Religion im „New Age“ (Westdeutschland 1970-1990), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 4 (2007), H. 1-2, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2-2007/id=4460, Druckausgabe S. 116-136.
    58. Hugh McLeod, The Religious Crisis of the 1960s, Oxford 2007; Detlef Pollack, Religion und Moderne. Zur Gegenwart der Säkularisierung in Europa, in: Graf/Große Kracht (Hrsg.), Religion und Gesellschaft, S. 73-103, hier S. 96.
    59. Pollack, Säkularisierung.
    60. Siehe dazu im Einzelnen die Beiträge in Schmidt/Pitschmann (Hrsg.), Religion und Säkularisierung.
    61. Als neueste Gesamtdarstellung der deutschen Religionsgeschichte nach 1945 siehe: Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013; studieneinführend und historisch weiter ausgreifend: Horst Junginger, Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne (Geschichte kompakt), Darmstadt 2017; siehe zudem die Beiträge in: Thomas Großbölting/Klaus Große Kracht/Jan-Holger Kirsch (Hrsg.), Religion in der Bundesrepublik Deutschland, Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010), H. 3, Online-Ausgabe http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2010/.
    62. Siehe dazu neben Buchna, Ein klerikales Jahrzehnt; Martin Greschat, Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit, Stuttgart 2002; Joachim Köhler/Damian van Melis (Hrsg.), Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Stuttgart 1998.
    63. Pascal Eitler, „Gott ist tot – Gott ist rot“. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968, Frankfurt a.M. 2009; Siegfried Hermle/Claudia Lepp/Harry Oelke (Hrsg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2007; Klaus Fitschen/Siegfried Hermle/Katharina Kunter/Claudia Lepp/Antje Roggenkamp-Kaufmann (Hrsg.), Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre, Göttingen 2011.
    64. Ehrhart Neubert, Eine protestantische Revolution, Berlin 1990; Trutz Rendtorff (Hrsg.), Protestantische Revolution? Kirche und Theologie in der DDR: Ekklesiologische Voraussetzungen, politischer Kontext theologische und historische Kriterien, Göttingen 1993, online unter http://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00046184_00001.html; Harald Schultze, Die Geschichte der evangelischen Kirchen in der DDR – Beobachtungen zur neuesten Entwicklung der Forschung, in: Claudia Lepp/Kurt Nowak (Hrsg.), Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945-1989), Göttingen 2001, S. 277-294; Claudia Lepp, Die evangelischen Kirchen in der DDR im Focus der Forschung. Darstellungen und Quellensammlungen zu Einzelthemen (1990-2009), Teil 1, in: Theologische Rundschau 74 (2009), S. 309-353.
    65. Nicolai Hannig, Die Religion der Öffentlichkeit. Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945-1980, Göttingen 2010; siehe dazu auch die weiteren in der Bochumer DFG-Forschergruppe „Transformation der Religion in der Moderne“ entstandenen Arbeiten zum Verhältnis von Kirche und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik: Frank Bösch/Lucian Hölscher (Hrsg.), Kirchen – Medien – Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945, Göttingen 2009; sowie den Abschlussband der Forschergruppe: Damberg u.a. (Hrsg.), Soziale Strukturen.
    66. Benjamin Ziemann, Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945-1975, Göttingen 2007.
    67. Siehe dazu die Beiträge in Claudia Lepp/Harry Oelke/Detlef Pollack (Hrsg.), Religion und Lebensführung im Umbruch der langen 1960er Jahre, Göttingen 2016. Im Bereich des Katholizismus lässt sich dies beispielsweise an der geringen Akzeptanz der päpstlichen Weisungen zur Empfängnisverhütung aus dem Jahr 1968 (Enzyklika Humanae Vitae) ablesen; siehe Florian Bock, „Dem Vatikan gehört die Kirche, nicht das Bett“. Die Enzyklika Humanae Vitae (1968) Papst Pauls VI. im Spiegel der deutschen und italienischen Presse, in: Walter Hömberg/Thomas Pittrof (Hrsg.), Katholische Publizistik im 20. Jahrhundert. Positionen – Probleme – Profile, Freiburg 2014, S. 575-600.
    68. Siehe Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, 3. Aufl., Freiburg 2003; Giacomo Marramao, Die Säkularisierung der westlichen Welt, Frankfurt a.M.1994.
    69. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 103.
    70. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966.
    71. Eric Voegelin, Die politischen Religionen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter J. Opitz, München 1996 (Erstauflage 1938); Raymond Aron, L’avenir des religions séculières, in: Commentaire 8 (1985), S. 369-383 (zuerst 1944).
    72. Hans Maier (Hrsg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“, 3 Bde. (Bd. 2 zusammen mit Michael Schäfer), Paderborn 1996-2003; Emilio Gentile, Il culto del littorio. La sacralizzazione della politica nell’Italia fascista, Rom 1994; Gerhard Besier/Hermann Lübbe (Hrsg.), Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit, Göttingen 2005.
    73. Siehe dazu die abwägende Diskussion bei: Hans Günter Hockerts, War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells, in: Klaus Hildebrand (Hrsg.), Zwischen Politik und Religion. Studien der Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, München 2003, S. 45-71.
    74. Zu den christlich-nationalsozialistischen Überlagerungen siehe: Manfred Gailus, „Nationalsozialistische Christen“ und „christliche Nationalsozialisten“. Anmerkungen zur Vielfalt synkretistischer Gläubigkeiten im „Dritten Reich“, in: ders./Hartmut Lehmann (Hrsg.), Nationalprotestantische Mentalitäten. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005, S. 223-261; Sarah Thieme, Nationalsozialistischer Märtyrerkult. Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939), Frankfurt a.M. 2017; zum aktuellen Stand der Debatten um das Verhältnis der beiden großen christlichen Kirchen zum Nationalsozialismus siehe: Olaf Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014.
    75. So bereits früh Robert N. Bellah, Civil Religion in America, in: Daedalus 96 (1967), S. 1-21; für die USA siehe etwa: Heike Bungert/Jana Weiß (Hrsg.), „God Bless America“: Zivilreligion in den USA im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2017; für die Bundesrepublik: Wolfgang Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, Gütersloh 1994.
    76. Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen 2016; ders./Sabine Maasen u.a. (Hrsg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern, Bielefeld 2011; Benjamin Ziemann, Zwischen sozialer Bewegung und Dienstleistung am Individuum. Katholiken und katholische Kirche im therapeutischen Jahrzehnt, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 357-393.
    77. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007; ders., Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Frankfurt a.M. 2017; Michel Foucault, Analytik der Macht, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a.M. 2005; Klaus Große Kracht, Die katholische Welle der „Stunde Null“. Katholische Aktion, missionarische Bewegung und Pastoralmacht in Deutschland, Italien und Frankreich 1945-1960, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 163-186.
    78. In dieser Hinsicht kann insbesondere die Neuere und Neueste Geschichte von der Mediävistik lernen, die diesen Schritt schon seit längerem vollzogen hat, siehe nur: Michael Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., München 2006.
    79. Dies gilt insbesondere für die muslimische Bevölkerung, siehe nur als Überblick: Mathias Rohe, Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München 2016; Reinhard Schulze, Geschichte der Islamischen Welt. Von 1900 bis zur Gegenwart, München 2016. Im Hinblick auf die Konfessionslosen siehe die Rekonstruktion ihrer Vorgeschichte bei: Todd H. Weir, Secularism and Religion in Nineteenth-Century Germany. The Rise of the Fourth Confession, Cambridge 2014; als erste Synthese einer multiperspektivischen Religionsgeschichte Deutschlands von der Antike bis zur Gegenwart siehe: Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, bislang 5 von 6 Bänden, Paderborn 2007-2016.
    80. Dass sich im Zeitalter der Digital Humanities auch für die Religionsgeschichte in dieser Hinsicht neue Arbeits- und Kommunikationsmöglichkeiten ergeben, versteht sich von selbst, siehe: Klaus Große Kracht/Vít Kortus, Europäische Religionsgeschichte der Neuzeit, in: Clio Guide – Ein Handbuch zu digitalen Ressourcen für die Geschichtswissenschaften, hg. von Laura Busse, Wilfried Enderle, Rüdiger Hohls, Gregor Horstkemper, Thomas Meyer, Jens Prellwitz, Annette Schuhmann, Berlin 2016 (= Historisches Forum, Bd. 19), http://www.clio-online.de/guides/themen/europaeische-religionsgeschichte-der-neuzeit/2016.